Cover-Bild Kompass ohne Norden
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11,00
inkl. MwSt
  • Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
  • Genre: Kinder & Jugend / Jugendbücher
  • Seitenzahl: 336
  • Ersterscheinung: 19.06.2020
  • ISBN: 9783423627191
Neal Shusterman

Kompass ohne Norden

Ingo Herzke (Übersetzer), Brendan Shusterman (Illustrator)

»Eine brillante Reise in die Tiefen der Seele – einfühlsam, umwerfend, außergewöhnlich.« Laurie Halse Anderson

Caden hält sich für einen ganz normalen Jungen, doch sein Verstand begibt sich häufig auf fantastische Reisen. Manchmal befindet er sich geistig auf dem Weg zum Marianengraben, in der Realität hingegen wird selbst der harmlose Gartenschlauch zur tödlichen Gefahr. Als die Grenzen zwischen realer und fantastischer Welt immer weiter verschwimmen, muss Caden begreifen: Er ist kein biblischer Prophet, er ist schizophren.

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Lesejury-Facts

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 11.09.2020

Einfach nur Wow

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Hier haben mich tatsächlich Thematik und begeisterte Lesestimmen zum Buchkauf bewegen können. Auch das der Autor im persönlichen Umfeld mit Shizophrenie zu tun hat/ hatte, trägt für mich dazu bei, dass ...

Hier haben mich tatsächlich Thematik und begeisterte Lesestimmen zum Buchkauf bewegen können. Auch das der Autor im persönlichen Umfeld mit Shizophrenie zu tun hat/ hatte, trägt für mich dazu bei, dass man es hier eben nicht mit einer fiktiven Geschichte an sich zu tun hat. Sondern mit etwas selbst erlebten.

Shusterman erzählt glaubwürdig, schonungslos, klar und absolut erschreckend über die Erkrankung und zeigt auf, was Schizophrenie mit der menschlichen Psyche anstellt. Das macht aber auch den Reiz aus, am Buch dranzubleiben und weiterzulesen. Man will wissen, was da kommt und was in demjenigen vorgeht, wie Alles zusammenhängt und natürlichwie es endet.

Wir lernen den 15 jährigen Caden kennen und erleben, wie seine Gedankenwelt in Abgründe gerät. Aus einen normalen Jungen, wird jemand mit einer eigenen Welt in der er lebt und erlebt. Man merkt, wie er sich immer weiter entfernt, ohne es zu wollen. Er bewegt sich praktisch in seiner eigenen Welt, welche ein Seeabenteuer ist und in der er zur Besatzung gehört. Man bekommt vor Augen geführt, wie versucht wird ihm zum Helfen. Durch Sitzungen, aber eben auch durch viel herumexperimentieren, zumindest war das mein Eindruck, mit der Medikation. Man merkt, dass immer wieder an einer Besserung der Situation gearbeitet wird, aber man bekommt auch Hoffnung aufgezeigt. Hoffnung das es einen Weg gibt mit der Krankheit zu leben.

Das Alles macht das Buch etwas kompliziert. Es war stellenweise schwer verdaulich, aber auch wir und schwer zu verstehen. Dafür ist es aber auch sehr authentisch.

Mit Caden hat diess Buch auch einen tollen und starken Charakter bekommen, denn es braucht. Eine Kämpfernatur, die aus dieser Abwärtsspirale versucht einen Ausweg zu finden.

Fazit

Dieses Buch soll Mut machen und ich finde, dass es diese Aufgabe auch wunderbar erfüllt. Cadens Story ist berührend, emotional und ernst. “Kompass ohne Norden” nimmt einen mit in die Gedanken- und Gefühlswelt und kaut einen ordentlich durch, bevor man am Ende wieder ausgespuckt wird. Nicht ganz leichte Lektüre, aber definitiv interessant und lesenswert.

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Veröffentlicht am 31.07.2020

Ein wunderschöner und zugleich tieftrauriger Roman

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Obwohl ich weiß, dass Erwartungen oft ursächlich für herbe Enttäuschungen sind, kam ich nicht umhin der Lektüre von Kompass ohne Norden entgegenzufiebern. Zu gut waren die Bücher, die ich bislang von Neal ...

