Wenn neue Zeiten einen Wertewandel verlangen...
"Die Unbehausten" von Barbara Kingsolver ist ein Buch, das mich außergewöhnlich beeindruckt hat. Die Lektüre ist bei mir nun schon mehrere Wochen her, und doch denke ich immer noch fast jeden Tag an dieses ...
"Die Unbehausten" von Barbara Kingsolver ist ein Buch, das mich außergewöhnlich beeindruckt hat. Die Lektüre ist bei mir nun schon mehrere Wochen her, und doch denke ich immer noch fast jeden Tag an dieses Buch... und nicht nur denke ich darüber nach, ich bin emotional eng damit verbunden. Denn es ist ein Buch, das für mich - obwohl es schon in den 2010er-Jahren von der Autorin verfasst und auf Englisch veröffentlicht wurde - gerade aufgrund seiner immer noch so starken Aktualität so stark berührt.
Wenn ich darüber nachdenke, was bei mir am stärksten nachschwingt, dann sind es die Diskussionen zwischen Antigone "Tig", der Tochter der Familie, in ihren 20er-Jahren und aufgrund ihrer bisherigen Lebenserfahrung sehr kritisch gegenüber dem nach wie vor vorherrschenden kapitalistischen Mainstream, und ihrer Mutter Willa, um die 60. Willa muss realisieren, dass der amerikanische Traum, nach dem es jede/r aus der Kraft eigener Leistung zu einem Leben in Glück und Wohlstand bringen könne, für sie und ihre Familie nicht ganz aufgegangen ist.
Auch nach Jahrzehnten fleißiger Arbeit, folgend auf ein Universitätsstudium, ist es ihr und ihrem Mann Iano nicht gelungen, ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen. Willa selbst verdient als freiberufliche Journalistin höchstens mittelmäßig und auch ihr Mann hat seine als sicher eingeschätzte Professorenstelle nach einer Universitätsschließung verloren und muss sich nun auch im höheren Lebensalter noch als schlechter bezahlter freier Dozent durchschlagen. Die Familie hat ein bruchfälliges Haus geerbt und für die Reparatur ist kein Geld da.
Die beiden erwachsenen Kinder, Tig und Zeke, haben in den Augen der Eltern mittlerweile leider auch so einige Probleme und leben temporär wieder mit den Eltern gemeinsam in dem bruchfälligen Haus. Tig wurde schon immer von der Mutter als klein und zart, gleichzeitig aber auch rebellisch und widerspenstig betrachtet, die Mutter-Tochter-Beziehung ist keine einfache, es gibt viel Reibung.
Zeke wurde lange von der Mutter idealisiert, war ihr Goldjunge, der "immer das Richtige tat", ein erfolgreiches Studium absolvierte und mit einer wunderschönen und erfolgreichen Anwältin vor kurzem Eltern eines kleinen Jungen geworden war. Doch nun hat die Anwältin sich suizidiert, Zeke alleine mit dem Baby zurückgelassen, dieser ist kurzfristig wieder ins Elternhaus zurückgezogen, und es stellt sich heraus, dass er außerdem auf einem riesigen Schuldenberg aufgrund der hohen Studiengebühren sitzt, die er für sein Studium an der prestigeträchtigen Eliteuni zahlen musste.
Beide Kinder sind Mitte bis Ende 20, doch bei weitem noch nicht so im Leben angekommen, wie die Eltern es sich erhofft hätten. Und nicht nur das, so teilt zumindest Tig auch überhaupt nicht die kapitalistisch geprägten Werte ihrer Eltern und deren Glauben an die Meritokratie, wie etwa diese Textstelle einer Unterhaltung zwischen Willa und Tig zeigt:
"Ich dachte, sagte sie, "wir könnten vielleicht irgendwann mal aufhören, uns Sorgen zu machen, und uns relativ bequem zur Ruhe setzen. Ihr würdet uns besuchen. Mit Enkelkindern. Und ihr würdet woanders einen Job und ein eigenes Haus haben."
