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Veröffentlicht am 01.08.2025

Stürme

Das Geschenk des Meeres
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In einer Winternacht des Jahres 1900 reißt der Sturm im schottischen Küstendorf Skerry nicht nur Dachschindeln und Schafe weg, fällt Bäume und zerschmettert zwei Boote, er wirft auch einen kleinen, leblos ...

In einer Winternacht des Jahres 1900 reißt der Sturm im schottischen Küstendorf Skerry nicht nur Dachschindeln und Schafe weg, fällt Bäume und zerschmettert zwei Boote, er wirft auch einen kleinen, leblos wirkenden Jungen an den Strand. Als der Fischer Joseph ihn am nächsten Morgen findet und durch das Dorf zum Pfarrhaus trägt, werden schlimmste Erinnerungen wach: Vor vielen Jahren verschwand in einer ähnlichen Nacht am Strand Moses, der kleine Sohn der Lehrerin Dorothy, die nach ihrer Ankunft aus Edinburgh immer eine Fremde und Außenseiterin blieb. Er war nachts die Treppe zum Strand hinuntergegangen und spurlos verschwunden. Die einzige Spur war ein zwischen Felsen eingeklemmter Stiefel, den damals ausgerechnet Joseph fand. Die Gerüchte über die Umstände von Moses‘ Verschwinden verstummten nie, denn kurz zuvor hatte man Joseph im heftigen Streit mit Dorothy gesehen, obwohl sich die beiden nach Dorothys Ankunft im Dorf eine Weile für alle sichtbar sehr nahestanden.

Wunschdenken und Vernunft
Da das winterliche Skerry von der Außenwelt abgeschnitten ist und im Pfarrhaus ein lang ersehntes Kind zur Welt kommt, bringt der Pfarrer den geheimnisvollen Jungen bis zur Klärung seiner Herkunft zu Dorothy, die dadurch mit voller Wucht von der Vergangenheit eingeholt wird. Während sie den stummen Jungen aufpäppelt, der ihr in fataler Weise Moses zu ähneln scheint, verschwimmen bei ihr zusehends die Grenzen zwischen Wunschdenken und Vernunft:

"In ihrem tiefsten Herzen weiß sie, dass der Junge, der dort oben liegt und schläft, ihr eigener Junge ist, der ihr zurückgegeben wurde, um alles wiedergutzumachen." (S. 264)

Der Wendepunkt
In ihrem Debütroman "Das Geschenk des Meeres" erzählt die britische Autorin Julia R. Kelly von einer verschworenen Dorfgemeinschaft, deren Zentrum der Dorfladen von Mrs Brown ist. Dort und im Wirtshaus wird zwar ständig geredet und kommentiert, aber noch viel mehr verschwiegen und verdrängt. Mit der Ankunft des rätselhaften Kindes setzt sich eine Lawine in Gang, in deren Folge sich nicht nur Dorothy und Joseph, sondern auch die anderen Bewohnerinnen und Bewohner von Skerry endlich der schmerzhaften Vergangenheit und ihrer vermeintlichen oder tatsächlichen Schuld stellen müssen – mit der Aussicht auf Heilung.

Damals und jetzt
Die Abschnitte im Buch mit dem von Franziska Neubert wunderbar passend gestalteten Holzschnitt auf dem Cover sind abwechselnd mit „Damals“ und „Jetzt“ überschrieben, jeweils unterteilt in kurze Kapitel aus unterschiedlichen Perspektiven. Stück für Stück werden Geheimnisse gelüftet, Handlungsfäden glaubhaft verknüpft und erscheinen Figuren in verändertem Licht. Neben so tragischen Themen wie Verlust, Trauer, Schuld, Vergebung, Eifersucht, Missgunst, unerfüllte Liebe, glücklose Ehen und häusliche Gewalt, um nur einige zu nennen, standen für mich die weiblichen Charaktere und vor allem das Thema Mutterschaft in vielen unterschiedlichen Facetten im Mittelpunkt. Vor dem stimmungsvollen Hintergrund einer von Naturgewalten beherrschten Landschaft und einer wie ein Chor raunenden Dorfgemeinschaft erzählt Julia R. Kelly mit viel Feingefühl und Empathie eine spannende Geschichte voller Melancholie über Wendepunkte, darüber, was war, und was hätte sein können, und über Dynamiken in einer abgeschotteten Gemeinschaft.

