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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 06.12.2021

Fast 70 Leben, fast 50 Jahre Bühne unterhaltsam erzählt

Sonnenseite
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Meinung

Es beginnt im letzten Jahr, 2020. Roland Kaiser gibt ein Konzert auf der Waldbühne Berlin. Statt 22.000 Zuschauern sind Pandemie bedingt nur 4.500 zugelassen. Aber es ist ein Signal, „Back to ...

Meinung

Es beginnt im letzten Jahr, 2020. Roland Kaiser gibt ein Konzert auf der Waldbühne Berlin. Statt 22.000 Zuschauern sind Pandemie bedingt nur 4.500 zugelassen. Aber es ist ein Signal, „Back to live“. Seit fast fünfzig Jahren gehört Roland Kaiser zu den bekanntesten Sängern Deutschlands. Mit seinen zahlreichen Auftritten in der ZDF Hitparade hält er den Rekord der Sendung. Und heute, mit fast 70 Jahren, ist er immer noch ein erfolgreicher Künstler.

Ich kenne ihn seit Kindheitstagen, seit Santa Maria. Da war ich nicht einmal vier Jahre alt, aber wohl ziemlich textsicher. Lange Zeit wurden Schlager eher belächelt. Zu viel heile Welt und all diese Vorurteile. Schublade auf, rein, Schublade zu. Doch mittlerweile hat es sich die Wahrnehmung geändert.
Nach dem kurzen Intro der Gegenwart, erinnert sich Roland Kaiser zurück an seine Kinderzeit im Berliner Stadtteil Wedding. Zusammen mit seiner Pflegemutter und deren Schwester, Tante Gertrud, wohnen sie im Hinterhaus, Toilette auf halber Treppe. Er erzählt voller Herzlichkeit von einer behüteten Kindheit. Seine Pflegemutter, eine überzeugte Anhängerin Willy Brandts, lebte ihm die wichtigsten Werte wie Solidarität, Verantwortung und soziales Miteinander vor. Werte, die dem Sänger bis heute wichtig sind. Er engagiert sich für zahlreiche Organisationen und wurde vielfach für sein soziales Engagement ausgezeichnet. Ein klares, bekennendes Statement zur SPD und deren Werten findet man ebenfalls im Buch. Er versteht sich als Unterhalter mit Haltung!

Eindringlich schildert er besondere Momente. Darunter historische Ereignisse, wie beispielsweise der Bau der Mauer oder Kennedys berühmte Rede, aber auch besondere private Erlebnisse. Erinnerungen an ein Weihnachtsfest, an dem seine Mutter ihm ein langersehntes Fahrrad schenkte. Als er fünfzehn Jahre alt ist, stirbt seine Pflegemutter an den Folgen eines Schlaganfalls. Zwar nimmt ihn eine ihrer Schwestern bei sich auf, dennoch beginnt damit seine Abnabelung von der Familie. Sehr ehrlich berichtet Roland Kaiser von seinen Gefühlen zu dieser Zeit. Auch später taucht der Verlust der Mutter immer wieder auf. Für den jungen Mann ein lebensverändernder Einschnitt. Nach einer Lehre im Einzelhandel und Nebenjobs, beginnt er eine Ausbildung zum Automobilkaufmann. Durch Zufall lernt er den Musikmanager Gerd Kämpfe kennen, der ihm ein Vorsingen in den Hansa Studios verschafft. Mit einem Dreijahresvertrag in der Hand kommt Roland Kaiser aus dem Studio wieder raus, doch es wird noch ein paar Jahre dauern, bevor seine Karriere Fahrt aufnimmt. Solange arbeitet er weiter in der Marketingabteilung eines Autohauses.

Das Buch gibt Einblicke in den Alltag des Musikbusiness', das heutzutage vollkommen anders funktioniert. Wir erfahren von den mühsamen Auftritten in Discotheken, von seinen ersten Versuchen selbst Texte zu schreiben und warum „Sieben Fässer Wein“ kein Roland-Kaiser-Song ist. Nach dem endgültigen Durchbruch mit Santa Maria, tritt die Entfremdung zur Familie seiner Pflegemutter deutlich zu Tage. Nur zu seinem Cousin Wolfgang bleibt der Kontakt bestehen. Es folgen Auftritte in der Hitparade, in der Peter-Alexander-Show und die Boulevard Medien werden auf den gutaussehenden Sänger aufmerksam.

