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Veröffentlicht am 25.07.2022

Unruhen

Amelia
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Amelia ist noch ein Kind als die Unruhen Ende der 1960er in Nordirland beginnen. Doch natürlich bekommt auch sie mit, dass die Zeit gefährlich ist. Umso stärker behütet sie ihre Schatzkiste, in der sie ...

Amelia ist noch ein Kind als die Unruhen Ende der 1960er in Nordirland beginnen. Doch natürlich bekommt auch sie mit, dass die Zeit gefährlich ist. Umso stärker behütet sie ihre Schatzkiste, in der sie ihre liebsten und wertvollsten Sachen gesammelt hat. Als ihr Bruder ihren heiligen Besitz, siebenunddreißig Gummigeschosse der britischen Armee, entwendet, ist sie schockiert. Doch dies ist nur der erste Schock, den sie zu überstehen hat. Da ist der Verwandte aus England, der im Einsatz für England quasi zum Feind wird, die Freundin, die stirbt oder die, die Bomben legt, der Kumpel, der mit Mühe entkommt.

Über fast dreißig Jahre spannt sich diese Lebensgeschichte eines Kindes, das zur Jugendlichen und zur Frau wird, immer unter dem Eindruck der Auseinandersetzungen zwischen Iren und Englandfreunden. Da kann es gefährlich werden, einfach nur vor die Tür zu gehen. Und wenn sich mal ein Silberstreif im persönlichen Leben der streitbaren und intelligenten Amelia abzeichnet, dann kann es auch sie selbst sein, die die Chance nicht wahrnehmen kann. Wird Amelia es schaffen, ihr eigenes Leben zu überstehen? Während die Kämpfe ohne Unterlass weitergehen, scheint es auch mit Amelia immer weiter bergab zu gehen.

Für jemanden, der selbst eine doch eher ruhige und unaufgeregte Kindheit und Jugend hatte, kann sich dieser Roman zu einer echten Tour de Force entwickeln. Amelia verteidigt sich, ist schlau, sie schlägt, sie ist alkoholsüchtig, sie isst lieber nicht, sie ist in England. Sehr plakativ werden ihre Lebensphasen geschildert und wenn man denkt und hofft, es kann nicht noch schlimmer werden, wird es schlimmer. Für so halbwegs normale Spießer ist es manchmal nicht leicht zu ertragen, was einem hier zugemutet wird. Man freut sich selbst überraschend am eigenen eher langweiligen Leben. Wie schön, dass man einfach mal in Urlaub fahren konnte, einfach arbeiten, das Leben nach den Möglichkeiten gestalten. Wenn man es vorher vielleicht nicht zu schätzen wusste, nun ist man doch dankbar. Man fragt sich manchmal, wieso Amelia so ist, sie scheint auf eine Art viel ertragen zu können, doch scheint ihr die Resilienz zu fehlen. Sehr eindrücklich ist dagegen die Schilderung, der Gefahr, die über allen schwebt. Bei jedem Schritt muss mit einem Geschoss gerechnet werden oder einer Bombe, die einem um die Ohren fliegt. Das gilt wohl für beide Seiten und man wünschte, sie seinen froh, dass dies überwunden schien. So sicher kann man sich da nicht mehr sein.

Veröffentlicht am 23.07.2022

Die Lage

RCE
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Die Lage ist aussichtslos und die Stimmung ist ohne Hoffnung. Die wenigen Reichen werfen mit Phrasen um sich, um schließlich noch mehr Geld zu scheffeln und den weniger Begüterten einzureden, man tue schon ...

Die Lage ist aussichtslos und die Stimmung ist ohne Hoffnung. Die wenigen Reichen werfen mit Phrasen um sich, um schließlich noch mehr Geld zu scheffeln und den weniger Begüterten einzureden, man tue schon das Beste. Für die Gruppe von Freunden um Ben, die schon einmal versucht haben die Welt zu retten, mittelfristig allerdings gescheitert sind, ist es an der Zeit die Situation zu verändern. Doch können einige noch immer relativ junge Nerds die Welt verändern? Schließlich ist der Versuch schon einmal schief gegangen und die Menschen scheinen noch träger und desinteressierter geworden zu sein.

Entvölkerte Landschaften, zu wenige Arbeitsplätze, leere Regale, heruntergekommene Häuser oder gar keine Häuser, Ausbeutung in den raren Jobs, Europa eine Festung der Überalterung. Gruselig. Kein Wunder, dass die Reichen sich lieber mit dem Kapital, dem Shareholder-Value beschäftigen. Sie bleiben unter sich und ihre Lobbyisten blasen den Politikern, die auch lieber nichts mit der Welt da draußen zu tun haben wollen, schon die richtigen Sätze ein, die zu der richtigen Politik führen. Dann werden die Reichen noch reicher und die Armen noch abhängiger. Die Freunde haben sich das nun lange genug angeschaut, so langsam ist es Zeit, etwas zu unternehmen.

