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Veröffentlicht am 19.10.2025

Das Überleben der Menschheit

Kälte
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Aus dem Nichts tauchen außerirdische Raumschiffe am Himmel auf und die Insassen haben nur eine Botschaft für die Menschheit, ein Ultimatum, jeder, der nicht innerhalb von dreißig Tagen die Antarktis erreicht, ...

Aus dem Nichts tauchen außerirdische Raumschiffe am Himmel auf und die Insassen haben nur eine Botschaft für die Menschheit, ein Ultimatum, jeder, der nicht innerhalb von dreißig Tagen die Antarktis erreicht, wird vernichtet. Es beginnt ein fast unmögliches Rennen gegen die Zeit, bei dem die meisten Menschen von vornherein keine Chance haben. Liza und Atto, die sich gerade erst in Portugal kennengelernt haben, haben Glück und schaffen es den eisigen Kontinent zu erreichen, doch damit beginnt der Kampf ums Überleben erst.

Das Szenario, das Autor Tom Rob Smith hier beschreibt hat mich direkt angesprochen, verbindet es doch gleich mehrere Elemente, die ich an einer Science-Fiction Story liebe, eine außerirdische Bedrohung und der daraus resultierende Überlebenskampf der Menschheit. Das Thema ist so alt, wie die Science-Fiction Literatur selbst und um so spannender ist es zu sehen, wie die Autor*innen es immer wieder neu interpretieren.

Nach Ablauf des Ultimatums macht die Geschichte einen Zeitsprung und man findet sich zwanzig Jahre in der Zukunft. Die überlebenden Menschen haben sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten in der Kälte eingerichtet, Gemeinschaften gebildet und Städte gegründet. Das Leben ist hart und entbehrungsreich, bietet aber auch viele neue Möglichkeiten des Miteinanders. Die Ressourcen sind knapp, die Sterblichkeit hoch und es ist letztlich nur eine Frage der Zeit, bis die Menschen den Kampf gegen die Kälte verlieren werden. In den vergangenen Jahren wurde versucht die DNA des Menschen besser an die Bedingungen in der Antarktis anzupassen, besser an die Kälte angepasste Kinder wurden geboren, allerdings ist das nur ein Teil der durchgeführten Experimente.

Der Autor lässt seine Story hier über zwei Handlungsstränge laufen, zum Einen begleitet man Liza und Attos mit ihrer genveränderten Tochter Eco, zum Anderen Yotam, einen wissenschaftlichen Mitarbeiter, der in der Hauptstadt eines der "spezielleren" Experimente betreut, Eitan, ein genmanipuliertes Wesen, mehr Tier als Mensch, der nächste Schritt der Evolution. Wärend es bei Eco noch um "geringfügige" Anpassungen geht, die die so geborenen Kinder weniger anfällig für Kälte und andere Umweltbedingungen im ewigen Eis macht, ist Eitan etwas vollkommen Anderes und es wird schnell klar, dass hier nicht klar ist, ob er Rettung, oder Untergang der Menschheit bedeutet.

Zwischen diesen Handlungssträngen gibt es ab und zu Rückblicke in die Zeit kurz nach der Ankunft im ewigen Eis, leider erfährt man als Leser hier nicht wirklich viel über die Ereignisse. Mir hat dieses Wissen aber eindeutig gefehlt, denn ich hätte es überaus spannend gefunden vom Überlebenskampf direkt nach dem Exodus zu lesen. Man wird quasi in eine Gesellschaft hineinkatapultiert, ohne zu wissen, wie diese eigentlich entstehen konnte. Hier beginnt die Story dann für mich auch so ein bisschen an Plausibilität zu verlieren, klar es wurden innerhalb der dreißig Tage des Ultimatums Unmengen an Materialien, Geräten, Medikamenten, Nahrungsmitteln, Kleidung, etc auf dem Kontinent abgeladen, aber das alles muss ja auch nutzbar gemacht werden und es steht ja nicht mal so unbegrenzt Energie zur Verfügung. Der Autor erklärt hier einiges mit schon vorhandenem Equipment der Forschungsstationen und er lässt die Energie aus Atom-U-Booten nutzen, aber wenn ich mir den immensen Aufwand der Genexperimente vorstelle, ist das für mich alles irgendwie nicht stimmig. Je weiter die Geschichte voran schreitet, um so mehr Kleinigkeiten kommen zusammen, die mich stutzen lassen. Wo ich dann aber so vollkommen raus bin, sind die Aliens, von denen man nach ihrem Ultimatum einfach mal gar nichts mehr hört, oder liest. Nichts, keinerlei Aufklärung zu ihren Beweggründen, ihrer Herkunft, ihrem Verbleib, irgendwas... Und das empfinde ich einfach als total unbefriedigend, ebenso wie die Tatsache, dass es auch keinerlei Gegenwehr der Menschheit gibt. Die Aliens kommen, stellen ihr Ultimatum und alles flüchtet. Da gibt es keinerlei Kampfszenen ala Independence Day, oder Krieg der Welten, nichts, nicht mal ansatzweise, sorry, ich bin raus.