In diesem Abschnitt hätte ich mir die ein oder andere Anekdote zur Hitparade gewünscht. Vor allem was nach der Sendung alles geschah, wäre sicher erzählenswert. Ebenso habe ich den ein oder anderen damaligen Berliner Star etwas vermisst, wie etwa Harald Juhnke. Auch sonst stellt sich Roland Kaiser als relativ brav dar. Wenn nur an der Hälfte der damaligen Schlagzeilen ein Funke Wahrheit ist, war der Sänger sicher kein Kind von Traurigkeit und zeitweilig sehr abgehoben. Das klingt in dem Buch allerdings nur bedingt an.

Chronologisch erzählt Roland Kaiser weiter. Von seinem ersten Treffen 1984 mit seiner jetzigen Frau, die erste Scheidung, die zweite Ehe mit der damaligen Schauspielerin Anja Schüte, seine Erfolge als Fernsehproduzent (u.a. RTL Samstag Nacht), seinem Pilotenschein, seiner zweiten Scheidung, seiner dritten Ehe und dem Angekommen sein. Die einzelnen Lebensabschnitte sind durch Stadtplanausschnitten gekennzeichnet. Beginnend mit Wedding, dann Berlin, Deutschland und später Münster.

Der wohl tiefste Einschnitt in seinem Leben ist die Diagnose COPD, die er selbst erst nicht sonderlich Ernst nimmt und dann über Jahre verheimlicht, bis er nicht mehr leugnen kann. Er zieht sich zurück und nur eine Lungentransplantation kann sein Leben noch retten. In der Fachklinik in Hannover bekommt er sein zweites Leben geschenkt und startet tatsächlich noch einmal durch, in einem Ausmaß, wie er es selbst wohl nicht für möglich gehalten hätte. Auch diese Zeit schildert Roland Kaiser sehr ehrlich und offen. Er ist dem Tod auf den letzten Metern entkommen und genießt nun sein Leben in vollen Zügen.

Als Musiker, Zeitzeuge und Privatperson lässt Roland Kaiser die Leser:innen an seinem Erinnerungen teilhaben. Hier und da hätte ich gerne mehr Details (Hitparade) erfahren, an einigen Stellen fehlt aus meiner Sicht eine kritische Selbstreflektion (Trennung von Anja Schüte, eine Schlammschlacht in der BILD Zeitung), doch alles in allem gibt das Buch interessante und teilweise auch überraschende Einblicke in ein Künstlerleben, das von großen Erfolgen und Rückschlägen geprägt ist. Bezeichnend ist der Titel „Sonnenseite“, denn etwas weiß man sehr genau nach der Lektüre, Roland Kaiser ist ein Optimist und er vertraut darauf, dass es gut werden wird.


Fazit

Ein Buch nicht nur für Schlagerfans. Roland Kaiser hat viel erlebt und viel zu erzählen und tut das, mit Hilfe seiner Co Autorin Sabine Eichhorst, auf sehr unterhaltsame Weise.

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  • Charaktere
Veröffentlicht am 26.11.2021

Seichte Unterhaltung

Der Traumpalast
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Meinung

Peter Pranges „Der Traumpalast“ ist ein 800 Seiten starker Roman, dem ein zweiter Band folgen wird. Unterteilt in fünf Teile, die jeweils eine Zeitspanne von ca. zwei Jahren erzählen, ist jeder ...

Meinung

Peter Pranges „Der Traumpalast“ ist ein 800 Seiten starker Roman, dem ein zweiter Band folgen wird. Unterteilt in fünf Teile, die jeweils eine Zeitspanne von ca. zwei Jahren erzählen, ist jeder Teil noch einmal in eine unterschiedliche Anzahl von sehr kurzen Kapiteln gegliedert.