Ich habe den gut geschriebenen, virtuos komponierten und von Claudia Feldmann flüssig übersetzten Roman sehr gerne gelesen und mich bestens damit unterhalten.

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Veröffentlicht am 31.07.2025

Hinter der grauen Fassade

Midwatch – Schule der unerwünschten Mädchen
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Drei Mädchen landen am gleichen Tag im gefürchteten Midwatch-Institut für Waisen, Ausreißerinnen und unerwünschte Mädchen: Maggie Fishbone vom Waisenhaus in einem nahen Fischerort als Strafe für angeblich ...

Drei Mädchen landen am gleichen Tag im gefürchteten Midwatch-Institut für Waisen, Ausreißerinnen und unerwünschte Mädchen: Maggie Fishbone vom Waisenhaus in einem nahen Fischerort als Strafe für angeblich rüpelhaftes Benehmen, Nell Wozniak mit ihrer Ratte Spike, die ihrem Stiefvater zu viel liest, und Sofie Zarescu, die mit ihrer gebrochenen Hand für ihren Zirkus nutzlos geworden ist. Das Internat gilt als unbarmherzig strenge Anstalt und grauenvolle Institution zur Disziplinierung, doch werden die Mädchen ebenso überrascht wie die Leserinnen. Hinter der grauen Fassade verbirgt sich ein höchst abenteuerlicher Ort, dessen wundervolle Leiterin, Miss Mandely, im Gegensatz zum Waisenhausinspektor nichts von Lieblosigkeit, Zwangsmaßnahmen, Haferschleim und Näharbeiten hält:

"Ihr seid alle drei willkommen. Ihr seid jetzt hier zu Hause und ich hoffe sehr, dass ihr hier glücklich werdet. Glücklich und äußerst nützlich." (S. 29)

Stattdessen wird Unterricht in Fächern wie Morsen, Tresorknacken, Knotentechniken, Verstecken, Aushecken, Automobilreparatur, Sprachen oder Landkartenlesen erteilt, kurz: „Nützliche Dinge, die jedes Mädchen wissen sollte“, wie sie in Miss Mandelys in Teilen abgedrucktem Ratgeber nachzulesen sind. Diese Fähigkeiten sind für die Schülerinnen unabdingbar für ihre geheimen Undercover-Aufträge:

"Wir lösen Rätsel, kämpfen gegen Bösewichte und sorgen für Sicherheit in der Stadt.“ (S. 77)

Zwar ermitteln zunächst nur die vierte und fünfte Klasse im Fall des „Nachtmonsters“, das die Bewohnerinnen und Bewohner des wohlhabenden Nordviertels in Angst und Schrecken versetzt, aber kaum sind die drei Neuen in die erste Klasse aufgenommen, gibt es Arbeit für die Klassen eins und zwei. Der städtische Bibliothekar Dr. Entwhistle meldet das rätselhafte Verschwinden der Orchideenliebhaberin Miss Fenchurch. Eine dramatische, bisweilen höchst gefährliche Ermittlung mit vielen unerwarteten Wendung beginnt, bei der die Mädchen Mut, Grips, Teamgeist, außergewöhnliche Begabungen und in der Schule erlernte Fähigkeiten beweisen müssen.

Ein überzeugender Kinderkrimi
Der Kinderkrimi "Midwatch – Schule der unerwünschten Mädchen" der australischen Kinderbuchautorin Judith Rossell hat mich gleich in mehrfacher Hinsicht überzeugt. Nach dem überraschenden Einstieg gefiel mir besonders die Teamfähigkeit der sympathischen Mädchen beim Lösen des Falles, die ganz ohne Eitelkeiten, Neid, Mobbing, Eifersucht oder Streitereien kameradschaftlich zum Erreichen des gemeinsamen Zieles kooperieren. Für die Zielgruppe ab etwa zehn Jahren dürfte dagegen die spannende und verwickelte Krimihandlung im Vordergrund stehen, die voller Überraschungen ist. Das laut der Autorin von den 1920er-Jahren in einer US-amerikanischen Großstadt inspirierte Ambiente, angereichert durch unterirdische Geheimgänge und Zeppeline jeglicher Größe, wird in ihren mittels einer App auf dem iPad gezeichneten, zahlreichen größeren und kleineren, wie die Schrift in Blau gehaltenen Illustrationen äußerst lebendig.