Natürlich braucht ein gut gemachtes Science-Fiction Abenteuer das nicht unbedingt, aber ich brauche eine halbwegs nachvollziehbare Story mit entsprechender Grundlage und die fehlt mir hier leider komplett. Trotzdem habe ich das Buch relativ schnell gelesen, den eine Geschichte erzählen kann Tom Rob Smith richtig gut und natürlich war ich daran interessiert, wie es Eco und ihrer Familie ergeht und natürlich fand ich den gedanklichen Ansatz zum Thema DNA Manipulation äußerst interessant. Der Punkt, was moralisch vertretbar ist, bis zu welchem Grad eine Manipulation gehen darf, wo die Grenze zu ziehen ist, welche Eigenschaften ein genmanipuliertes Wesen noch als menschlich gelten lässt. All das sind Dinge, die in der Forschung schon seit längerem die Gemüter erhitzen und es bringt einen als Leser natürlich zum Nachdenken, rettet die Story letztlich aber leider nicht.

An den anderen Büchern des Autors gemessen, bin ich hier leider etwas enttäuscht, ich habe etwas ganz anderes erwartet. Die Story ist nur bedingt logisch, hat mir viel zu viele lose Enden und lässt mich, alles in allem, eher unbefriedigt zurück. Ansatz gut, Ausarbeitung leider weniger.

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Veröffentlicht am 19.10.2025

Zombi ist nicht gleich Zombi

Manchmal kehren sie wieder
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Zombis sind im Horrorgenre gern verwendete Figuren und nicht erst seit "The walking Dead" ist der Hype um sie ungebrochen. In dieser Anthologie haben sich nun 26 Autor*innen dem Zombi angenommen und ihn ...

Zombis sind im Horrorgenre gern verwendete Figuren und nicht erst seit "The walking Dead" ist der Hype um sie ungebrochen. In dieser Anthologie haben sich nun 26 Autor*innen dem Zombi angenommen und ihn zum Protagonisten einer ihrer Storys gemacht. Die Szenarien sind dabei so unterschiedlich, dass man durchaus überrascht ist, auf welch vielfältige Weise man das Thema interpretieren kann.

Der Leser trifft auf die verschiedensten Vertreter ihrer Art, die auf die unterschiedlichsten Arten zu dem wurden, was sie sind. Da gibt es das klassische Szenario eines weltweiten Virus, genauso wie die Ursprungsversion des Mythos aus dem Voodoo. Bei vielen der Geschichten spürt man, dass es sich hier um eine Aufarbeitung der Coronapandemie handelt. Einige Storys erinnern an bekannte Serien wie "Last of us", andere folgen einem ganz neuen Ansatz. Manchmal ist dieser düster und bedrohlich, manchmal eher zum schmunzeln und manchmal auch ein bisschen Gesellschaftskritik. So trifft man zb auf einen Schriftsteller, dessen Publikum mehr an ihm, als an seinem Buch interessiert ist, einen Beamten, der die Zombiapokalypse fast verschläft, eine Influenzerin, die eine App zur Verständigung mit den Untoten entwickelt, einen Mann, der seinen Nachbarn aus Frust zu seinem Zombidiener macht und damit so gar nicht glücklich ist, einen Gutachter, der als Futter endet, eine Infizierte, die über den Sinn der neuen Existenz grübelt, oder eine Wissenschaftlerin, der ihr eigener Forscherdrang zum Verhängnis wird.

