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Veröffentlicht am 30.01.2022

Literaturhistorisch interessant

Die Akte Klabautermann
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REZENSION – Vor 75 Jahren erschien die zensierte Erstausgabe des Romans „Jeder stirbt für sich allein“ - nur wenige Wochen nach dem frühen Tod seines Autors, des deutschen Schriftstellers Hans Fallada ...

REZENSION – Vor 75 Jahren erschien die zensierte Erstausgabe des Romans „Jeder stirbt für sich allein“ - nur wenige Wochen nach dem frühen Tod seines Autors, des deutschen Schriftstellers Hans Fallada (1893-1947), der eigentlich Rudolf Ditzen hieß. In seiner unzensierten Originalfassung wurde Falladas letztes, inzwischen in 30 Sprachen übersetztes Werk erstmals 2011 im Aufbau Verlag veröffentlicht. Von der Wiederentdeckung dieses zwischen 1962 bis 2016 fünf Mal verfilmten Bestsellers war der Frankfurter Journalist Oliver Teutsch (52) nach eigener Aussage so fasziniert, dass er schon 2014 begann, über die „Entstehung eines Weltbestsellers“ zu recherchieren, wie der Untertitel seines im Januar beim Axel Dielmann Verlag veröffentlichten Debütromans „Die Akte Klabautermann“ heißt.
Eigentlich hatte Rudolf Ditzen alias Hans Fallada den Roman „Jeder stirbt für sich allein“ gar nicht schreiben wollen. Oliver Teutsch schildert in lockerem Sprachstil die Zwänge und Nöte der letzte Monate im Leben des alkoholkranken und morphiumsüchtigen Schriftstellers, der gerade zum zweiten Mal verheiratet mit seiner wesentlich jüngeren Ehefrau Ulla im September 1945 aus der Mecklenburgischen Provinz ins zerbombte Berlin umgezogen ist. Der Vorsitzende des neuen Kulturbundes, der kommunistische Lyriker Johannes R. Becher, umwirbt den bekannten Schriftsteller, obwohl andere dem in Deutschland gebliebenen Fallada der Nähe zum Nazi-Regime bezichtigen. Er besorgt ihm ausgerechnet in dem nur sowjetischen Offizieren und wenigen deutschen Funktionären vorbehaltenen „Städtchen“ ein Haus, verschafft ihm Lebensmittelkarten und für die Arbeit notwendiges Schreibpapier. Becher ist es schließlich auch, der Ditzen im November 1945 die Gestapo-Akte „Klabautermann“ über ein Berliner Ehepaar gibt, das gemeinsam zwischen 1940 und 1942 Postkarten mit Aufrufen gegen Hitler verteilte, dann aber denunziert und hingerichtet worden war. Ditzen solle daraus bis Januar einen Roman für den neuen Aufbau Verlag machen. „Es geht hier um den Alleingang zweier kleiner Individuen gegen das große System. … So was interessiert sie doch.“ Mit diesen Worten versucht man Ditzen zu ködern. Doch der Schriftsteller schiebt die Arbeit vor sich her, obwohl er das Honorar dringend benötigt: „Ich bin ein Menschensammler. Politik hingegen hat mich nie interessiert.“ Erst ein finanziell verlockenderer Vertrag mit der Filmgesellschaft DEFA gibt ihm den Anstoß.