Obwohl ich weiß, dass Erwartungen oft ursächlich für herbe Enttäuschungen sind, kam ich nicht umhin der Lektüre von Kompass ohne Norden entgegenzufiebern. Zu gut waren die Bücher, die ich bislang von Neal Shusterman gelesen habe und zu vielversprechend klingt auch schon der Klappentext. Als mir dann im Vorwort des Autors auch noch klar wurde, dass das Buch keinesfalls fiktiv ist, sondern den sehr realen Schmerz, die Trauer und die Verzweiflung der Familie Shusterman ausdrückt, war ich bereits gefesselt. Denn der Protagonist Caden Bosch durchlebt etwas sehr ähnliches wie Shustermans Sohn Brendan. Die Zeichnungen im Buch sind von ihm selbst und die Personen haben ihre Entsprechungen im realen Leben.

Das Thema des Buches ist, wissenschaftlich gesprochen, die Entwicklung der psychischen Krankheiten Schizophrenie, Depression, Paranoia und bipolare Verhaltensstörung des jugendlichen Caden. Einfühlsamer gesprochen dokumentiert das Buch in sehr besonderer Weise den Weg des jungen Caden in die Abgründe seines Seins. Dafür baut das Buch neben dem realen Handlungsstrang noch einen weiteren auf, nämlich die Fahrt eines Schiffs Richtung Marianengraben. Diese Odyssee ist aber in Cadens Kopf und bezieht sich immer wieder auf die Realität, stellt aber vielmehr seine innere Zerrissenheit, seine Wahnvorstellungen und sein Abdriften dar. In Wirklichkeit entfremdet Caden sich immer mehr von seinen Freunden und seiner Familie, läuft, bis er Blasen an den Füßen hat und ist immer öfter in seinen Gedanken gefangen. Schließlich sehen seine Eltern keine andere Möglichkeit als ihn in die Jugendpsychatrie einzuweisen.

Die zwei sehr unterschiedlichen Handlungen haben mir von Anfang an gut gefallen. Schnell wurde klar, dass die Irrfahrt des Schiffs durchaus ein Abbild Cadens Realität ist und so wurden seine Gedankengänge viel greifbarer. Hier wird kein verrückter Mensch geschildert, vielmehr ist Caden der echten Welt entrückt und versucht immer verzweifelter seine Dämonen zu bezwingen und die Dinge wieder geradezurücken. Die Stimmen, die ihm glauben machen wollen, dass alle Welt ihn umbringen will oder die stete Nervosität machen dieses Unterfangen nahezu unmöglich.

Mit dem Aufenthalt in der Klinik ändert sich für Caden viel. Er findet Gleichgesinnte, durch die er sich selbst in einem anderen Licht sieht und mit denen Verbindungen entstehen, die wertvoll für alle Beteiligten sind.
Der Schreibstil ist shusterman-gewohnt großartig und das Buch lässt sich sehr flüssig lesen. Die wirklich kurzen Kapitel ermöglichen einen regen Wechsel zwischen Realität und „Cadens Realität“, also dem Schiff. Die insgesamt weit über 100 Einzelkapitel bringen einen Tagebuchcharakter ins Spiel, der dem Verlauf von Cadens Krankheit Rechnung trägt. Cadens Gedankengänge sind auf traurige Weise schön und zeugen von einem wahnsinnig intelligenten Geist.

Ein besonderes Lob gilt den tollen, bildhaften Beschreibungen, die Unwissenden Einblicke geben in die Gefühlswelt eines psychisch kranken Jugendlichen. Die auf ewig lauernde Abgrundschlange (für die potenziell immer wiederkehrende Krankheit), die flüchtenden Gehirne (für den gedanklichen Unrat) und der launische Kapitän (für den wankelmütigen Dr. Poirot) sind nur einige Beispiele für diese gelungenen Analogien.

Für mich ist das Buch ein absolutes Highlight und wurde zu Recht mit zahlreichen Preisen, darunter dem Deutschen Jugendliteraturpreis, ausgezeichnet. Ähnlich wie Wunder von Palacio nimmt das Buch einen mit auf eine abenteuerliche Reise und hinterlässt Spuren, die einen nachdenklich stimmen. Dieses sehr persönliche Buch von Shusterman strahlt bis hinab in die Tiefen des Challenger-Tiefs und entfacht ein Feuerwerk der Gefühle!