Gerade die kurzen Kapitel geben einem das Gefühl einer kurzweiligen Lesezeit, dennoch zieht sich die Geschichte an vielen, völlig uninteressanten Stellen, wie beispielsweise bei Vorstandsitzungen oder Projektfinanzierungen, teils ins Unerträgliche. Oftmals habe ich in diesen Fällen weitergeblättert, was ohne Weiteres möglich ist. Andererseits enden Kapitel genau da, wo Charaktere endlich einmal Tiefe entwickeln könnten (z.B. S. 691). Die ständig wechselnde Szenerie lässt keinen großen Spielraum für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Charakteren oder dem Verlauf.

Zu Beginn wirkt der Roman sehr schwungvoll. Lebemann trifft auf eine modern eingestellte Frau, die weiß, was sie will und bereit ist für ihre Träume zu kämpfen. Doch schnell verliert sich dieser Schwung und auch die Frau, Rahel, ist nur noch vermeintlich modern und wird zum Anhängsel ihres reichen Gönners. Rahel ist in der Geschichte für mich die größte Enttäuschung. Im Laufe des Buches wandelt sich mein erster Eindruck von ihr, von einer starken Persönlichkeit hinzu einer nicht allzu intelligenten, sich selbst bemitleidenden Frau, die immer glanzloser wird. Teils ist sie mir sogar mächtig auf die Nerven gegangen, mit ihrer dummen und naiven Art und ihrer Arroganz.

Auch Tino konnte mich als Charakter nur mäßig überzeugen. Er erfüllt, wie so viele in diesem Roman, eine ganze Reihe von Klischees. Seiner Figur fehlt es an Substanz. Mich hätte beispielsweise eine tiefgreifendere Auseinandersetzung mit seiner Familie, in der es offensichtliche Probleme gibt, interessiert. Über die Ereignisse wird einfach so hinweggegangen. Auch sein Kokainkonsum wird nur oberflächlich erzählt und in erster Linie auf seinen Liebeskummer geschoben. Das ist mir einfach zu banal.

Die sich durchziehende Trivialität wäre für mich noch okay gewesen, weil der Roman nicht den Anspruch auf große Literatur erhebt. Doch einen historischen Roman zu verfassen und dabei hin und wieder historische Fakten so zu drehen, sodass sie in die Geschichte passen, hat mich verärgert. Beispiele hierfür wären das Tanzlokal „Eldorado“, das mehrmals im Roman genannt wird. Dieses berühmt, berüchtigte Transvestitenlokal eröffnete erst Mitte der 1920er, demnach gab es das 1920 noch gar nicht. Ein zweites Beispiel ist die Entstehung der Idee zu „Metropolis“, ebenfalls im Roman thematisiert, die hat der Autor mal eben etwas vordatiert. Was nicht passt, wird passend gemacht. Schade!

Auch sonst ist es eher ein Crashkurs der historischen Hotspots, denn auf keinen wird ernsthafter eingegangen. Die Charaktere sind in ihrem Handeln oft unglaubwürdig und nur darauf ausgelegt, irgendeine Verbindung zu den jeweiligen Ereignissen herzustellen. Dabei bleibt das Lebensgefühl der Berliner Bevölkerung in dieser unsteten und unsicheren Zeit völlig auf der Strecke. Nach den 800 Seiten habe ich mich gefragt, was davon hängen bleibt? Nichts. Es ist eine Aneinanderreihung von seichten Belanglosigkeiten, die jedes erdenkliche Klischee bedient und ein großes Potential einfach verschenkt. Der Roman ist weder spannend, noch interessant, noch kann man auf die historische Einordnung vertrauen. Ich hatte sehr viel mehr erwartet. Von meinen Erwartungen ist nur ein geringer Teil erfüllt worden.

Wiederholt hatte ich beim Lesen den Eindruck, als ob der Autor nur ein mäßiges Interesse an der Zeit der 20er Jahre sowie dem Thema „Kino“ hat. Was wiederum den ein oder anderen historischen Lapsus, der im Roman vorkommt, erklären würde. Dieser Roman ist wohl mehr dem aktuellen Zeitgeist geschuldet.

Fazit

Die Geschichte, die der Roman erzählt, hat mich nicht für sich gewinnen können. Die Erzählung hat mich nicht mitgerissen, es fehlen die facettenreichen Charaktere und mehr Schwung im Ganzen hätte weniger Langeweile aufkommen lassen.

