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Veröffentlicht am 30.05.2025

Ertrunkenes Sommerland

Das Echo der Sommer
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Durch die Romane "Das Leuchten der Rentiere" und "Die Zeit im Sommerlicht" der schwedisch-samischen Autorin Ann-Helén Laestadius wurde mein Interesse an der Geschichte und Kultur der Sámi, dem indigenen ...

Durch die Romane "Das Leuchten der Rentiere" und "Die Zeit im Sommerlicht" der schwedisch-samischen Autorin Ann-Helén Laestadius wurde mein Interesse an der Geschichte und Kultur der Sámi, dem indigenen Volk im Norden Europas, geweckt. Bei einer unvergesslichen Reise durch den finnischen Teil Lapplands und die norwegische Finnmark im Sommer 2024 gehörte der Besuch des großartigen samischen Museums und Naturzentrums Siida in Inari zu den vielen Höhepunkten.

Deshalb habe ich mich sehr gefreut, dass der Verlag S. Fischer nun den Debütroman der schwedisch-samischen Autorin Elin Anna Labba mit einem so wunderschönen Cover veröffentlicht hat. Die Journalistin erhielt 2020 den renommierten Augustpreis für ihr bisher nicht ins Deutsche übersetzte Sachbuch "Herrerna satte oss hit" (deutsch: Die Herren brachten uns hierher) über die Zwangsumsiedlung der Sámi bei der Aufteilung ihres angestammten Siedlungsgebietes zwischen den nordischen Ländern und Russland. Auf Interviews, die sie für ihr Sachbuch führte, sowie auf realen Ereignissen basiert nun ihr Debütroman.

In "Das Echo der Sommer" geht es nicht um den Verlust samischer Heimat durch neu gezogene Landesgrenzen, sondern durch die Nutzung von Wasserkraft zur Stromgewinnung für die Industrialisierung Schwedens im 20. Jahrhundert. Insgesamt viermal wird die samische Nomadin Rávdná Opfer der Überflutung ihres Dorfes.

Der Preis des billigen Stroms
Als der Roman 1942 einsetzt, ist ihre Torfkote im „Sommerland“ am Fuße des Hochfjälls, in der sie nach dem Tod ihres Mannes mit ihrer 13-jährigen Tochter Iŋgá und ihrer Schwester Ánne die Sommer verbringt, bereits zum dritten Mal ohne Vorwarnung, Entschädigung oder Entschuldigung des schwedischen Staates überflutet:

"Der See stand in ihrem Zuhause." (1. Satz, S. 15)

Ihr Besitz ist genau wie der Wald „ertrunken“, der lebensnotwendige Fischfang kaum noch möglich. Wieder werden provisorische Zeltkoten errichtet, wird das Dorf am Hang weiter auseinandergezogen und geht Gemeinschaft verloren. Wütend steigt Rávdná noch höher ins Fjäll und baut, obwohl es für die unter behördlicher Vormundschaft stehenden Sámi gesetzlich verboten ist und Sámi keine Hauskredite bekommen, ein eckiges Haus mit Fenstern.

Rávdná, die das „Sommerland“ und die Freiheit dort liebt und die Wanderung mit den Rentieren nach Westen im Frühling kaum erwarten kann, fühlt sich zunehmend fremd.

Im zweiten Teil springt der Roman zunächst ins Jahr 1968. Wieder soll der Staudamm ohne Rücksicht auf die Nomaden erhöht werden. Aus dem See wird ein Ozean.

Unbedingt lesenswert
Elin Anna Labba erzählt in ihrem erschütternden Roman von Rassismus, kulturellem Unverständnis, diskriminierender Gesetzgebung und Missachtung der Rechte der Ureinwohner durch den schwedischen Staat und die Mehrheitsbevölkerung. Gleichzeitig ist "Das Echo der Sommer" ein Roman über drei Frauen, die grundverschiedene Strategien angesichts von schmerzlichem Heimatverlust, Trauer, Ausgeliefertsein, Diskriminierung und Naturzerstörung entwickeln und zeigt den Preis des Widerstands (Rávdná) genauso wie den von Schweigen (Ánne) und Anpassung (Iŋgá).