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Veröffentlicht am 04.07.2020

Am Abgrund der menschlichen Psyche

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Caden ist eigentlich ein normaler 15-jähriger, doch manchmal taucht er in andere Welten ab. In einer Welt ist da ein Kapitän, der seltsame Dinge von ihm verlangt. Und als Caden noch beginnt paranoid zu ...

Caden ist eigentlich ein normaler 15-jähriger, doch manchmal taucht er in andere Welten ab. In einer Welt ist da ein Kapitän, der seltsame Dinge von ihm verlangt. Und als Caden noch beginnt paranoid zu werden, wird alles ziemlich kompliziert.

Ich finde es ein bisschen schwer Wörter für dieses Buch zu finden, da es etwas ungewöhnlich ist, aber es hat mich auf jeden Fall sehr berührt und fasziniert. Der Autor schafft es auf eine abstrakte und doch verständlich Weise zu zeigen, wie es ist psychisch krank zu sein. Ein bisschen hat mich die Geschichte an Alice im Wunderland erinnert, nur viel realer und viel beängstigender, weil es tatsächlich Menschen gibt, die in so einer Welt leben. Dazu ist der Schreibstil einfach wundervoll und poetisch. Der Autor erschafft teilweise wunderschöne Bilder mit Worten und doch ist die Stimmung leicht beklemmend und man kann sehr gut mit Caden mitfühlen, auch wenn man seine Probleme nicht kennt. Und auch die kleinen Bildchen passen perfekt zur Geschichte und unterstreichen sie noch einmal.

Das Buch ist genauso magisch wie es die Augen öffnet. Es zeigt eine erschreckende Seite von psychischen Problemen, die durch den Schreibstil jedoch teilweise wirklich faszinierend geschildert werden. Mich hat das Buch wirklich berührt und auch wenn es ein Jugendbuch ist, würde ich es jeder Altersgruppe empfehlen, weil jeder sich mit dem Thema auseinandersetzten sollte, um es besser zu verstehen.

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Veröffentlicht am 25.06.2020

Ein Meistwerk, das sensibilisiert, das aufrüttelt, das tröstet und aufklärt

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"Du siehst Wahrheiten, die sonst keiner sieht. Verschwörungen und Verbindungen, so verdreht und vertrackt und klebrig wie das Netz einer Schwarzen Witwe. Du siehst Dämonen in den Augen der Welt, und die ...

"Du siehst Wahrheiten, die sonst keiner sieht. Verschwörungen und Verbindungen, so verdreht und vertrackt und klebrig wie das Netz einer Schwarzen Witwe. Du siehst Dämonen in den Augen der Welt, und die Welt sieht in deinen einen bodenlosen Abgrund."


"Kompass ohne Norden ist keinesfalls fiktiv", schreibt der Autor in seinem Vorwort. Stattdessen hat er seine eigenen Erfahrungen mit der Schizophrenie seines Sohnes zu dieser Geschichte verarbeitet, die zu rezensieren mir unfassbar schwer fällt, da sie mich auf verschiedenen Ebenen berührt, begeistert, verstört und beeindruckt hat. Ich habe nicht nur als Psychologie-Studentin vieles mitnehmen können, als bekennender Fan von Neal Shustermans dystopischen Jugendbuchreihen seine Raffinesse und seinen liebevollen Umgang mit dem Protagonisten Caden bewundern können, sondern war auch als Mensch ehrfürchtig dem gegenüber, was unser Gehirn jeden Tag leistet und was passieren kann, wenn einige winzige Transmitter zwischen den Milliarden Synapsen ins Ungleichgewicht geraten. "Kompass ohne Norden" ist mehr als nur eine Krankengeschichte, mehr als ein Jugendroman, mehr als eine Auseinandersetzung mit dem Thema "Schizophrenie" - Es ist ein Meistwerk, das sensibilisiert, das aufrüttelt, das tröstet, aufklärt und dich die Welt mit anderen Augen sehen lässt.