Seit GRM sind einige Jahre vergangen. Die Menschheit steckt weiter in einer Krise, wie kann es erstrebenswert sein, freiwillig das Leben aufzugeben? Kein Wunder, dass Ben sich an seine alten Freunde erinnert und sie gemeinsam einen Plan aufstellen, durch den sich alles ändern soll. Muss es schlimmer werden, damit es besser werden kann? Manchmal ist es so. Auch wenn die Form schon aus GRM bekannt ist, schafft es die Autorin wieder, ihre Leser zu fesseln. Die Beschreibung der überbordenden Macht der Algorithmen, der lenkbaren Individuen, die eigentlich keine individuellen Persönlichkeiten mehr sind, denn anstatt sich zu treffen, hängen sie lieber an ihren sozialen Geräten oder in ihren sozialen Netzen, wo sie am liebsten denen glauben, die unglaublichsten Geschichten erzählen. In so einer Welt möchte man nicht leben, man fragt sich allerdings, ob man nicht schon relativ nahe dran ist. Kann die Menschheit, die so hoffnungslos ist, bewegt werden, etwas zu ändern? Und mit welchen Mitteln? Auch wenn dieser Roman vielleicht nicht ganz den Esprit von GRM hat, so bearbeitet die Autorin diese spannende Frage mit packenden Worten. Wieder hält sie der Gesellschaft einen Spiegel vor. Schön, wenn dies zum Nachdenken anregte.

Veröffentlicht am 20.07.2022

Paradies

Die Arena
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Nicht gerade im besten Viertel von Paris ist Benjamin Grossmann aufgewachsen, nachdem sein Vater abgehauen ist. Doch endlich hat er es geschafft, er ist zum Europachef eines amerikanischen Streaming-Anbieters ...

Nicht gerade im besten Viertel von Paris ist Benjamin Grossmann aufgewachsen, nachdem sein Vater abgehauen ist. Doch endlich hat er es geschafft, er ist zum Europachef eines amerikanischen Streaming-Anbieters aufgestiegen. Mit seiner Lebensgefährtin läuft es bestens. Ein neues Projekt ist ebenfalls am Start. Doch dann verliert er aus Unachtsamkeit - oder wurde es gestohlen? - sein teures Smartphone. Er darf nicht daran denken, wenn der Code geknackt wird. Er muss es schaffen, das Teil zurückzubekommen. Benjamin ahnt nicht, was er mit seiner Suche auslöst, die bei einem vermeintlichen Migranten beginnt und dann eine Kettenreaktion auslöst, die so wirklich nicht vorhersehbar ist.

Seine einfache Herkunft kann Benjamin Grossmann nicht verleugnen. Als seine Mutter ihm eröffnet, dass sie sein Zimmer an einen jungen unbegleiteten Flüchtlingsjungen vergeben hat und ihn bittet, seine Sachen abzuholen, ist er doch verletzt. Im Job ist auch mehr Schein als Sein, die Unsicherheit, die ihn häufiger überfällt, weis er gut zu überspielen. Der Verlust des Handys wirft ihn schon aus der Bahn, bei dem Gedanken, was alles darauf gespeichert ist, wird ihm sehr unwohl. Richtig mit der Angst zu tun bekommt Grossmann es, als der Junge, den er im Verdacht hat, das Handy zu haben, tot aufgefunden wird.

Ein auf den ersten Blick eher dummer Vorfall löst in diesem Roman etwas aus, mit dem nicht zu rechnen war. Nach der Beschreibung erhofft man ein turbulentes Chaos, in dem eine aberwitzige Wendung der nächsten folgt. Tatsächlich bekommt man eine Beschreibung einer Wirklichkeit, die wahrscheinlich nicht allzu fern vom heutigen Paris ist. Etwas schaukelt sich durch falsche Deutungen oder Einschätzungen zu einem Finale auf, das möglicherweise unvermeidlich, aber auch als belastend empfunden werden kann. Man wünscht sich, das Schlimmste hätte verhindert werden können. Was die Lektüre etwas erschwert, ist die vergebliche Suche nach einem Sympathieträger und die manchmal ein wenig ausufernden Beschreibungen. Dann aber gibt es diese mitreißenden Szenen, die einen wirklich packen und durch die man einen Eindruck von der Gemengelage im Paris von heute gewinnt. Ein tiefer Einblick in die Seelen derer, die häufig vergessen werden.

Veröffentlicht am 19.07.2022

Folge dem Wolle

Morduntersuchungskommission: Der Fall Daniela Nitschke
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Otto Castorp ist in die Hauptstadt der DDR versetzt worden, zur zweiten Morduntersuchungskommission. Im Jahr 1987 sind die jungen Leute nicht mehr so leicht zu bändigen. Deshalb müssen die vom Mord auch ...