Durch die Verwendung nordsamischen Vokabulars erhält der Roman eine besondere Authenzität, überraschenderweise ohne das Textverständnis zu schmälern, wenn man sich darauf einlässt. Wunderschöne Sprachbilder stechen poetisch hervor, wie das über die tief verwurzelte nomadische Unrast bis ins hohe Alter:

"Jeder wusste, dass im Frühling das Altersheim zu einer Rentierglocke wurde, die läutete und läutete." (S. 437)

Sprachliche Höhepunkte sind auch die kleinen Einschübe mit der ebenso melancholischen wie melodischen Stimme des Sees, wie der ganze Romane äußerst einfühlsam übersetzt von Hanna Granz:

"Ich wachse, denn die mich groß wollen,
kennen kein Ende.
Nie haben sie eines gekannt." (Schlusssätz S. 461)

Elin Anna Labba lebt inzwischen in Norwegen, wo die klimatischen Bedingungen für die Rentierhaltung besser und das Verständnis für die Sámi größer sind als in Schweden. Ich freue mich sehr auf weitere Romane von ihr.

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Veröffentlicht am 16.04.2025

Weibliche Schreibstuben

Ein Raum zum Schreiben
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Mit ihrem Debütroman "Muskat" landete die 1975 geborene Norwegerin Kristin Valla 2000 einen Überraschungserfolg nicht nur in ihrem Heimatland. Nach einem weiteren Roman galt sie als vielversprechende junge ...

Mit ihrem Debütroman "Muskat" landete die 1975 geborene Norwegerin Kristin Valla 2000 einen Überraschungserfolg nicht nur in ihrem Heimatland. Nach einem weiteren Roman galt sie als vielversprechende junge Autorin, doch kam ihre Schriftstellerinnenkarriere mit ihrer Heirat, den beiden Söhnen und Jobs als Kulturjournalistin und Moderedakteurin zum Erliegen:

"Eigentlich fehlte mir das Schreiben nicht. Ich war nicht unzufrieden, nicht frustriert. Im Gegenteil, oft empfand ich eine tiefe Dankbarkeit für meine Familie, für unser Zuhause und unser Leben." (S 10)

Selbst als sie ihre Tätigkeit bei Aftenposten aufgab, um als Freiberuflerin mehr Zeit für literarisches Schreiben zu haben, gelang ihr kein weiteres Buch. Einerseits hielt sich die Inspiration nicht an Arbeitszeiten, andererseits gab es in der Osloer Familienwohnung zwar Kinderzimmer, aber keine Schreibstube. Inspiriert vom bahnbrechenden feministischen Essay "A Room of One’s Own" von Virginia Woolf aus dem Jahr 1929, der Geld und ein eigenes Zimmer als Grundvoraussetzungen für weibliches Schreiben fordert, verwandelte Kristin Valla ihre Trauer über die Schreibblockade in einen Befreiungsschlag:

"In dem Jahr, in dem ich einundvierzig wurde, kaufte ich ein Haus im Dorf Roquebrun im Südwesten Frankreichs, vierzig Kilometer vom Mittelmeer entfernt. […] Das Haus gehörte nur mir." (S. 7/8)

Mit der über 2000 Kilometer entfernten Immobilie wäre Virginia Woolfs zweite Forderung erfüllt gewesen, hätte sich ihr Zustand als weniger desolat erwiesen. Doch anstatt mit marodem Charme zu bezaubern, führte jeder erneute Besuch zu Tränenausbrüchen bei der zunehmend verzweifelten Besitzerin.

Katalysator statt Schreibstube
Fast acht Jahre mit und vielen Tiefpunkten und neuen Krediten brauchte es, bis Schimmelbefall, wiederkehrende Wassereinbrüche, Termitenschäden, instabile Decken und aufgequollene Türen behoben waren. Die Kämpfe mit Handwerkern lesen sich längst nicht so amüsant wie beim englischen Kollegen Peter Mayle in "Mein Jahr in der Provence", der ebenfalls ein südfranzösisches Haus renovierte. An Schreiben war in Roquebrun kaum zu denken, und doch entstand nach über zehn Jahren der neue Roman "Das Haus über dem Fjord", der 2019 in Norwegen, 2022 in Deutschland zu Kristin Vallas literarischem Comeback führte. Dabei erwies sich das französische Steinhaus als Katalysator für das Schreiben in Oslo:

"Bei jeder Entscheidung, vor die ich gestellt wurde, wuchsen Ambitionen und Arbeitslust und damit auch der Umfang des Romans, den ich schrieb." (S. 164)