"Vielleicht bist du mit ihnen im Aquarium. Vielleicht sind die Fische Ungeheuer, und du treibst auf einem schicksalsgeweihten Schiff über ihnen - womöglich auf einem Piratenschiff-, das nichts von der Breite und Tiefe der Gefahr ahnt, auf die es sich bewegt. Daran hältst du dich fest, denn so erschrecken das auch sein mag, es ist immer noch besser als die Alternative. Du weißt, du kannst das Piratenschiff so wirkliche werden lassen wie alles andere, denn es gibt keinen Unterschied mehr zwischen Gedanken und Realität."


Das Cover zeigt genau wie die Originalausgabe die kleine Silhouette eines Jungens, der mitten im dunklen Ozean schwebt und nur an einem weißen Faden gesichert ist, der jedoch in einem Wirrwarr kurz unter der Oberfläche endet. Dass das an das Gehirn erinnernde Wollknäul, der ungesicherte Abstieg in die Tiefe und das mit Cadens Gedankenwelt übereinstimmende dunkle Meer wunderbar zur Geschichte passt, ist keine Frage. Auch der Titel ist (zwar auf andere Weise aber dennoch) ebenenso passend wie das Original "Challenger Deep". Denn wenn das Buch eines klar macht, dann dass man sich als Nichtbetroffener gar nicht vorstellen mag, wie hilflos und orientierungslos man sich fühlt, wenn der einzige verlässliche Marker für die Realität nicht mehr verlässlich funktioniert. Eben wie ein Kompass ohne Norden.


"Du bist der Kompass, Caden Bosch. Du bist der Kompass!"
"Wenn ich der Kompass bin, dann bin ich ziemlich nutzlos", antworte ich. "Ich kann Norden nicht finden."


Und so beginnt die Geschichte: Caden Bosch ist Besatzungsmitglied auf einem alten Piratenschiff, das zum tiefsten Punkt der Erde fährt: zum Challengertief im Mariannengraben, um dort uralte Schätze auszugraben. Doch gleichzeitig ist er auch ein ganz normaler High-School-Schüler, dessen Freunde und Eltern langsam auf sein seltsames Verhalten aufmerksam werden. Er wird zum Künstler der Mission ernannt, tritt dem inneren Kreis des Kapitäns bei und dokumentiert die Reise mit Bildern. Gleichzeitig gibt er vor, dem Laufteam der Schule beizutreten, geht aber stattdessen stundenlang ziellos durch die Stadt und befolgt die Anweisungen von Straßenschildern. Er ist hin und her gerissen zwischen seiner Loyalität dem Kapitän gegenüber und seinem meuterischen Anhängsel, dem Papagei. Und gleichzeitig weiß er nicht, ob ihm die Ärzte helfen wollen, oder alles nur noch schlimmer machen. Caden Bosch ist gleichzeitig auf einem Piratenschiff, einer geheimen Mission und erlebt ein Abenteuer und in der geschlossenen Abteilung einer Klinik, wo er versucht, die Realität wiederzufinden - nur dass er keine farbliche Unterscheidung hat, um seine Gedankenwelt von der Wirklichkeit zu trennen.


"Ich glaube, Gott hat uns dies hier genauso wenig gegeben, wie er kleinen Kindern Krebs gibt oder arme Leute die Lotterie gewinnen lässt", sage ich. "Wenn überhaupt, dann gibt er uns den Mut, damit fertig zu werden."


Zu Beginn ist die Geschichte sehr verwirrend und es dauert eine Weile, bis man sich zurecht finden und in dem Wirrwarr aus Realität und Vorstellung die Handlung erkennen kann. Und trotz der Verwirrung ist es genau das, was die Geschichte so wahrhaftig macht: das völlige Durcheinander an Eindrücken, Empfindungen und Gedanken, mit dem wir hier auch Erzählerisch konfrontiert werden, ist nichts im Vergleich zu dem, was Betroffene tatsächlich durchmachen. Caden schreibt: „Nichts macht mehr Angst, als nie zu wissen, was du im nächsten Moment glauben wirst." Und mit jedem Kapitel wiegt die Wahrheit dieser Worte ein wenig schwerer. Ich will es gar nicht leugnen: es ist unfassbar anstrengend und belastend, mit Caden zusammen in die Tiefe abzusteigen, seine Manie, Depressionen, Paranoia, Angst und Einsamkeit zu spüren, die Taubheit und das lähmende Gefühl, in Götterspeise eingesperrt zu sein, wenn die Medikamente wirken. "Kompass ohne Norden" hat mich an mehr als einer Stelle selbst an den Rand des Erträglichen gebracht und doch konnte ich das Buch nicht weglegen und Caden in seinem Kampf alleine lassen. Denn neben der intensiv beschriebenen Krankheit und deren Auswirkungen ist er auch ein sehr sympathischer, tiefgründiger, liebevoller Protagonist, der einen paradoxerweise dazu bringt, sich seinetwillen auf die Reise in die Tiefe einzulassen.