Natürlich kommt nun auch wieder mein Standardsatz zum Thema Anthologie. Es liegt in der Natur der Sache, dass einem bei einer Anthologie nicht alle Geschichten gleichermaßen gefallen und so ist es auch hier, die eine Story liegt einem vom Stil her mehr, die andere weniger. Das ist vollkommen okay, schließlich hat jeder Autor, jede Autorin seinen/ihren eigenen Stil und eine ganz individuelle Herangehensweise an das Thema. Ich wurde aber insgesamt gut unterhalten und kann die Sammlung guten Gewissens an Genrefans und solche die es werden wollen weiterempfehlen. Wer besonderen Gefallen an einer bestimmten Geschichte gefunden hat kann sich am Ende des Buches noch einige Infos zum jeweiligen Verfasser ansehen und so noch weitere Lektüre entdecken.

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Veröffentlicht am 19.10.2025

Nicht einfach

Die Krähen
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Baruna lebt zusammen mit ihrer älteren Schwester und ihren Eltern in einem Haus direkt an einem Park. Hier in den hohen Bäumen vor ihrem Fenster baut eine Krähe gerade ein Nest. Baruna beobachtet die Krähe ...

Baruna lebt zusammen mit ihrer älteren Schwester und ihren Eltern in einem Haus direkt an einem Park. Hier in den hohen Bäumen vor ihrem Fenster baut eine Krähe gerade ein Nest. Baruna beobachtet die Krähe von ihrem Fenster aus und zeichnet sie sogar, denn ihr größter Wunsch ist es Malerin zu werden und auch die Krähe beobachtet ihrerseits das Mädchen, das andere, ältere Mädchen, den Vater, die Mutter und hört das Schreien, das Streiten, das Weinen.

In ihrem Buch hat die Autorin einen eher ungewöhnlichen Ansatz gewählt, in dem sie die Krähe im Baum vorm Fenster quasi als neutralen Beobachter ins Spiel bringt. Jedem Kapitel des Buches sind eine schöne Zeichnung und ein paar Worte zu dem Vogel voran gestellt. Die Krähe ist ein bisschen der rote Faden, der sich durch das Buch zieht, eine Art verbindendes Element und letztlich auch eine Metapher für die Wünsche und Sehnsüchte der kleinen Baruna.

Die Geschichte wird abwechseln aus der Sicht von Baruna selbst erzählt und abwechseln aus der ihrer Mutter. Baruna erzählt von ihrem Alltag in der Schule, von der Verliebtheit in den neuen Lehrer, vom verhalten ihrer Schwester ihr gegenüber, von ihrer Gefühlswelt und natürlich von den Ereignissen in der Familie. Man erfährt, wie sie Athmosphäre im Haus erlebt, wie sie sich selbst und ihre Körperlichkeit wahrnimmt und welche Wünsche und Träume sie hat. Ihre Mutter erzählt ebenfalls vom Familienalltag, davon wie schwierig Baruna ist und wie einfacher und verständiger doch die ältere Tochter, durch ihre Augen erfährt der Leser viel über die Dynamik zwischen den Eheleuten und über das Verhältnis der Eltern zu ihren Töchtern.

An dieser Stelle ist wohl eine Triggerwarnung angebracht, denn die Geschichte Barunas ist eine, die geprägt ist durch Unverständnis und Gewalt, Gewalt in physischer, psychischer und leider auch sexueller Form. Gewalt, ausgeübt von beiden Elternteilen, wobei wohl am perfidesten ist, dass sie Mutter hier nicht selbst handgreiflich gegen ihre Tochter wird, sondern den Vater instrumentalisiert und ihn quasi dazu treibt. Der Leser ist eigentlich von der ersten Seite an bei der sensiblen, unverstandenen Baruna und man fragt sich nicht nur einmal, wie Eltern so sein können. Die Autorin gibt durch die Sichtweise der Mutter natürlich hierzu eine Erklärung, man wird Zeuge davon, wie die Mutter die Situation für sich empfindet, wie sie Dinge vor sich rechtfertigt, wie sie Angst, Wut, Überforderung und Eheprobleme auf das Kind projiziert und Baruna so zum Prellbock macht. Das Kind tut einem unendlich leid, ist sie doch den Erwachsenen, die sie eigentlich behüten und lieben sollten ungeschützt ausgeliefert, ihren Eltern.