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Veröffentlicht am 24.10.2021

Packend, mit einigen Schwachstellen

Die Übersetzerin
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Meinung

Geschichten, die während der deutsche Besatzung auf den Kanalinseln spielen, sind rar. Deshalb hat mich der Roman neugierig gemacht. Die Autorin schildert das Leben auf der Insel Jersey sehr intensiv. ...

Meinung

Geschichten, die während der deutsche Besatzung auf den Kanalinseln spielen, sind rar. Deshalb hat mich der Roman neugierig gemacht. Die Autorin schildert das Leben auf der Insel Jersey sehr intensiv. Die Versorgungslage, die immer knapper werdenden Lebensmittel, den Hunger und die Not, aber auch den Umgang mit den Besatzern. Man spürt förmlich, wie der Hass der englischen Bevölkerung gegenüber den Deutschen mit der Zeit wächst. Die Inselbewohner fühlen sich von ihrem Heimatland verraten und den Deutschen ausgeliefert. Bis auf wenige Momente des Aufbegehrens können sie den Besatzern nicht viel entgegensetzten. Der Schreibstil ist dabei mal fast sachlich, dann wieder eindringlich, somit bekam ich eine genaue Vorstellung von der Insel und der angespannten Stimmung zu dieser Zeit.

Hedy ist von allen Informationsquellen abgeschnitten, über die sie etwas von ihren Geschwistern oder Eltern erfahren könnte. Durch ihre Erinnerungen erfahren wir ein bisschen über ihre Vergangenheit, ihre Familie und ihre Flucht. Zu Beginn ist Anton ihre einzige Bezugsperson auf der Insel. Ihm gegenüber verhält sie sich sehr besitzergreifend und kann seine Freundin Dorothea nur schwer akzeptieren. Öfters habe ich von Hedy den Eindruck eines verwöhnten, kleinen Mädchens. Sonderlich sympathisch ist sie mir zu Anfang nicht, auch im weiteren Verlauf des Romans bin ich nur zögerlich mit ihr warm geworden. Sie stammt aus einer reichen, bürgerlichen Familie und es schimmern immer wieder leicht arrogante Züge durch.

Kurt hat ein Auge auf Hedy geworfen und spricht sie an, doch Hedy blockt seine Annäherungsversuche ab. Ich kann sie da gut verstehen, er ist der Feind und sie hat in Wien erlebt, wie die Nazis mit Juden umgehen. Obwohl er zu diesem Zeitpunkt nichts von ihren jüdischen Wurzeln weiß. Die plötzliche Kehrtwende in dieser Beziehung hat mich dann überrascht, da ich angenommen hätte, dass sie sich erst einmal vorsichtig aneinander herantasten. Wahrscheinlich ist das der Grund, warum die große Liebe wenig glaubhaft scheint. Für mich haben zwischen den Charakteren keinerlei Funken gesprüht.

Spannender hingegen ist für mich Kurts Sicht der Dinge. Wie er seine Kameraden sieht, seine Ansichten über den Krieg und das Regime und wie sich seine Haltung im Verlauf des Romans ändert. Die Art und Weise wie er versucht an Informationen zu kommen, um Hedy zu schützen. Kurt ist für mich der eigentliche Hauptcharakter im Roman, weil er interessanter und facettenreicher angelegt ist, als Hedys Figur. Er ist die treibende Kraft hinter allem, der Akteur, der Hedy versteckt, und sie mit seinen Einfällen aus brenzligen Situationen rettet. Hedy ist bei allem ziemlich passiv. Auch seine Emotionen sind besser nachvollziehbar. Im Gegensatz zu ihm bleibt Hedys Figur blass. Ich hätte mir mehr Tatkraft von Hedy gewünscht, schließlich geht es um ihr Leben.
Selbst die, auf den ersten Blick sehr naiv wirkende, Dorothea, auf die Hedy gerne herabsieht, ist wesentlich taffer, patenter und mutiger als Hedy. Aus meiner Sicht dominieren Kurt und Dorothea die Erzählung weitaus mehr, als der eigentliche Hauptcharakter Hedy, denn die Zwei bringen die Geschichte voran, Ich hätte eine stärkere Hedy als Romanfigur erwartet. Auch jetzt bin ich mir noch nicht sicher, ob ich Hedy überhaupt mag. Diese verbotene Liebe hätte jedenfalls noch wesentlich mehr Potential gehabt.