Schön zu lesen ist auch, wie die Schülerinnen mit Hilfe von Miss Mandely und ihren Lehrerinnen zu starken, selbstbewussten Mädchen erzogen und auf eine eigenverantwortliche Zukunft vorbereitet werden.

Hoffentlich gibt es bald mehr Fälle mit den sympathischen Midwatch-Detektivinnen für kleine Leserinnen ab etwa neun Jahren, denn das Potential für eine Serie ist zweifellos vorhanden.

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Veröffentlicht am 15.06.2025

Das Geheimnis der rätselhaften Pietà

Was ich von ihr weiß
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Zwei Zeitebenen mit unterschiedlicher Erzählperspektive wechseln sich im 500 Seiten starken Roman "Was ich von ihr weiß" von Jean-Baptiste Andrea gekonnt ab. Die erste setzt 1986 ein. Personal erzählt ...

Zwei Zeitebenen mit unterschiedlicher Erzählperspektive wechseln sich im 500 Seiten starken Roman "Was ich von ihr weiß" von Jean-Baptiste Andrea gekonnt ab. Die erste setzt 1986 ein. Personal erzählt aus der Sicht des Abtes der abgelegenen piemontesischen Sacra di San Michele, erfahren wir von den letzten Stunden im Leben des einzigen Mitbewohners ohne Gelübde, Michelangelo Vitaliani, genannt Mimo. Der Bildhauer lebt seit etwa 40 Jahren in der Abtei, wo der Vatikan seit 1951 sein Hauptwerk, eine skandalumwitterte, rätselhafte Marmor-Pietà, im Keller vor den Augen der Öffentlichkeit versteckt hält. Während der Abt sich anhand von Unterlagen zu dem mysteriösen Kunstwerk zurückerinnert, blickt der sterbende Ich-Erzähler im zweiten Erzählstrang chronologisch auf sein bewegtes Leben bis zu seinem völligen Rückzug aus der Welt zurück.

Zwei Welten
Michelangelo Vitaliani wurde 1904 als Kind italienischer Auswanderer in Frankreich als Sohn eines Bildhauers geboren, arm, kleinwüchsig und, als wären diese Eigenschaften nicht schon Anlass genug für Spott, mit der Bürde eines monumentalen Namens. Nach dem Tod des Vaters schickte ihn seine Mutter 1916 zu einem Steinbildhauer nach Italien. Drei glückliche Umstände halfen dem jungen Mimo, die demütigenden Sklavenjahre bei einem brutalen Lehrmeister im ligurischen Bergdorf Pietra d’Alba zu überleben: seine Liebe zur Bildhauerei, Freundschaften mit etwas älteren Jugendlichen und die Bekanntschaft mit der gleichaltrigen Viola Orsini, Tochter der ortsansässigen wohlhabenden und einflussreichen Adelsfamilie. Während Mimo von einer Künstlerkarriere träumt, träumt Viola vom Fliegen. Das hochintelligente, freigeistige und vielseitig interessierte Mädchen passt nicht in ihre vorgezeichnete Rolle und will ihre Ketten sprengen. Ab dem Sommer 1918 sind Mimo und Viola unzertrennlich, allerdings heimlich, denn Mimo bleibt wegen seines sozialen Stands der Zugang zur Villa Orsini verwehrt – bis er dank von den Orsini-Brüdern vermittelten vatikanischen und faschistischen Großaufträgen in die Künstlerelite Italiens aufsteigt.