In einem „Schaffensrausch“ schrieb Ditzen den Roman „Im Namen des Deutschen Volkes – Streng geheim“ in nur 24 Tagen nieder, änderte dann den Titel in „Jeder stirbt für sich allein“ und lieferte das Manuskript Ende November beim Aufbau-Verlag ab. Nur sechs Wochen später, am 13. Januar 1947, wurde er ins städtische Krankenhaus Pankow eingeliefert, wo er am 5. Februar 1947 „für sich allein“ im Einzelzimmer ganz am Ende eines Krankenhausflures starb.
Mit seinem Romandebüt „Die Akte Klabautermann“ ist Oliver Teutsch ein literaturhistorisch interessantes und durchaus lesenswertes Buch gelungen, um mehr über den Menschen Hans Fallada, den Teutsch im Buch konsequent nur Rudolf Ditzen nennt, zu erfahren, rollt doch Teutsch in Rückblicken und einzelnen Szenen dessen ganzes Leben auf. Für Teutsch ist es deshalb überaus bedauerlich, dass nur wenige Wochen zuvor ausgerechnet der Vorsitzende der Hans-Fallada-Gesellschaft, der Publizist Michael Töteberg, mit „Falladas letzte Liebe“ im November ein Buch über genau dasselbe Thema und Falladas letzten Lebensabschnitt in Berlin veröffentlicht hat. So bleibt es nicht aus, dass sich bestimmte Szenen und gelegentlich sogar Dialoge in beiden Büchern gleichen. Doch es gibt bei Teutsch auch manch eigene Szene wie das Gespräch über die Gründung der DEFA, die Fahrt Bechers mit Fallada nach Schwerin mit einem eindrucksvollen Gespräch über ihre Jugendjahre oder die höchst interessante Debatte im Hause Wilhelm Piecks über Unterschied und Wertigkeit innerer und äußerer Emigration deutscher Schriftsteller.
Kritisch mag man vielleicht anführen, dass Teutsch, dem Untertitel seines Romans, „Entstehung eines Weltbestsellers“ entsprechend, mehr Hintergrundfakten zu Falladas Roman hätte einbringen können. Gerade nach „Wiederentdeckung“ des Romans wären doch Hinweise auf Unterschiede zwischen der von den Kommunisten zensierten Erstfassung und dem von Fallada verfassten Original-Manuskript wichtig gewesen. Aber auch so bleibt „Die Akte Klabautermann“ ein literaturhistorisch interessanter, auch für Anhänger reiner Unterhaltungsliteratur gut lesbarer Roman. Er könnte jüngere Leser, denen der Name Hans Fallada nichts sagt, sogar motivieren, dessen gerade in vergangenen Jahren im Aufbau Verlag wieder neu erschienenen und thematisch zeitlosen Bücher zu lesen.