"Oh, oh", sagte Tig. "Mom wird vom Geist der vergangenen kapitalistischen Fantasien heimgesucht."
"Ich finde, das ist nicht zu viel verlangt", sagte Willa gereizt.
"Niemand findet, dass er zu viel verlangt", gab Tig gereizt zurück. (S. 405)
Tig, wie so viele junge Menschen ihrer Generation, sieht die Seifenblase des Versprechens des immerwährenden Wachstums schon lange als geplatzt an. Mehr und mehr haben, mehr und mehr konsumieren, das ist eine Haltung, die sie nicht verstehen kann, und die in ihren Augen viel zu den Problemen beiträgt, mit denen unsere Welt gerade zu kämpfen hat. Hier eine Aussage Tigs dazu:
"So viele Menschen werden obdachlos werden. Nicht nur obdachlos, sondern heimatlos. Städte werden im Meer versinken, und dann? Man kann nicht in geschlossenen Räumen Schutz suchen, wenn es keine Räume mehr gibt." (S. 553)
Auch aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen in ihrer Kindheit, als sie jedes Mal ihre Freunde verlor, als die Eltern berufsbedingt mal wieder umziehen wollten, hat sie ein anderes Wertesystem als die ältere Generation entwickelt. Nicht nur sieht Tig großen Wohlstand für ihre Generation als schwer erreichbar an, sie will ihn gar nicht. Stattdessen kümmert sie sich liebevoll um ihren kleinen Neffen Dusty, der von seinem Vater, dem Goldjungen Zeke, im Stich gelassen wird, denn dieser will sich lieber um das Vorantreiben seiner Karriere kümmern.
Tig hingegen packt an, sie knüpft Verbindungen zu anderen engagierten jungen Leuten in der Umgebung, kümmert sich um ihren pflegebedürftigen Opa (obwohl dieser politisch eine ganz andere Meinung vertritt als sie und Obamacare und Medicaid selbst dann noch ablehnt, als er es dringend brauchen könnte - hilfsbedürftig sein widerspricht schließlich dem amerikanischen Traum von der Unabhängigkeit und Selbständigkeit), repariert gemeinsam mit ihren neuen Freunden Autos, wickelt Dusty in Stoffwindeln und kocht selbst Babybrei. Ein nachhaltiger Lebensstil ist ihr wichtig, und das predigt sie nicht nur, das lebt sie vor. Inspiration dazu hat sie unter anderem auf Kuba bekommen, wo sie einige Zeit gelebt hat. Es ist ihr wichtig, sich auf ursprünglich von manchen als überkommen angesehene, scheinbar "alte" Werte wie Bescheidenheit, Dankbarkeit und auf den Wert von Freundschaften zu besinnen, wie diese Unterhaltung mit ihrer Mutter zeigt:
"Es ist doch so, Mom: das Geheimnis des Glücks ist, nicht zu viel zu erwarten. Der Grabstein da ist eine Mahnung. Wenn du deinen Mann und deine Kinder nicht innerhalb eines Jahres verloren hast, dann freu dich! Du hast anderen was voraus."
"Ich staune. Das habe ich dir beigebracht? Nicht zu viel zu erwarten?"
"Was wolltest du mir denn beibringen?"
"Ich weiß nicht. Dass du alles sein kannst, was du willst. Dass du dir hohe Ziele stecken sollst und so. Das Übliche eben."
"Tig lächelte nicht. "Ich hab dir und Dad dabei zugesehen. Ihr habt euch das hohe Ziel einer Festanstellung gesteckt, und das war für mich nicht so toll. Für euch war Sicherheit so wichtig, dass ihr unsere langfristigen Freundschaften und Bindungen dafür geopfert habt." (S. 552)
Damit habe ich euch eine Hälfte des Buches in der Reihenfolge dargestellt, so wie sie mich am meisten emotional berührt hat und auch nach Wochen noch nachschwingt.