Verständnis findet Baruna nur ausserhalb der Familie, durch den neuen Lehrer, der sie ermutigt, der sie ernst nimmt, der ihr Talent erkennt und fördert. Mit der Schule bringt die Autorin eine weitere Instanz in die Geschichte, denn natürlich bleibt die Gewalt, der Baruna zu Hause ausgesetzt ist nicht unbemerkt. Und hier kommt dann ein heikler Punkt zur Sprache, die Lehrerinnen sprechen das Kind natürlich auf das häusliche Geschehen an, setzten die Kleine dabei aber sehr unter Druck, verunsichern sie und geben sich recht schnell mit ihrer Aussage zufrieden, dass sie sich all das nur ausgedacht hätte. In gewisser Weise hat man als Leser hier das Gefühl, die Lehrerinnen suggerieren dem Kind die Antwort, die für Alle mit den wenigsten Schwierigkeiten verbunden ist, will doch niemand fälschlicherweise den Vorwurf der Kindesmisshandlung in den Raum stellen.

Die Autorin regt mit diesem Szenario natürlich auch ganz bewusst zum Nachdenken an. Was würde man selbst in einer solchen Situation tun. Natürlich steht das Wohl eines Kindes immer an erster Stelle, aber steht eine Anschuldigung erstmal im Raum, ist es schwierig für alle Beteiligten, sollte sich diese als unbegründet erweisen.

"Die Krähen" ist ein sehr emotionaler Roman, der aber trotzdem mit einer gewissen Distanz erzählt wir. Als Leser ist man, genau wie die Krähe, nur Beobachter, man wünscht sich zwar, dass die Nöte der kleinen Baruna endlich gesehen werden, das sie Hilfe bekommt, man hat von seinem Posten vor dem Fenster aber keine Möglichkeit einzugreifen. Man wird Zeuge des Unaussprechlichen, ohne etwas dagegen tun zu können und muss die Geschichte in ihrer letzten traurigen Konsequenz hinnehmen.

Mich hat das wunderschön gestaltete Buch sehr berührt. Es ist nur schwer zu ertragen, beschreibt aber eine Thematik, die auf jeden Fall Aufmerksamkeit bekommen muss, denn nur so kann sich etwas ändern.

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Veröffentlicht am 19.10.2025

Anderssein

Seerauchen
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Josef ist bereits sieben Jahre alt und hat noch kein einziges Wort gesprochen und nicht nur das unterscheidet ihn von den anderen Kindern im Dorf. Als Josef dann unerwartet seine Worte findet, sind es ...

Josef ist bereits sieben Jahre alt und hat noch kein einziges Wort gesprochen und nicht nur das unterscheidet ihn von den anderen Kindern im Dorf. Als Josef dann unerwartet seine Worte findet, sind es solche wie Idiot, Nichtsnutz, Trottel, Worte, die er schon sein ganzes Leben lang gehört hat, Worte, mit denen man ihn schon sein ganzes Leben lang betitelt hat, Worte, die beschreiben, was er für die anderen im Dorf ist, der kleine schwachsinnige Balg, mit dem seine Mutter dafür bestraft wurde, dass sie sich mit einem umherreisenden Fremden eingelassen hat und so Schande über sich und das ganze Dorf brachte.

Schauplatz des Romans ist ein kleines deutsches Dorf am Bodensee in den 30iger Jahren. Hier, in Sichtweite zur Schweiz, wächst der kleine Josef auf, die Mutter, von der Dorfgemeinschaft geächtet, bringt sich und ihren Sohn mit dem Ertrag des kleinen Hofes durch, vermietet die Werkstatt ihres verstorbenen Vaters an einen schweizer Maler und verdient sich als Wäscherin. Die Zeiten sind hart, der Aufschwung, den man sich nach dem "Großen Krieg" erhofft hat blieb aus, es gibt Missernten durch Hochwasser und Kälteeinbrüche und in ihrer Not ist den tiefgläubigen, bigotten Dörflern Josef, mit seinem merkwürdigen Verhalten, mit seinen Stimmungsschwankungen, mit seinen unkontrollierten Zuckungen eine willkommene Projektionsfläche für ihre Ängste, ihren Spott und ihren Hass. Josef ist Freiwild, wird mit Billigung der Erwachsenen von den anderen Kindern gehänselt, misshandelt und dient ihnen als Sündenbock, als bei einer Hetzjagd auf ihn ein anderes Kind verunfallt, gibt man ihm auch daran die Schuld. Nur wenige Dorfbewohner unterstützen Josef und seine Mutter, allen voran Nachbarin Josepha und der Lehrer der Dorfschule.