"Aber auf dem Armaturenbrett geht bloß diese stumpfsinnige Leuchte Motor überprüfen lassen an, sobald irgendetwas nicht in Ordnung ist. (...) Die Anzeige Gehirn überprüfen lassen kann auf viele verschiedene Arten aufleuchten, aber das Vertrackte ist: Der Fahrer kann sie nicht sehen. So als wäre die Leuchte im Becherhalter des Rücksitzes angebracht, unter einer leeren Getränkedose, die schon seit Monaten darin steht. Niemand sieht sie außer den Mitfahrern - und auch die nur, wenn sie wirklich darauf achten oder wenn das Licht so hell und heiß wird, dass die Dose schmilzt und das ganze Auto in Brand setzt."


Und wenn man sich erst auf die Geschichte eingelassen hat, beginnt man irgendwann zu verstehen, was die einzelnen Aspekte der Geschichte uns sagen wollen, findet den roten Faden, den man so lange gesucht hat. Wir lernen langsam, die Piratenstory auf dem Schiff zu dechiffrieren und in die Realität zu übersetzen. Verstehen, dass das Schiff für die Psychiatrie steht, die Drinks im Krähennest für die Medikamenten-Cocktails, der verräterische Papagei für den behandelnden Psychiater Dr. Poirot, die kupferne Gallionsfigur für seine Freundin Callie, der Steuerman für seinen Zimmergenossen Hal und der Kapitän - der der Mittelpunkt seines Abenteuer zu sein scheint - der Kapitän steht für seine personifizierte Krankheit, die er nicht abschütteln kann. Entlaufene Gehirne, tödliche Seeungeheuer, eine VIP-Krähennest-Lounge, eine weiße Plastikküche und Vogelscheuchen mitten auf dem Atlantik - Vieles klingt im ersten Moment absurd, bei genauerem Nachdenken aber offenbart sich unter allem ein doppelter Boden. Ich habe eine ganze Weile gebraucht, bis ich das kurze Büchlein beendet hatte, denn es war absolut keine leichte Kost und geradezu Arbeit, es zu lesen. Man konnte nicht loslassen, den Kopf abschalten und in der Geschichte versinken. Stattdessen muss man jeden Gedanken zweimal umdrehen, sich aktiv auf die Gedankenwelt einlassen und gleichzeitig dafür sorgen, nicht ganz darin abzutauchen.


"Früher hatte ich Angst vorm Sterben. Jetzt habe ich Angst, nicht zu leben. Das ist ein Unterschied. (...) Manchmal denke ich, Sterben wäre leichter zu ertragen, denn "was hätte sein können" hat viel höheres Ansehen als "was hätte sein sollen". Tote Kinder werden aufs Podest gestellt, psychisch kranke Kinder unter den Teppich gekehrt."


Neben den beiden Erzählsträngen der Realität und der Gedankenwelt ist auch die Erzählweise alles andere als gewöhnlich. Neal Shusterman schreibt hier viele kurze Episoden, die auf den ersten Blick zusammenhangslos aneinandergereiht sind, sich aber im Laufe der Geschichte immer mehr als Minikunstwerke entpuppen, die alle auf eine Art Pointe oder Erkenntnis hinauslaufen. Die vielen Episoden - 161 um genau zu sein - wirken zusammen zu einem großen Ganzen und lassen das Bild eines verwirrten aber genialen, verzweifelten oder mitfühlenden, traurigem aber ironischem und zornigen aber sanften Geists erkennen. Je weiter die Geschichte voranschreitet und je klarer Caden durch seine Behandlung wird, desto mehr fällt dem Leser auf, wie gut durchdacht und aufgebaut "Kompass ohne Norden" trotz des chaotisch erscheinenden Beginns ist. Den vielen einleuchtenden Sätzen, kleinen Weisheiten und charmanten Metaphern merkt man an, dass der Autor viele Jahre an dem Roman gearbeitet hat. Ich habe selten in einer Geschichte so viele Stellen und Zitate markiert, die ich mit der Welt teilen will und weil nicht alle in meine Rezension passen, kann ich euch nur ans Herz legen, selbst zur Geschichte zu greifen!