Fazit

Interessantes, selten behandeltes Thema des Zweiten Weltkrieges, das auf einer wahren Geschichte beruht. Streckenweise zeigt die Handlung einige Schwächen, was vor allem an der blassen Hauptfigur liegt. Die Stärke des Romans liegt eindeutig in der Schilderung der Besatzungszeit.

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Veröffentlicht am 03.10.2021

Witzig, tragisch, nachdenklich

Barbara stirbt nicht
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Meinung

„Barbara stirbt nicht“ beschreibt Herrn Schmidts Credo. Er kocht, er backt, weil er überzeugt ist, dass, wenn seine Frau nur ordentlich isst, sie wieder auf die Beine kommt. Das Barbaras gesundheitliche ...

Meinung

„Barbara stirbt nicht“ beschreibt Herrn Schmidts Credo. Er kocht, er backt, weil er überzeugt ist, dass, wenn seine Frau nur ordentlich isst, sie wieder auf die Beine kommt. Das Barbaras gesundheitliche Situation eine andere ist, wird nie offen ausgesprochen, dennoch ahnt man schnell, wie es wirklich um sie steht.

Herr Schmidt ist auf den ersten Blick kein liebenswerter Charakter. Er ist schroff, rassistisch und fest verankert in seinen alten Werten. Doch zwischen den Zeilen blitzt immer wieder seine Unsicherheit hervor. Ich schätze ihn auf Mitte siebzig. Nach dem Krieg musste er mit seiner Mutter, von seinem Vater ist nie die Rede, nach Westdeutschland fliehen. Der Makel des Flüchtlings, des Zugezogenen hat sich tief in ihm festgesetzt und ist für mich der Grund, weshalb er kaum soziale Kontakte hat. Er fühlt sich nicht dazugehörig, auch wenn er fast sein ganzes Leben schon in dieser Kleinstadt verbracht hat.

Seine Weigerung die lesbische Beziehung seiner Tochter anzuerkennen oder den fremd klingenden Namen seiner Schwiegertochter auszusprechen, lässt ihn unsympathisch wirken. Hinzu kommt noch der deutsche Schäferhund namens Helmut. Alle Klischees erfüllt, aber so einfach ist es nicht. Im Verlauf des Romans verändert sich Herr Schmidt, er reflektiert sein Leben an der Seite seiner Frau, die er eigentlich gar nicht hatte heiraten wollen oder war es seine Mutter, die Barbara für die falsche Frau hielt? Im Verlauf der Erzählung kommen einige Lebenslügen ans Licht, ohne das sie tatsächlich offengelegt werden.

Herr Schmidt ist immer für eine Überraschung gut. Ja, er ist ein herrischer alter Herr, der sehr verletzend sein kann, vor allem seinen Kindern gegenüber, doch dann scheint wieder eine andere Seite von ihm durch. Auf liebevolle Art kümmert er sich um Barbara. Er versucht ihre Essenswünsche zu erfüllen, er hält den Laden am Laufen, übernimmt ihre ehrenamtlichen Tätigkeiten und er stellt sich der größten Lüge ihrer Ehe und versucht sein Verhalten von damals zu korrigieren.

In Herrn Schmidts Leben treten die unterschiedlichsten Personen und auch hier zeigt sich, dass er gar nicht so verbohrt ist, wie er tut. Das er geradeheraus sagt, was er denkt, führt zu einer Fülle von Szenen mit Situationskomik. Ich habe während der Lektüre sehr viel gelacht, weil ich mich an Menschen erinnert fühlte, die Herrn Schmidt ähneln. Dadurch hatte ich ein ziemlich genaues Bild von ihm im Kopf. Alina Bronsky ist es gelungen diesen vermeintlich unsympathischen Zeitgenossen auf humorvolle Weise zu entlarven. Sie zeigt seine verletzlichen und guten Seiten, die sich hinter dieser teilweise unerträglichen Art verbergen.