Josef ist anders und das in einer Zeit, in der "Anderssein" gefährlich ist, heute würde man wahrscheinlich Autismus bei ihm diagnostizieren. Mit dem Erstarken des Nationalsozialismus in Deutschland wird den Leuten die Angst vorm "Anderssein" eingetrichtert, Angst vor einem anderen Glauben, Angst vor einer anderen ethnischen Herkunft, Angst vor allem, das die Reinheit der deutschen Rasse bedroht und aus dieser Angst heraus wird Hass geschürt, Neid und Missgunst. Autorin Sabine Eschbach verbindet in ihrem Roman gleich zwei hochemotionale Themen und liefert begleitend zu Josefs Geschichte auch ein beängstigend klares Bild des damaligen Geschehens. Was klein beginnt und von den meisten Dörflern noch abgetan wird, wächst sich schnell aus und mündet in Ereignissen, die wir aus der Geschichte nur all zu gut kennen. Es ist hochemotional und herzzerreißend all dies durch Josefs Augen zu sehen, der für all das ja keinerlei Erklärung hat und den das auch aus seinen Routinen und gesicherten Abläufen reißt.

Für mich war die Lektüre des Buches sehr hart, ich habe bereits nach wenigen Seiten furchtbar geweint und konnte das Buch stellenweise gar nicht weiterlesen. Grund hierfür ist meine persönliche Nähe zum Thema Autismus, bin ich doch stolze Oma eines ganz wunderbar besonderen kleinen Jungen und es war mir, als hätte die Autorin mit Josef genau meinen kleinen besonderen Jungen beschrieben. Allein die Vorstellung, er wäre in eine solche Zeit hineingeboren worden, hätte all dies erlebe müssen, wäre von seiner Umwelt so behandelt worden, treibt mir erneut die Tränen in die Augen. Wie die Autorin seine Gefühlswelt beschreibt, seine Wahrnehmung der Umwelt und seine Reaktionen darauf, ist so einfühlsam und sensibel. Aber genauso bin ich emotional auch total bei Martha, Josefs Mutter. Auch ihre Gefühle, ihre inneren Konflikte, ihre Ängste, ihre Wut, ihre Scham und die bedingungslose Liebe zu ihrem Kind sind so treffend beschrieben, das ich mich der Figur unglaublich nah fühle, denn ich kenne all das. Allein die Szene, in der Martha sich wünscht, ihr Sohn würde sie nur einmal anlächeln, würde sich nur einmal von ihr in den Arm nehmen lassen, das hat mich gebrochen, denn es beschreibt einfach so eins zu eins die tägliche Realität von uns Angehörigen.

Mit "Seerauchen" hat die Autorin auf unvergleichliche Weise ein Buch geschaffen, dass das Grauen des Nationalsozialismus beschreibt, ohne all zu plakativ darüber zu schreiben. Die dichte Atmosphäre entsteht einzig durch Josefs Erleben, sein Empfinden, das etwas falsch ist, als der Laden der Kahnˋs verwüstet wird, er die Brille und den Kittel des Doktors in dessen zerstörter Praxis findet und der Doktor ist nie ohne seine Brille, als seine Mutter ihn zwingt sich auf Josephaˋs Dachboden zu verstecken, wo er doch noch nie auf Josephaˋs Dachboden war. Das ist falsch und Josef versteht es nicht. Und auch ich als Leser verstehe es nicht, wie konnte all das passieren, wie konnten unsere Großeltern all dies ihren Nachbarn und Freunden antun, wie konnten es so weit kommen und wie ist es möglich, dass all diese Propaganda auch heute wieder so viele Zuhörer findet.