„In den Tagen der Bibel hätte ich als Prophet gegolten. Bei einem Naturvolk würde ich als Medizinmann gefeiert. Im finsteren Mittelalter hätten meine Eltern nach einem Exorzisten geschickt, und im viktorianischen England wäre ich in einer dieser schrecklichen Irrenanstalten gelandet. Heute hat man viel besser Aussichten auf eine vernünftige Behandlung, aber ich würde lieber wie ein Prophet behandelt als wie ein armer, kranker Junge.“


Der Schreibstil ist einfühlsam, verständnisvoll und nimmt den Leser sanft bei der Hand. Caden sagt an einem Punkt der Geschichte: „Was ich fühle, lässt sich nicht in Worte fassen, oder wenn doch, dann in einer Sprache, die niemand versteht.". Der Autor war sich anscheinend bewusst, dass die Reise durch Cadens Geist keine leichte ist und hat sein Bestes gegeben, um sie so eindrücklich und zugänglich wie möglich zu machen. Auch wenn ich vor dem Lesen nicht sicher war, ob ich mich wirklich in Caden einfühlen würde können, gibt es viele Beispiele, die dem Leser helfen, sich in den erzählenden Geist hineinzuversetzen und die Intelligenz und Wahrhaftigkeit des Erzählten offenbaren. Dabei schreibt er zwar verstörend schonungslos aber beeindruckend einfühlsam, tragisch traurig aber teilweise auch auf charmante Weise absurd, sodass man einfach lachen muss. Ein weiterer spannender Kniff der Erzählung ist, dass die Erzählperspektive von der Ich-Perspektive zum erzählerischen Du wechselt, je nach Geisteszustand des Erzählers und somit den Verlust des Ich-Gefühls und ein zunehmendes Sich-Fremd-Sein auch Erzählerisch erfahrbar macht.


"Sie bombardieren den ganzen Körper mit fiesem Scheißzeug und hoffen, dass sie damit die Krankheit erwischen und den Rest am Leben lassen. Die Frage ist: Wenn man die Stimmen vergiftet, bringt sie das um oder macht es sie nur richtig stinksauer?"


Die ab und an eingefügten Illustrationen von Brendan Shusterman erscheinen zu Beginn ebenso wirr und skurril wie einige der Gedanken. Nachdem man aber in die Geschichte eingefunden hat, erkennt man auch in der Kunst immer wieder Gefühle und Gedankenfetzen wieder, die im jeweiligen Kapitel behandelt werden. Die gespenstischen Gestalten, amöboide Schemen, verworrenen Linien und auf Papier gebannte Verwirrung untermalen das Gelesene eindrucksvoll, vor allem da sie aus der psychotischen Phase von Neal Shustermans Sohn stammen. Die Bilder sind jedoch nicht das einzige reale Artefakt in der Geschichte. Der Autor hat diesen Roman außerdem dazu genutzt, einige Hintergrundinformationen zur Krankheit, zur Behandlung und Zukunftsausblicke subtil einfließen zu lassen. Außerdem steckt die wichtige Message, Kinder aber auch Erwachsene mit einer psychischen Krankheit nicht abzuschreiben, zu verstecken und auszuschließen, sondern verständnisvoll auf sie zuzugehen und eine rettende Hand auszustrecken, zwischen den Seiten. Hier sind viele Negativ- und Positivbeispiele für den Umgang mit psychischen Krankheiten in der Familie und im Freundeskreis beschrieben, die neben dem realitätsnahen, eindrucksvollen Einblick in Cadens Kopf hoffentlich Sensibilität beim Leser wecken.