Der Blick in andere Schreibstuben
Hätte sich Kristin Valla auf ihre eigenen Erfahrungen beschränkt, es wäre mir zu wenig gewesen. Ihre Unentschlossenheit, die verkrampfte Unzufriedenheit und die kaum vorhandenen Auseinandersetzungen mit ihrer Vielfliegerei und den Auswirkungen ihrer Abwesenheiten auf ihre tolerante Familie strapazierten meine Geduld. Wirklich interessant und lesenswert wird diese Buch jedoch durch Beiträge über eine erstaunliche Vielzahl erfolgreicher Autorinnen und ihre Schreiborte: Sigrid Undset, Amalie Skram, Leïla Slimani, Marguerite Duras, Chimamanda Adichie, Agatha Christie, Tania Blixen, Daphne du Maurier, Selma Lagerlöf, Vita Sackwell-West, Tania Blixen, Annette von Droste-Hülshoff, Toni Morrisen und natürlich Virginia Woolf, um nur einige zu nennen. Diese gekonnt integrierten, mal kurzen, mal längeren Einschübe stellen Kristin Vallas Projekt in einen größeren Zusammenhang. Besonders anrührend fand ich drei der Schreibbiografien: Halldis Moren Vesaas blieb, anders als ihr erfolgreicher Mann Tarjei Vesaas, auf dem Familienhof Midtbø in Telemark 20 Jahre ohne eigenes Schreibzimmer. Serine Regine Normann war die erste erfolgreiche nordnorwegische Schriftstellerin und schrieb zeitweise versteckt in einer Höhle. Die fünffache alleinerziehende Mutter und Sozialhilfeempfängerin Buchi Emecheta aus Nigeria erfüllte sich schreibend den Traum vom eigenen Haus in London.

Eine überwiegend unterhaltsame und sehr informative Mischung aus Autobiografie und Sachbuch in der gewohnt souveränen Übersetzung von Gabriele Haefs.

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Veröffentlicht am 01.04.2025

Einschnitte

Halbinsel
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Das Daumendrücken war erfolgreich: Völlig zurecht wurde Kristine Bilkau, Journalistin und für mich eine der wichtigsten zeitgenössischen Autorinnen im deutschen Sprachraum, für ihren vierten Roman "Halbinsel" ...

Das Daumendrücken war erfolgreich: Völlig zurecht wurde Kristine Bilkau, Journalistin und für mich eine der wichtigsten zeitgenössischen Autorinnen im deutschen Sprachraum, für ihren vierten Roman "Halbinsel" mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2025 in der Kategorie Belletristik ausgezeichnet.

Mutter und Tochter
Die nicht näher benannte titelgebende "Halbinsel" liegt im nordfriesischen Wattenmeer. Hier wohnt in eigenem Häuschen in einem 1300-Seelen-Dorf die Ich-Erzählerin, Bibliothekarin und Endvierzigerin Annett, die nach dem frühen, plötzlichen, schlecht verarbeiteten Tod ihres Partners Johan die gemeinsame Tochter Linn alleine großgezogen hat. Beide haben nach dem Schicksalsschlag perfekt funktioniert, Annett in ihrer Rolle als fürsorgliche, behütende, Schlimmes fernhaltende Mutter und Versorgerin, Linn durch Ehrgeiz, der sich schon als Kleinkind manifestierte, als sie mit anderthalb Jahren jede Treppe alleine hochkletterte. Inzwischen hat Linn zielstrebig zuerst das Abitur, dann diverse Praktika in europäischen Waldprojekten und schließlich ein Studium der Umweltwissenschaften mit dem Master in Lund abgeschlossen.