Für mich ist "Seerauchen" mein absolutes Jahreshighlight, ein Buch, das auf eindringliche und berührende Weise aus unserer dunklen Vergangenheit erzählt. Ich hoffe, das es von ganz vielen Menschen entdeckt wird. Mich wird das Buch für den Rest meines Lebens begleiten, mit all seinen guten Gedanken und mit all seinen schlimmen. Ich bin unendlich dankbar, dass ich es lesen durfte, wünschte mir aber fast, ich hätte es nicht getan.

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Veröffentlicht am 12.10.2025

Märchen in moderner Form

Fabeljäger
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Der junge Veit lebt mit seinen Freunden allein in einer bedrohlichen und fantastischen Welt. Gefürchtet von den Menschen in ihrer Nähe leben die Kinder am Rande des dunklen Waldes, dessen Pflanzen und ...

Der junge Veit lebt mit seinen Freunden allein in einer bedrohlichen und fantastischen Welt. Gefürchtet von den Menschen in ihrer Nähe leben die Kinder am Rande des dunklen Waldes, dessen Pflanzen und Geschöpfe das Hinterland und die wenigen dort lebenden Menschen ständig bedrohen. Trotz das die Kinder dafür sorgen, dass die seltsamen Bäume des Waldes nicht über dessen Grenzen hinaus zu wuchern beginnen, werden sie von den Menschen gemieden, einzig Daria ist ihnen freundlich gesinnt und besucht die Kinder so oft es geht. Als Daria verschwindet tritt der Hass und die Furcht der Dorfbewohner offen zu Tage und den Kindern bleibt nichts als die Flucht in den bedrohlichen Wald.

Schon das Cover des Buches hat mir sehr gefallen und als Liebhaber klassischer Märchen und moderner Fantasy war ich auch von der Geschichte direkt angetan. Schon nach wenigen Seiten hat der Autor es geschafft mich in seine Welt zu ziehen, die voll ist von bekannten und unbekannten, freundlichen und bedrohlichen Wesen und von solchen, bei denen man nicht auf den ersten Blick erkennt, zu welcher Gruppe sie gehören. Der erste Teil der Geschichte dient dazu die Gruppe der Kinder und ihr beschwerliches, einsames leben kennen zu lernen. Man entwickelt direkt Sympathie für sie und auch sowas wie Beschützerinstinkt, ahnt man doch, dass da noch mehr kommen wird. Hier bekommt man auch einen kleinen Überblick über die Welt, in der die Geschichte spielt.

Nach der Vertreibung der Kinder durch die Dorfbewohner nimmt die Story dann deutlich an Fahrt auf und es kommen nun auch mehr und mehr Figuren ins Spiel. Hier bedient sich der Autor schamlos an bestehenden Märchen und so trifft man wunscherfüllende Feen, häuserbauende Heinzelmännchen, Klabautermänner, aber auch Vampire und Werwölfe, aber auch viele Wesen, wie zb Kindergrauen, von denen man bisher noch nichts gehört hat. Der Autor verknüpft in seiner Story geschickt Bekanntes mit Neuem und schafft so eine fantastische Welt, in der es viel zu entdecken gibt und in der nicht unbedingt die selben Gesetzmäßigkeiten gelten, wie in der der Gebrüder Grimm. Das der Autor sich diese Inspirationen holt und sie verwendet, hat mich überhaupt nicht gestört, im Gegenteil, ich finde es vollkommen legitim, allerdings war es mir zwischenzeitlich doch manchmal etwas drüber, es hätte nur noch gefehlt, dass die Heinzelmännchen "heiho, heiho" wärend der Arbeit gesungen hätten. Und auch, dass die Geschichte zum Ende hin doch sehr an die eines bekannten Zauberlehrlings erinnert hat, war mir etwas zu plakativ.

Insgesamt hat Leon Schweitzer aber ein modernes Märchen geschaffen, eine fantastische Welt, düster und voller Gefahren, aber auch voller liebenswerter Figuren, deren Entwicklung man gerne weiter verfolgen möchte. Definitiv eher etwas für Erwachsene und ältere Kinder, etwa ab 13/14 Jahren.

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