Otto Castorp ist in die Hauptstadt der DDR versetzt worden, zur zweiten Morduntersuchungskommission. Im Jahr 1987 sind die jungen Leute nicht mehr so leicht zu bändigen. Deshalb müssen die vom Mord auch mal auf der Straße aushelfen. Und dann werden kurz nacheinander zwei Tote gefunden, eine junge Frau aus dem Osten und ein Musiker aus dem Westen. Den Westbürger übernehmen sofort die Politischen, doch die Unbekannte wird ein Fall für die Zweite. Gleichzeitig wird die Sekretärin Erika Fichte gebeten, die Unterlagen ihres Chefs zu sichten und sich Gedanken zu machen. Über den Verbleib von Wolle ist nichts bekannt.

Es ist der dritte Fall für Otto Castorp. Nachdem der letzte große Fall so dramatisch endete, ist Castorp froh, woanders eingesetzt worden zu sein. Der Mord an der jungen DDR-Bürgerin ist rätselhaft. Die junge Frau wirkt zu unscheinbar, um einen Killer anzulocken. Erika Fichte hingegen fragt sich, wieso sie Fragen zum Verschwinden ihres Chefs klären soll. Gibt es da nicht Profis? Wolle war verantwortlich für die Unterstützung des ANC im Kampf gegen das Apartheidregime in Südafrika. Als Sekretärin hat Erika einen anderen Blickwinkel als die professionellen Ermittler. Sie kennt die Arbeitsweise ihres Chefs.

Schon zwei Jahre vor der Wende sind die Veränderungen, die die Zeit damals brachte, zu spüren. Die Einflussnahme des Systems im Osten auf befreundete Organisationen scheint nicht mehr hundertprozentiger Überzeugung durchgeführt zu werden. Und doch sind sie rührig. Auf spannende Art und Weise schildert der Autor die Zusammenhänge, die schließlich dazu führen, dass sich die Wege unterschiedlichster Personen zu einem packenden Finale kreuzen. Aus der Perspektive verschiedener Personen wird die Erzählung vorangebracht. Und so setzt sich das Puzzle langsam zusammen. Dabei wird die politische Lage informativ und fesselnd mit eingebaut. Die Einflussnahme eines vermeintlich stärkeren befreundeten Staates ist interessant beschrieben und wirkt unerwartet als eine Erklärung, wieso sich manche Staaten heutzutage so und nicht anders positionieren. Dieser spannende zeitgeschichtliche Kriminalroman macht neugierig, ob zu erfahren sein wird, wie Otto Castorp die Wendezeit erleben wird.

Veröffentlicht am 18.07.2022

Imperial Grand Hotel

Was geschieht in der Nacht
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Mit dem Zug fährt ein amerikanisches Ehepaar in einen abgelegenen Ort im Norden Europas. Schon der Bahnhof, an dem sie aussteigen, macht einen verlassenen Eindruck. Mit Mühe finden sie einen Transport ...

Mit dem Zug fährt ein amerikanisches Ehepaar in einen abgelegenen Ort im Norden Europas. Schon der Bahnhof, an dem sie aussteigen, macht einen verlassenen Eindruck. Mit Mühe finden sie einen Transport mit dem sie zum Hotel gelangen. Dort herrscht eine seltsame Stimmung. Doch die Ehegatten lassen sich nicht beirren. Sie haben sich auf den langen Weg gemacht, um ein kleines Kind zu adoptieren. Die Frau ist schwer erkrankt und es scheint mehr als ungewiss, ob sie im Endeffekt überhaupt überleben kann. Ein Kind würde bleiben.

Es ist Winter und die Dunkelheit überwiegt. Skurrile Persönlichkeiten bevölkern das Hotel, welches sie als nicht so leer erweist, wie zunächst vermutet. Die Bar hat die ganze Nacht geöffnet, der Kellner stets zu Diensten. Eine alternde Schauspielerin klimpert am Klavier und verdient sich ihr Zimmer im Hotel. Ein Geschäftsmann spricht dem Schnaps zu und behauptet, den Mann schon einmal getroffen zu haben. Der Mann und seine Frau sind erschöpft von der Reise. Während sie lieber ruhen möchte, zieht es ihn doch an die Bar für einen Drink und einen Snack. Am nächsten Morgen auf dem Weg zum ersten Besuch im Waisenhaus, landet das Paar zufällig oder absichtlich bei dem Heiler Bruder Emanuel.

Auch wenn Vieles in diesem Roman im Ungewissen bleibt, sogar die Namen seiner Hauptpersonen, während die meisten anderen Namen bekommen, so nimmt einen das skurrile Ambiente doch sofort gefangen. Fast filmhaft kommen einem die Beschreibungen vor, beinahe meint man die Bilder zuordnen zu können, nur um festzustellen, dass man doch in die Irre gegangen ist. Geht es ums Finden oder ums Verlieren, ums Loslassen oder Hinzugewinnen? Sind die vermeintlichen Statisten in Wahrheit Helfer bei der schweren Aufgabe des Zurechtkommens mit einer möglicherweise tödlichen Krankheit? Man kann Erklärungsversuche starten oder sich einfach der schrägen aber doch anrührenden Stimmung hingeben. Ein echtes Leseerlebnis. Ein Roman, den man gerne verfilmt sehen würde.