Ein Sommer zu zweit
Mit Linns erstem, gutbezahlten Job in einer Berliner Beratungsfirma für die Förderung und Finanzierung von Umweltprojekten scheinen sich die beiderseitigen Erwartungen zu erfüllen. Annett ist froh, die finanzielle Herausforderung gemeistert zu haben und blickt voller bewunderndem Stolz auf die erfolgreiche Tochter, Linn will sich mit Idealismus und Knowhow für die Umwelt engagieren. Alles spricht dafür, dass sie Karriere machen wird, anders als Annett, die durch die frühe Schwangerschaft und den Umzug von Kiel aufs Land eigene berufliche Hoffnungen zugunsten der Familie aufgab. Doch dann bricht Linn bei einem Vortrag zusammen. Aus einer Woche zuhause an der Nordsee wird ein ganzer langer Sommer, in dem Mutter und Tochter wieder zueinanderfinden und ihre Beziehung auf eine neue Grundlage stellen müssen. Für Annett gilt es, sich ihren Ängsten und der Leerstelle in ihrem Leben zu stellen, ihre Erziehungsgrundsätze kritisch zu überdenken, ihre Zukunft zu planen, Antriebslosigkeit und Menschenscheu zu bekämpfen und zu lernen, ihren eigenen Fähigkeiten, vor allem aber denen Linns zu vertrauen.

Hat sie ihrer Tochter zu wenig Freiheit gewährt, sie stattdessen mit ihrer Fürsorge erdrückt? Hat sie ihre eigenen unerfüllten Hoffnungen auf die Tochter projiziert? Warum kann sie so schwer mit Linns Sinnkrise und ihrem Wunsch nach einer Pause umgehen, was ihr Linn zum Vorwurf macht?

"Zum ersten Mal, zum allerersten Mal ist es so, dass ich nicht weiterkomme. Dass ich nicht zurechtkomme. Und du erträgst das nicht." (S. 100)

Existenzielle Fragen
Halbinsel ist einerseits eine hochinteressante Mutter-Tochter-Geschichte über Generationenunterschiede, veränderte Lebensvorstellungen und erdrückende Erwartungen mit Gedanken, die mir als Mutter erwachsener Töchter sehr nah sind. Andererseits geht es um die Bedrohungen durch den Klimawandel, die aufs Spiel gesetzte Zukunft und die Verlogenheit des CO2-Emissionshandels, bei der Linn nicht mehr mitspielen möchte:

"Darum ging es mir wohl, ich wollte zeigen, welchen unglaublichen Aufwand wir betreiben, um uns zu belügen und belügen zu lassen." (S. 146)

Den perfekten Rahmen für die beiden eng miteinander verwobenen Themen bildet die karge, sensible, durch Wind und Meer ständig im Umbruch befindliche Landschaft und Natur, ergänzt durch literarische und historische Bezüge. Wie immer bei Kristine Bilkau bleibt genug Spielraum für eigene Gedanken.

Dies zusammen macht den ruhig, linear, ohne Perspektivwechsel erzählten, einerseits melancholischen, andererseits auch hoffnungvollen Roman mit seiner beeindruckend präzisen, aufs Notwendigste reduzierten Sprache so absolut lesenswert und fraglos preiswürdig.

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Veröffentlicht am 10.03.2025

Ein bezauberndes musikalisches Liebesmärchen

Für Polina
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Kaum auf der Welt, schmiegen sich der runzlig-rote Hannes und die flaumig-dunkle Polina „wie zwei Maulwurfsbabys“ (S. 16) aneinander. Ihre alleinerziehenden, überglücklichen Mütter sind Zimmergenossinnen ...

Kaum auf der Welt, schmiegen sich der runzlig-rote Hannes und die flaumig-dunkle Polina „wie zwei Maulwurfsbabys“ (S. 16) aneinander. Ihre alleinerziehenden, überglücklichen Mütter sind Zimmergenossinnen in einer Hannoveraner Entbindungsklinik und fortan beste Freundinnen. Fritzi Prager steht kurz vor dem Abitur und begräbt ihren Traum vom Jura-Studium, die türkischstämmige Güneş holt auf der Abendschule ihr Abitur nach und beide putzen nun gemeinsam Netto-Markt. Fritzi findet ein 90-Quadratmeter-Zimmer in einer halbverfallenen Villa im Bissendorfer Moor beim schrulligen, 60-jährigen Ex-Klavierstudenten und Möchtegernschriftsteller Heinrich Hildebrand, der sich widerwillig von ihr und Hannes als Mietern überzeugen lässt. Nachdem auch Polina sein „Gletscherherz“ (S. 33) zum Schmelzen gebracht hat, sind sie und Güneş häufige Besucherinnen in der Moorvilla und die grundverschiedenen Kinder wachsen wie Geschwister auf. Hannes ist still, verträumt, langsam und beinahe lethargisch, Polina laut, wach und lernt schnell. Sie ist Hannes in allen Belangen überlegen, bis der Achtjährige Hildebrands altes Klavier entdeckt:

"Er fühlte das Instrument, bevor er es verstand." (S. 43)

Mit Hildebrands Unterricht macht das musikalische Wunderkind schnelle Fortschritte:

"So dömelig der Junge mit allem anderen war, so schnell begriff er am Klavier." (S. 45)

Und noch etwas hat Hannes Polina als Dreizehnjähriger voraus: Er lernt seinen Vater kennen, während sie dauerhaft unter dieser Leerstelle leidet.