Dieser Roman ist unglaublich witzig und zugleich zeigt er auch die tragischen Seiten des Lebens. Die hervorragende Beobachtungsgabe der Autorin wird mit diesem Buch wieder mehr als deutlich. Um die persönliche Geschichte der einzelnen Charaktere zu erzählen braucht sie nicht viele Worte. Alina Bronskys Schreibstil ist unverwechselbar auf den Punkt.

Mein einziger Kritikpunkt betrifft das Ende, das kam mir zu abrupt. Ich war von der Handlung und der letzten Figur doch sehr überrascht. Ich hätte mir frühere Hinweise gewünscht, um nicht so überrumpelt zu werden. Mittlerweile habe ich mich damit versöhnt, weil ich glaube, Herr Schmidt will reinen Tisch machen, für sich, aber auch für seine Frau. Sein unfreiwilliger Neustart soll frei von dem Ballast der Vergangenheit sein.

Fazit

„Barbara stirbt nicht“ hat mich oft zum Lachen gebracht, mich gut unterhalten, aber auch zum Nachdenken angeregt.

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Veröffentlicht am 29.09.2021

Fesselnder Mix

Alles, was wir sind
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Inhalt

Der bekannte russische Dichter Boris Pasternak stellt seinen Roman „Dr. Schiwago“ fertig, doch in der Sowjetunion wird das Buch aufgrund der staatsfeindlichen Schilderungen nicht veröffentlicht. ...

Inhalt

Der bekannte russische Dichter Boris Pasternak stellt seinen Roman „Dr. Schiwago“ fertig, doch in der Sowjetunion wird das Buch aufgrund der staatsfeindlichen Schilderungen nicht veröffentlicht. Als ein italienischer Verleger sich um die Rechte des Romans bemüht, um diesen in Europa zu veröffentlichen, willigt Pasternak ein und tritt damit eine Lawine los, die ihn in seinem Land das Leben kosten könnte.

Der Roman erscheint und wird zum Bestseller. Mitten im Kalten Krieg wird der US-amerikanische Geheimdienst auf diesen Literaturerfolg aufmerksam. Die CIA lässt den Roman im Original drucken und schmuggelt das Buch in die Sowjetunion, um Widerstand in der Bevölkerung zu wecken. Als der KGB davon erfährt, versucht er mit allen Mitteln die Verbreitung des Romans zu verhindern. Als Pasternak dann auch noch der Nobelpreis verliehen wird, sieht die Sowjetunion sich gezwungen zu handeln. Es ist der Kampf der Systeme, die einen Roman kurzzeitig zum Spielball der Macht machen und dadurch das Leben einiger Menschen tiefgreifend verändern.


Meinung

„Alles, was wir sind“ erzählt die Geschichte eines berühmten Romans; Doktor Schiwago. Der sensible Schriftsteller und Arzt Schiwago, hin und her gerissen zwischen seiner Familie und seiner großen Liebe Lara und das alles vor dem historischen Umbruch der russischen Oktoberrevolution. „Dr. Schiwago“ wurde bei seinem erscheinen zu einem Politikum, zum Spielball im Kalten Krieg. Der Roman „Alles, was wir sind“ beruht auf wahren Tatsachen. Dafür hat die Autorin Lara Prescott aufwendig recherchiert.

Die Geschichte spielt über das gesamte Jahrzehnt der 1950er. Dabei wechseln sich Ost und West ab, sodass die Handlung aus völlig unterschiedlichen Perspektiven erzählt wird. Den Anfang macht Olga, also der Osten. Sie ist Pasternaks Geliebte. Eine verhängnisvolle Liebe zu Zeiten Stalins und Chruschtschow. Noch bevor Schiwago überhaupt fertig gestellt ist, verbringt sie drei Jahre im Arbeitslager. An Pasternak selbst traut man sich nicht heran, zu groß ist seine Beliebtheit. Als der Roman beendet ist, findet sich in der Sowjetunion niemand, der es wagt,das Buch zu veröffentlichen. Am Beispiel von Pasternak wird deutlich, wie der Staat seine Macht ausspielt, wie sehr er über die Kultur bestimmt und wie er es versteht sein Volk zu manipulieren. Olgas Schilderungen vom Umerziehungslager sind erschreckend. Dort sind keine Straftäterinnen, sondern nur Frauen, die die rechtliche Willkür einer Diktatur zu spüren bekommen.