Ein Stoff mit mehr Potential
Der 1971 geborene französische Autor und Filmemacher Jean-Baptiste Andrea erzählt die Geschichte der tiefen, jedoch spannungsgeladenen Freundschaft zwischen Mimo und Viola vor dem Hintergrund der politischen Turbulenzen Italiens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Aufstieg, Machtübernahme und Fall des Faschismus. Wie bei einem Filmemacher zu erwarten, ist die Dramaturgie sorgfältig geplant und durchdacht, der Spannungsbogen um die rätselhafte Pietà wird erst spät aufgelöst und ein Rädchen greift passgenau ins andere. Allerdings ist die Erzählweise konventionell, es wird mehr geredet und erzählt als gezeigt und die klischeehaften Figuren haben wenige Ecken und Kanten, weshalb trotz ihres zu Herzen gehenden Schicksals stets eine Mauer zwischen ihnen und mir stand. Leider kommen für mich auch die politischen Bezüge, die Verantwortung des vermeintlich unpolitischen Künstlers in der Diktatur, die Rolle des Vatikans im Holocaust, zu der es nur wenige beschönigende Sätze gibt, sowie Mimos künstlerischer Entwicklungsprozess zu kurz. Mehr Zeitgeschichte und Atelier, dafür weniger Spelunke, hätte mir besser gefallen.

"Was ich von ihr weiß" ist ein leicht und flüssig zu lesendes, abgesehen von einigen Längen unterhaltsames Buch. Die Auszeichnung mit dem renommierten Prix Goncourt für den besten französischsprachigen Roman des Jahres 2023 überrascht mich allerdings, denn der Stoff hätte meiner Ansicht nach mehr Potential gehabt.

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Veröffentlicht am 30.05.2025

Ertrunkenes Sommerland

Das Echo der Sommer
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Durch die Romane "Das Leuchten der Rentiere" und "Die Zeit im Sommerlicht" der schwedisch-samischen Autorin Ann-Helén Laestadius wurde mein Interesse an der Geschichte und Kultur der Sámi, dem indigenen ...

Durch die Romane "Das Leuchten der Rentiere" und "Die Zeit im Sommerlicht" der schwedisch-samischen Autorin Ann-Helén Laestadius wurde mein Interesse an der Geschichte und Kultur der Sámi, dem indigenen Volk im Norden Europas, geweckt. Bei einer unvergesslichen Reise durch den finnischen Teil Lapplands und die norwegische Finnmark im Sommer 2024 gehörte der Besuch des großartigen samischen Museums und Naturzentrums Siida in Inari zu den vielen Höhepunkten.

Deshalb habe ich mich sehr gefreut, dass der Verlag S. Fischer nun den Debütroman der schwedisch-samischen Autorin Elin Anna Labba mit einem so wunderschönen Cover veröffentlicht hat. Die Journalistin erhielt 2020 den renommierten Augustpreis für ihr bisher nicht ins Deutsche übersetzte Sachbuch "Herrerna satte oss hit" (deutsch: Die Herren brachten uns hierher) über die Zwangsumsiedlung der Sámi bei der Aufteilung ihres angestammten Siedlungsgebietes zwischen den nordischen Ländern und Russland. Auf Interviews, die sie für ihr Sachbuch führte, sowie auf realen Ereignissen basiert nun ihr Debütroman.

In "Das Echo der Sommer" geht es nicht um den Verlust samischer Heimat durch neu gezogene Landesgrenzen, sondern durch die Nutzung von Wasserkraft zur Stromgewinnung für die Industrialisierung Schwedens im 20. Jahrhundert. Insgesamt viermal wird die samische Nomadin Rávdná Opfer der Überflutung ihres Dorfes.