"Wir haben nichts zu fürchten als die Furcht selbst", verkündet der Kapitän vom Ruder aus, "und ab und zu ein Menschen fressendes Monster."




Fazit:


"Kompass ohne Norden" ist mehr als nur eine Krankengeschichte, mehr als ein Jugendroman, mehr als eine Auseinandersetzung mit dem Thema "Schizophrenie" - Es ist ein Meistwerk, das sensibilisiert, das aufrüttelt, das tröstet, aufklärt und dich die Welt mit anderen Augen sehen lässt.
Auch wenn es Arbeit ist, die Geschichte zu lesen, gibt es eine uneingeschränkte Leseempfehlung von mir.

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Veröffentlicht am 29.09.2020

Schwere Kost, welche mir das Thema Schizophrenie nicht unbedingt näher brachte

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Wenn es um das Thema Schizophrenie geht, greife ich gerne zu Büchern, welche diese Thematik beinhalten. Dabei finde ich es stets gleichermaßen interessant wie Angehörige oder eben auch Betroffene mit diesem ...

Wenn es um das Thema Schizophrenie geht, greife ich gerne zu Büchern, welche diese Thematik beinhalten. Dabei finde ich es stets gleichermaßen interessant wie Angehörige oder eben auch Betroffene mit diesem Schicksal umgehen. Das hat den einfachen Grund das bei mir selbst eine Typ Schizophrenie diagnostiziert wurde und ich nun lernen muss damit umzugehen. So dachte ich mir das ein Buch von Neal Shusterman genau das Richtige wäre, da mich seine Jugendbücher bisher wirklich fesseln konnten.


Doch die Ernüchterung kam sehr schnell, denn ich fand mich im Buch überhaupt nicht zurecht. Dies lag nicht am Hauptcharakter Caden, welcher Shusterman´s Sohn verkörperte, sondern an der Art und Weise wie die Geschichte erzählt wurde und was sie für mich aussagte.


Um es gleich vorweg zunehmen, sagte das Buch für mich nichts aus, denn einen eindeutigen Einblick in die Krankheit gab es nicht. Wer wie ich gehofft hatte eine gut erzählte Geschichte über das Thema Schizophrenie zu lesen, wurde enttäuscht. Der sonst so einfallsreiche Autor, welcher mich stets mit seinem einfühlsamen, aber eben auch starken und intensiven Büchern faszinierte, ging hier in eine fast schon lyrische Sprache über. Ob dies an der Mitwirkung seines Sohnes lag, möchte ich nicht ausschließen, aber es fühlte sich einfach nicht wie ein Shusterman an.


Die Geschichte über Caden machte mir auch deswegen Probleme, da das Krankheitsbild nicht einmal ansatzweise erklärt wurde, sondern man mit Caden, durch dessen Leben stolperte. Dies geschah aber leider holprig, denn eigentlich gab es nur 3 Bereiche, in welche man mitgenommen wurde und diese waren mehr verwirrend, als interessant. Immer wieder zog es Caden in andere Welten, zu welcher meist ein Piratenschiff auf hoher See darstellte. Damit hatte ich keine Probleme, aber die Aussagen und Handlungen dabei halfen mir einfach nicht zu verstehen, was gerade passierte.



Dabei half es auch nicht, das die Textabschnitte recht kurz gehalten waren. Dies sorgte eher für noch mehr Verwirrung, da zusammenhängende Handlungen auseinander gerissen wurden. Was ich allerdings schön fand, waren die hin und wieder auffindbaren Zeichnungen von Shustermans Sohn. Diese gaben dem Buch definitiv etwas reales. Schade nur das dies die Geschichte nicht schaffte.


Für mich war dieses Buch leider ein kleiner Reinfall. Ich war mit vielen Hoffnungen an das Buch heran gegangen und musste schließlich feststellen, das ich weder mit dem Schreibstil zurecht kam, noch das angesprochene Thema herauslesen konnte. Dafür war die Geschichte zu verschachtelt, was schon allein deswegen traurig war, da die bisherigen Bücher des Autors ebenfalls kritische Themen beleuchteten, diese aber mit einer starken Story untermauerten.

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