Ein Ziel gerät aus dem Blick
Auch wenn Polina sich vorläufig – trotz Hannes' für sie komponierter Klaviersonate „Für Polina“ – anderweitig verliebt, hätte alles gut werden können, doch nach einem Drittel des Romans hat Hannes verloren, was sein Leben ausmacht. Ans Klavier mag er sich nicht mehr setzen, doch weil er nicht ganz davon lassen kann, wird er trotz seines ungeeigneten Körperbaus Klavierträger in Hamburg. Das Schicksal beschert ihm einen hünenhaften Arbeitskollegen, der zum Freund wird, eine Lebenspartnerin und eine trügerische Alltagsroutine:

"Er vermisste die Musik nicht, sie war ja noch da, auch wenn es nicht seine war, die erklang. Wenn er genug arbeitete, gelang es ihm, diese Lüge zu glauben." (S. 137)

Seine übermächtige Leerstelle bleibt Polina, sein Ausdrucksmittel Töne. Als er sich eines Tages spontan auf der Straße ans Klavier setzt und ein Video davon viral geht, könnte sein in Vergessenheit geratenes Ziel plötzlich wieder näherrücken…

Einfach verzaubern lassen!
Man kann "Für Polina" mit dem strengen Blick des Feuilletons beurteilen, eine Verletzung der Kitschgrenze, fehlenden Raum für Fantasie, statische Charaktere oder Überkonstruktion kritisieren und sich den Zauber, der sich bei mir ab dem ersten Satz einstellte, dadurch gründlich vermiesen. Arme Kritikerinnen und Kritiker! Glücklicherweise ging es mir völlig anders. Zwar meide ich sonst Liebesromane, besonders, wenn die pastelligen Cover eine Frau von hinten zeigen, aber mit dieser an ein Märchen erinnernden, manchmal aus der Zeit gefallenen Liebes- und Freundschaftsgeschichte hatte mich der 1985 geborene, für seine Reportagen vielfach ausgezeichnete ehemalige Spiegel-Journalist Takis Würger sofort am Haken. Ein bisschen Kitsch darf sein, wenn er, wie hier, immer rechtzeitig ironisch gebrochen oder, wie der Titel des Videos, eindeutig Satire ist. Meiner Fantasie bietet das gelungene Ende reichlich Platz und die von seinen Freunden unterstützte Wandlung Hannes‘ vom Objekt zum Subjekt war mir Entwicklung genug. Die geschickte Romankonstruktion mit linearer, leichtfüßiger Erzählweise, Wendungsreichtum, urigen Nebenfiguren, gekonnt platzierten Zeitsprüngen und Details zum Klavierträger- sowie Klavierstimmerhandwerk hat mir ausgezeichnet gefallen.

Ich kann "Für Polina" allen empfehlen, die sich gerne von einem gut geschriebenen, keinesfalls trivialen, dafür hoffnungsvollen musikalischen Liebes- und Freundschaftsmärchen verzaubern lassen möchten. Bei mir hat das hervorragend geklappt.

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Veröffentlicht am 23.01.2025

Reich und verkorkst

Verlassen
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Die erfolgreiche Krimireihe der 1988 geborenen Isländerin Eva Björg Ægisdóttir spielt an verschiedenen Orten im Westen der Insel, für die allesamt die Kripo Akranes zuständig ist. Schauplatz des vierten ...