Der Preis des billigen Stroms
Als der Roman 1942 einsetzt, ist ihre Torfkote im „Sommerland“ am Fuße des Hochfjälls, in der sie nach dem Tod ihres Mannes mit ihrer 13-jährigen Tochter Iŋgá und ihrer Schwester Ánne die Sommer verbringt, bereits zum dritten Mal ohne Vorwarnung, Entschädigung oder Entschuldigung des schwedischen Staates überflutet:

"Der See stand in ihrem Zuhause." (1. Satz, S. 15)

Ihr Besitz ist genau wie der Wald „ertrunken“, der lebensnotwendige Fischfang kaum noch möglich. Wieder werden provisorische Zeltkoten errichtet, wird das Dorf am Hang weiter auseinandergezogen und geht Gemeinschaft verloren. Wütend steigt Rávdná noch höher ins Fjäll und baut, obwohl es für die unter behördlicher Vormundschaft stehenden Sámi gesetzlich verboten ist und Sámi keine Hauskredite bekommen, ein eckiges Haus mit Fenstern.

Rávdná, die das „Sommerland“ und die Freiheit dort liebt und die Wanderung mit den Rentieren nach Westen im Frühling kaum erwarten kann, fühlt sich zunehmend fremd.

Im zweiten Teil springt der Roman zunächst ins Jahr 1968. Wieder soll der Staudamm ohne Rücksicht auf die Nomaden erhöht werden. Aus dem See wird ein Ozean.

Unbedingt lesenswert
Elin Anna Labba erzählt in ihrem erschütternden Roman von Rassismus, kulturellem Unverständnis, diskriminierender Gesetzgebung und Missachtung der Rechte der Ureinwohner durch den schwedischen Staat und die Mehrheitsbevölkerung. Gleichzeitig ist "Das Echo der Sommer" ein Roman über drei Frauen, die grundverschiedene Strategien angesichts von schmerzlichem Heimatverlust, Trauer, Ausgeliefertsein, Diskriminierung und Naturzerstörung entwickeln und zeigt den Preis des Widerstands (Rávdná) genauso wie den von Schweigen (Ánne) und Anpassung (Iŋgá).

Durch die Verwendung nordsamischen Vokabulars erhält der Roman eine besondere Authenzität, überraschenderweise ohne das Textverständnis zu schmälern, wenn man sich darauf einlässt. Wunderschöne Sprachbilder stechen poetisch hervor, wie das über die tief verwurzelte nomadische Unrast bis ins hohe Alter:

"Jeder wusste, dass im Frühling das Altersheim zu einer Rentierglocke wurde, die läutete und läutete." (S. 437)

Sprachliche Höhepunkte sind auch die kleinen Einschübe mit der ebenso melancholischen wie melodischen Stimme des Sees, wie der ganze Romane äußerst einfühlsam übersetzt von Hanna Granz:

"Ich wachse, denn die mich groß wollen,
kennen kein Ende.
Nie haben sie eines gekannt." (Schlusssätz S. 461)

Elin Anna Labba lebt inzwischen in Norwegen, wo die klimatischen Bedingungen für die Rentierhaltung besser und das Verständnis für die Sámi größer sind als in Schweden. Ich freue mich sehr auf weitere Romane von ihr.

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Veröffentlicht am 16.04.2025

Weibliche Schreibstuben

Ein Raum zum Schreiben
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Mit ihrem Debütroman "Muskat" landete die 1975 geborene Norwegerin Kristin Valla 2000 einen Überraschungserfolg nicht nur in ihrem Heimatland. Nach einem weiteren Roman galt sie als vielversprechende junge ...

Mit ihrem Debütroman "Muskat" landete die 1975 geborene Norwegerin Kristin Valla 2000 einen Überraschungserfolg nicht nur in ihrem Heimatland. Nach einem weiteren Roman galt sie als vielversprechende junge Autorin, doch kam ihre Schriftstellerinnenkarriere mit ihrer Heirat, den beiden Söhnen und Jobs als Kulturjournalistin und Moderedakteurin zum Erliegen:

"Eigentlich fehlte mir das Schreiben nicht. Ich war nicht unzufrieden, nicht frustriert. Im Gegenteil, oft empfand ich eine tiefe Dankbarkeit für meine Familie, für unser Zuhause und unser Leben." (S 10)