Veröffentlicht am 27.01.2022

Wer Fallada liebt, muss Töteberg lesen!

Falladas letzte Liebe
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REZENSION – Wer Fallada liebt, muss Töteberg lesen; wer Fallada nicht kennt, erst recht. Auf den knapp 340 Seiten seiner im November im Aufbau Verlag erschienenen Romanbiografie „Falladas letzte Liebe“ ...

REZENSION – Wer Fallada liebt, muss Töteberg lesen; wer Fallada nicht kennt, erst recht. Auf den knapp 340 Seiten seiner im November im Aufbau Verlag erschienenen Romanbiografie „Falladas letzte Liebe“ über die knapp zwei letzten Lebensjahre des vor allem in der Weimarer Republik überaus erfolgreichen Autors fasst Michael Töteberg (71) unter Verwendung umfangreichen Archivmaterials alles zusammen, was Hans Fallada (1893-1947) in seinen Stärken und Schwächen als Mensch und vor allem als Schriftsteller so besonders macht.
Ausgehend von einem als Prolog vorgeschalteten Brief der damals 24-jährigen Literatur-Studentin Christa Wolf (1929-2011) an den langjährigen Präsidenten des Kulturbundes Johannes R. Becher zur Person Falladas, beantwortet nun 70 Jahre später Michael Töteberg in seinem Buch jene Fragen Wolfs, die Becher ihr sechs Jahre nach Falladas Tod verweigerte, „da ich Fallada erst 1945 kennengelernt habe“. Tatsächlich hatte Becher den berühmten Schriftsteller in dessen letzten Monaten sehr genau kennengelernt. Immerhin war er es, der Fallada ab Ende 1945 als Hausnachbar und Geschäftspartner zur Seite gestanden, ihn in seinem Kulturbund als „Aushängeschild“ aufgenommen und ihm die ersten Aufträge nach dem Krieg bis hin zum letzten Roman „Jeder stirbt für sich allein“ vermittelt hatte, dessen Erscheinungstermin sich jetzt zum 75. Mal jährt. Ausschließlich Becher mit seinen breit gestreuten Kontakten zu deutschen Kulturschaffenden im In- und Ausland hatte es Fallada zu verdanken, überhaupt eine Zuzugsgenehmigung nach Berlin und Lebensmittelkarten für sich und seine zweite Ehefrau Ulla zu bekommen. „Becher glaubte an den Autor Fallada. Mehr als dieser an sich selbst.“
Kaum jemand anderer als Michael Töteberg dürfte nach Jahren als Mitarbeiter des Rowohlt Verlags, in dem Falladas Romane vor dem Krieg erschienen waren, sowie nach Jahren intensiver Beschäftigung mit Falladas Gesamtwerk und als Herausgeber des Buches „Hans Fallada. Ewig auf der Rutschbahn. Briefwechsel mit dem Rowohlt Verlag“ besser berufen sein, über diesen an Alkohol und Morphium zugrunde gegangenen Schriftsteller zu schreiben. Als Vorsitzender der Hans-Fallada-Gesellschaft hat Töteberg zudem direkten Zugriff auf Archivmaterial jenseits der Romane Falladas, nämlich auf persönliche Aufzeichnungen und die Privatkorrespondenz des fleißigen Briefschreibers.
„Falladas letzte Liebe“ schildert keineswegs nur dessen letzte Lebensjahre 1945 und 1946 im zerstörten Berlin, wo Fallada mit Bechers Hilfe einen Neustart versucht, der ihm mit der Veröffentlichung neuer Kurzgeschichten in der „Täglichen Rundschau“ auch halbwegs gelingt. „Berlin, das war nach zwölf Jahren Carwitz noch einmal ein neues Leben gewesen. Ein Lebensabschnitt, sein letzter, das spürte Fallada.“ Von der Alkoholsucht befreit, ist der einst gefeierte Schriftsteller zu schwach, dem Morphium zu widerstehen, zumal er an Ehefrau Ulla, die selbst stark morphiumsüchtig ist, keinen Halt findet, wie er ihn früher bei Ehefrau Suse hatte, an die er voller Selbstmitleid und Selbsterkenntnis schreibt: „Ich bin wie ein Lahmer, der bisher geführt wurde, der aber jetzt nicht nur allein gehen muss, sondern auch einen Blinden führen muss.“
Fast wirkt Tötebergs „Falladas letzte Liebe“, als sei das Buch mit seiner umfassenden Sammlung von Rückblenden auf Falladas Leben, Erinnerungen an dessen Werke und vielen Zitaten aus Falladas Briefen ein Zusammenschnitt dessen Lebens, als liefe alles unweigerlich auf diese letzten zwei Jahre zu und fände mit dem frühen Tod des Schriftstellers den unvermeidbar tragischen Abschluss. Wer Fallada bisher nicht kannte, lernt diesen begnadeten Schriftsteller in Tötebergs Buch als tragische, zwiegespaltene Persönlichkeit kennen. „Es gab immer zwei Falladas. Der eine liebte das Familienleben. Der andere wollte allein sein, unbelästigt von aller Realität.“ Fallada erscheint wie eine Figur seiner eigenen Romane. Tatsächlich steckte ja auch in jedem Fallada-Roman ein Stück von ihm selbst, wie Töteberg aufzeigt. Dies und vielmehr erfahren wir aus Tötebergs literaturwissenschaftlich höchst interessanten, trotz aller Fachkunde leicht lesbaren Romanbiografie. „Falladas letzte Liebe“ macht Appetit auf die Neuausgaben der Werke Falladas, die glücklicherweise seit einigen Jahren im Aufbau Verlag erscheinen.

Veröffentlicht am 27.01.2022

Historisch hervorragend, Spannung lässt nach

1795
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REZENSION – Man riecht förmlich den Schweiß der Bettler und Obdachlosen in ihren verrußten Absteigen und kaut mit ihnen am steinharten Brotkanten, atmet den Staub auf den von der Sommerhitze ausgedörrten ...