Die erfolgreiche Krimireihe der 1988 geborenen Isländerin Eva Björg Ægisdóttir spielt an verschiedenen Orten im Westen der Insel, für die allesamt die Kripo Akranes zuständig ist. Schauplatz des vierten Bandes, "Verlassen", ist Snæfellsnes (['stn̥aiːfɛlsnɛs], „Schneeberghalbinsel“). Diese in den Nordatlantik ragende lange, schmale, dünn besiedelte und geschichtenträchtige Halbinsel bietet auf einer Fläche von 1 468 km² nahezu alles, wofür Island bekannt ist: einen erloschenen Vulkan, Lavafelder, Krater, spektakuläre Klippen, Höhlen, schwarze und weiße Strände, Schluchten, Wasserfälle, Berge, Robben- und Vogelkolonien.

Risse unter der Oberfläche
In dieser spektakulären Umgebung trifft sich im November 2017 der Snæberg-Clan. Hier, wo der sagenhafte Aufstieg der Familie zu einer der reichsten, bekanntesten und einflussreichsten der Insel in Wirtschaft, Politik und Partyszene mit einem Fischereibetrieb begann, kommen die Nachfahren zum 100. Geburtstag ihres verstorbenen Vaters, Großvaters und Urgroßvaters zusammen. Standesgemäß hat man ein ganzes abgelegenes, futuristisches Luxushotel mitten im Lavafeld gemietet. Während der Alkohol an diesem draußen wie drinnen zunehmend stürmischen Wochenende in Strömen fließt, werden, angeheizt durch Alkohol, Nähe, Bosheit und alte Geheimnisse, immer größere Spannungen und Risse sichtbar:

"Um unsere Familie zu verstehen, muss man sich eine Herde Flusspferde vorstellen, die in einem viel zu kleinen Wasserloch badet; alle rempeln sich gegenseitig an. Wenn so viele Egos aufeinanderprallen, kann jede Kleinigkeit das Fass zum Überlaufen bringen." (S. 28)

Zwei Zeitebenen, mehrere Perspektiven
In zwei nahe beieinanderliegenden Zeitebenen, dem 5.11.2017, an dem eine Leiche an den Klippen gefunden wird, und den beiden Tagen davor, und aus vier Ich-Perspektiven erfahren wir, was sich zugetragen hat. Jeweils aus ihrer Sicht schildern sie die beiden Tage vor dem Leichenfund: die etwa 30-jährige Hotelangestellte Irma mit ihrer Obsession für die Jetset-Familie, die etwa gleichaltrige Petra Snæberg, eine erfolgreiche Innenausstatterin, deren 16-jährige Tochter Lea Snæberg mit ihren Social-Media-Verstrickungen und der ganz und gar nicht standesgemäße Tischler Tryggvi, seit einem Jahr Partner von Petras alkoholkranker Tante. Alle vier leiden unter alten Geheimnissen und Verletzungen, die während des Treffens stückweise zu Tage treten. Nur wenige Kapitel, die mit „Jetzt, Sonntag, 5. November 2017“ überschrieben sind, zeigen die Ermittlungsarbeit von Sævar und seinem Chef Hörður, bekannt aus den drei Vorgängerbänden "Verschwiegen" (Band 1), "Verlogen" (Band 2) und "Verborgen" (Band 3). Fans der Reihe werden deren Protagonistin vermissen: die Ermittlerin Elma. Da "Verlassen" aber zeitlich vor diesen Bänden liegt, wird auf den letzten Seiten lediglich ihr Kommen zur Polizeistation Akranes angekündigt.

Viel Island und Psychodrama, weniger Ermittlungsarbeit
Der Stammbaum vorn im Buch erleichtert die Übersicht über die zahlreichen Familienmitglieder, die sich vor allem in ihrer Überheblichkeit, ihrer Trunksucht und ihren Kommunikationsdefiziten ähneln. Echte Sympathieträgerinnen und –träger sucht man mit wenigen Ausnahmen vergeblich. Dafür bietet dieser Band wieder sehr viel isländisches Flair, immer wieder Cliffhanger, einen Spannungsbogen bezüglich der erst ganz zum Schluss aufgedeckten Identität der Leiche und vor allem die Frage, ob die Bedrohung von innen oder doch gar von außen kommt.

Ein gelungener, in sich abgeschlossener Teil der Krimireihe, mit mehr Psychodramatik in mysteriöser Atmosphäre als Ermittlungsarbeit, übertrieben alkoholgesättigt, aber unterhaltsam und spannend erzählt und mit einer für mich überraschenden Auflösung. Für den nächsten Band wünsche ich mir allerdings trotzdem ein Wiedersehen mit der sympathischen Ermittlerin Elma.

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