Selbst als sie ihre Tätigkeit bei Aftenposten aufgab, um als Freiberuflerin mehr Zeit für literarisches Schreiben zu haben, gelang ihr kein weiteres Buch. Einerseits hielt sich die Inspiration nicht an Arbeitszeiten, andererseits gab es in der Osloer Familienwohnung zwar Kinderzimmer, aber keine Schreibstube. Inspiriert vom bahnbrechenden feministischen Essay "A Room of One’s Own" von Virginia Woolf aus dem Jahr 1929, der Geld und ein eigenes Zimmer als Grundvoraussetzungen für weibliches Schreiben fordert, verwandelte Kristin Valla ihre Trauer über die Schreibblockade in einen Befreiungsschlag:

"In dem Jahr, in dem ich einundvierzig wurde, kaufte ich ein Haus im Dorf Roquebrun im Südwesten Frankreichs, vierzig Kilometer vom Mittelmeer entfernt. […] Das Haus gehörte nur mir." (S. 7/8)

Mit der über 2000 Kilometer entfernten Immobilie wäre Virginia Woolfs zweite Forderung erfüllt gewesen, hätte sich ihr Zustand als weniger desolat erwiesen. Doch anstatt mit marodem Charme zu bezaubern, führte jeder erneute Besuch zu Tränenausbrüchen bei der zunehmend verzweifelten Besitzerin.

Katalysator statt Schreibstube
Fast acht Jahre mit und vielen Tiefpunkten und neuen Krediten brauchte es, bis Schimmelbefall, wiederkehrende Wassereinbrüche, Termitenschäden, instabile Decken und aufgequollene Türen behoben waren. Die Kämpfe mit Handwerkern lesen sich längst nicht so amüsant wie beim englischen Kollegen Peter Mayle in "Mein Jahr in der Provence", der ebenfalls ein südfranzösisches Haus renovierte. An Schreiben war in Roquebrun kaum zu denken, und doch entstand nach über zehn Jahren der neue Roman "Das Haus über dem Fjord", der 2019 in Norwegen, 2022 in Deutschland zu Kristin Vallas literarischem Comeback führte. Dabei erwies sich das französische Steinhaus als Katalysator für das Schreiben in Oslo:

"Bei jeder Entscheidung, vor die ich gestellt wurde, wuchsen Ambitionen und Arbeitslust und damit auch der Umfang des Romans, den ich schrieb." (S. 164)

Der Blick in andere Schreibstuben
Hätte sich Kristin Valla auf ihre eigenen Erfahrungen beschränkt, es wäre mir zu wenig gewesen. Ihre Unentschlossenheit, die verkrampfte Unzufriedenheit und die kaum vorhandenen Auseinandersetzungen mit ihrer Vielfliegerei und den Auswirkungen ihrer Abwesenheiten auf ihre tolerante Familie strapazierten meine Geduld. Wirklich interessant und lesenswert wird diese Buch jedoch durch Beiträge über eine erstaunliche Vielzahl erfolgreicher Autorinnen und ihre Schreiborte: Sigrid Undset, Amalie Skram, Leïla Slimani, Marguerite Duras, Chimamanda Adichie, Agatha Christie, Tania Blixen, Daphne du Maurier, Selma Lagerlöf, Vita Sackwell-West, Tania Blixen, Annette von Droste-Hülshoff, Toni Morrisen und natürlich Virginia Woolf, um nur einige zu nennen. Diese gekonnt integrierten, mal kurzen, mal längeren Einschübe stellen Kristin Vallas Projekt in einen größeren Zusammenhang. Besonders anrührend fand ich drei der Schreibbiografien: Halldis Moren Vesaas blieb, anders als ihr erfolgreicher Mann Tarjei Vesaas, auf dem Familienhof Midtbø in Telemark 20 Jahre ohne eigenes Schreibzimmer. Serine Regine Normann war die erste erfolgreiche nordnorwegische Schriftstellerin und schrieb zeitweise versteckt in einer Höhle. Die fünffache alleinerziehende Mutter und Sozialhilfeempfängerin Buchi Emecheta aus Nigeria erfüllte sich schreibend den Traum vom eigenen Haus in London.

Eine überwiegend unterhaltsame und sehr informative Mischung aus Autobiografie und Sachbuch in der gewohnt souveränen Übersetzung von Gabriele Haefs.

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