Nicht verschweigen möchte ich aber allen am Buch Interessierten, dass es sich um ein zweigeteiltes Buch handelt. Diese zutiefst berührende und emotionale Geschichte in den 2010er-Jahren in den USA, vor dem Hintergrund einer größer werdenden gesellschaftlichen Spaltung und des als unaufhaltsam scheinenden Aufstieg des "Megafons", der tatsächlich dann zwischen 2016 und 2020 und auch nun wieder Präsident wurde, und das mit Aussagen, die man früher als unvereinbar mit diesem Amt angesehen wurde... diese tiefgründige und komplexe Geschichte, die ich hier in meiner Rezension nur kurz angerissen habe, während man noch viel mehr dazu sagen könnte... ist tatsächlich nur etwa eine Hälfte des umfangreichen Buches, die abwechselnd mit einer zweiten Geschichte erzählt wird.
Die zweite Geschichte spielt Ende des 19. Jahrhunderts, hier steht der Naturwissenschaftslehrer und kritische Geist Thatcher im Mittelpunkt, der mit einer sehr statusinteressierten und konservativen Frau verheiratet ist, immer wieder mit dem kirchengläubigen Direktor wegen der Evolutionstheorie in Konflikt gerät, und sich mit seiner ebenfalls an Naturwissenschaften sehr interessierten und mit Charles Darwin in einem Briefwechsel stehenden Nachbarin anfreundet.
Auch das eine sehr interessante Geschichte, die viele Parallelen zu der Geschichte in der heutigen Zeit aufweist. Bei beiden geht es um nötige Paradigmenwechsel, gesellschaftlichen Wandel, den dadurch nötigen Wertewandel und die Menschen, die dessen Notwendigkeit erkennen und mit jenen zu kämpfen haben, die sich am Alten festhalten und gegen jegliche Veränderung stemmen wollen. Mich persönlich konnte dieser Vergangenheitsstrang etwas weniger emotional erreichen als der Gegenwartsstrang. Das heißt nicht, dass ersterer schlecht geschrieben wäre, er ist für sich auch sehr interessant, nur war zweiterer für mich persönlich spannender und ich habe mich emotional damit mehr verbunden gefühlt.
Beide Geschichten weisen viele Parallelen auf und interessanterweise beginnt jeweils der erste Satz eines neuen Kapitels aus dem jeweils anderen Zeitstrang mit wortgenau dem gleichen Satz aus dem Ende des einen Zeitstrangs. Insgesamt ist das Buch ein sehr klug komponiertes Werk, in dem sich viel Weisheit finden lässt, sowohl zu Themen, die die Zeiten überdauern, als auch zu den momentan wichtigsten Themen sowohl des ausgehenden 19. Jahrhunderts als auch der 2010er-Jahre und der jetzigen Zeit. Würde ich das Buch noch ein paar Mal lesen, würde ich sicher jedes Mal wieder neue Erkenntnisperlen darin entdecken, so tiefgründig und vielschichtig ist es.
Das Buch macht zutiefst nachdenklich über die Zeit, in der wir uns gerade befinden und über die verschiedenen Perspektiven, die man dazu einnehmen kann. Es eignet sich auch äußerst gut für tiefgehende Diskussionen über die Werte unterschiedlicher Generationen und Sozialmilieus, über die Träume, die uns vermittelt wurden und die wir selbst verfolgen, über alternative Wege und Sichtweisen und über das, was bleibt, wenn viele Gewissheiten nicht mehr halten und vermeintliche Sicherheiten gebröckelt sind, kein Haus uns mehr schützt.
Denn, ein Schlüsselsatz, der im Buch mehrmals vorkommt:
"Unbehaust stehen wir im hellen Licht des Tages" (S. 574)
Und was können wir da erkennen?
Absolute Leseempfehlung!