Auch in Pasternaks Gedanken tauchen wir ein und erfahren seine Sicht der Dinge. Ich kann verstehen, dass er seinen Roman veröffentlichen will, dass er den Nobelpreis annehmen will, doch er bringt damit nicht nur sich selbst, sondern vor allem Olga und ihre Kinder in Gefahr. Er nimmt meiner Ansicht nach wenig Rücksicht. Drei Jahre hat sie wegen ihm schon im Lager verbracht. Sie, nicht seine Frau! Und es werden nach seinem Tod weitere hinzukommen. Wohl wissend welche Konsequenzen sein Handeln haben könnte, lässt er zu, dass Schiwago in Europa veröffentlicht wird. Er unternimmt auch keinerlei Anstrengung Olga herauszuhalten. Jedenfalls wirkt es auf mich so.

Im Westen, in Washington D.C., sind die Frauen nach dem zweiten Weltkrieg wieder auf ihren Platz verwiesen worden. Die meisten fügen sich in die neue alte Welt, heiraten, werden Mutter. Nur wenige bleiben dem Geheimdienst treu. Die feine, aber auf den Punkt gebrachte Kritik der Autorin hat mir sehr gefallen. Sie sagt wie es ist. Die Männer, egal wie unfähig, machen Karriere, die Frauen, mit gleicher Qualifikation, bleiben Stenotypistinnen. Auch sonst finden sich in dem Roman einige deutliche Seitenhiebe auf das patriarchische System.

Die Grundzüge dessen, was den Westen bewegt, erzählen uns eben diese Stenotypistinnen. Es ist ähnlich wie der Klatsch auf dem Büroflur, den man im Vorübergehen aufschnappt. Informativ, kurzweilig und wahrhaftiger als so manches offizielle Statement. Jedenfalls erzählen sie uns von früher, von jetzt und erklären den Lesern die Zusammenhänge und versorgen uns mit allen Neuigkeiten. Tiefer in die Geschichte steigen wir mit Irinas und Sallys Erzählungen ein. Aus ihren Perspektiven erleben wir sowohl ihre Liebesaffäre als auch ihre geheimen Aktivitäten hautnah mit. In den konservativen 1950er Jahre war Homosexualität in den USA undenkbar und wurde verfolgt. Eine Haltung, die es den beiden Frauen unmöglich macht, ihre Liebe zu leben.

Die Autorin Lara Prescott hat aus einer wahren Geschichte rund um „Doktor Schiwago“, die mir bisher nicht in dem Umfang bekannt war, einen packenden und gesellschaftskritischen Roman verfasst. „Alles, was wir sind“ kritisiert dabei nicht einseitig nur die willkürliche und menschenverachtende Politik der ehemaligen Sowjetunion, sie schreibt auch über die Frauen, die nach dem Zweiten Weltkrieg wieder auf Ehefrau und Mutter reduziert wurden. Ihre Leistungen während des Krieges waren schnell vergessen und die Männer nahmen wieder ihre angestammten Positionen ein. Es war ein Zurück zu den konservativen Werten. Auch das Thema der Homosexualität oder die sexuelle Übergriffigkeit mancher Männer spart die Autorin nicht aus.

Aufgrund der klaren Unterteilung zwischen West und Ost, den verschiedenen Erzählperspektiven, die meinen Lesefluss nie gestört haben, ist der/die Leser:in immer mitten im Geschehen und lernt die Charaktere in allen Facetten kennen. Die Hauptakteurinnen des Romans sind die Frauen. Olga und im späteren Verlauf des Buches auch ihre Tochter Ira für den Osten und natürlich Irina und Sally ebenso wie der Pulk der Stenotypistinnen für den Westen. Dem Roman gelingt es großartig die Stimmung der Angst, die in der Sowjetunion umgeht, einzufangen ebenso wie die biedere, patriarchische Gesellschaft in den USA auf den Punkt zu beschreiben. Der Roman schlägt sich auf keine Seite. Kein schwarzweiß Denken, kein Gut und Böse, etwas, das mir sehr gut gefallen hat.


Fazit

Es ist ein lebendiger als auch bemerkenswerter Roman nach einer wahren Geschichte.

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