REZENSION – Man riecht förmlich den Schweiß der Bettler und Obdachlosen in ihren verrußten Absteigen und kaut mit ihnen am steinharten Brotkanten, atmet den Staub auf den von der Sommerhitze ausgedörrten Wegen und spürt nach heftigem Herbstregen den Unrat auf verschlammten Straßen dieser „Stadt zwischen den Brücken“, der einem beim Gehen bis an die Waden spritzt. Wie schon in den beiden ersten Bänden „1793“ und „1794“ seines historischen, insgesamt fast 1 600 Seiten umfassenden dreibändigen Thrillers um die beiden im Dienst der Stockholmer Polizeikammer ermittelnden Brüder Cecil und Emil Winge sowie ihrem Helfer, dem einarmigen Kriegsveteran und Stadtknecht Jean Michael Cardell, schafft es der schwedische Schriftsteller Niklas Natt och Dag (42) auch in seinem dritten Band „1795“, im Januar im Piper Verlag erschienen, die Atmosphäre des ausgehenden 18. Jahrhunderts im historischen Stockholm faszinierend und wortgewaltig wiederzugeben. Großen Anteil am Erfolg der deutschen Ausgabe hat zweifellos Übersetzerin Leena Flegler (45), die sich in teils antiquiert erscheinender Wortwahl und im Stil der bildgewaltigen Sprache des Originals beeindruckend anzupassen vermag.
Schweden und vor allem die Hauptstadt des Königreichs befindet sich im spürbaren Umbruch zwischen Absolutismus und Aufklärung, zwischen mittelalterlichen Werten und aus Frankreich überschwappenden revolutionären Gedanken. Die Rechtsprechung liegt noch bei den jeweiligen Machtinhabern, während der Einzelne kaum Rechte hat. In „1795“ findet die Suche der Ermittler nach Gerechtigkeit im eher rechtlosen Stockholm ihren Abschluss: Emil Winge und Cardell sind noch immer auf der Jagd nach dem blutdürstigen Triebtäter Tycho Cetan, einer Charakter-Mischung aus Genie und Wahnsinn, der in den engen Gassen der Stadt untergetaucht ist. Verborgen bleibt auch die junge Mutter Anna Stina Knapp, die beim Brand des Kinderheims ihre beiden Kinder verlor und seitdem traumatisiert ist. Winge und Cardell müssen sie finden, um sie beschützen zu können. Denn die Knapp besitzt eine Namensliste von Gustavianern, jenen Anhängern des 1792 ermordeten Königs Gustav III., die sich gegen den machtbesessenen Regenten Reuterholm verschworen haben. Der skrupellose Vormund des noch unmündigen Kronprinzen Gustav IV. Adolf will vor dessen Volljährigkeit mit aller Gewalt in den Besitz dieser Liste kommen, um seine Gegner ausschalten zu können.
Vielleicht liegt es an der heute leider verbreiteten Mode, einen Roman von vornherein auf mehrere Bände aufzuteilen, dass auch bei dieser Trilogie die eigentliche Kriminalhandlung von Band zu Band immer stärker in den Hintergrund des Geschehens rückt, deshalb nur der erste Band „1793“ völlig zu Recht neben anderen Preisen mit dem Schwedischen Krimipreis für das beste Spannungsdebüt ausgezeichnet wurde. Denn im dritten Band wirkt die Handlung gestreckt und büßt deutlich an Dramatik ein, was echte Thriller-Leser enttäuschen dürfte und manche sogar schon beim zweiten Band bemängelt haben.
Andererseits dürfte auch „1795“ bei historisch interessierten Leser wieder einen überaus positiven und sicher nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Es ist faszinierend, wie es dem Autor in seinen auf intensivem Quellenstudium beruhenden und gelegentlich in kleinste Einzelheiten gehenden Schilderungen gelingt, beim Leser das alte Stockholm des ausgehenden 18. Jahrhunderts so realistisch, manchmal auch schockierend lebendig werden zu lassen: Wir steigen mit den Protagonisten in die Tiefen der Unterbühne des Theaters und tanzen im prächtig ausgestatteten Opernhaus, beschmutzen uns in den Aborten der Stadt und versinken tief in der städtischen Latrine. Irritierend mögen für deutsche Leser ohne Kenntnis Stockholms die vielen Straßen-, Gebäude- und Quartiersnamen sein. Doch wer will, kann beim Lesen die charakterlich beeindruckend getroffenen Romanfiguren mit dem Finger auf dem Stadtplan begleiten.
Während sich Niklas Natt och Dag nach eigener Aussage beim Schreiben von Umberto Ecos Roman „Der Name der Rose“ inspirieren ließ, erinnerte mich seine Trilogie stark an die Romanreihe des französischen Historikers Jean-François Parot (1946–2018), der seinen Commissaire Nicolas Le Floch in den 1760er Jahren zur Anfangszeit der Kriminalistik in Paris ermitteln lässt. Manche Situationsbeschreibungen gleichen sich verblüffend im konkreten Detail und auch atmosphärisch. Wer also ein Freund historischer (Kriminal-)Romane ist, sollte die Trilogie von Niklas Natt och Dag unbedingt lesen.

Veröffentlicht am 15.01.2022

Nette Unterhaltung ohne literarische Nachhaltigkeit

Paul Temple und der Fall Max Lorraine
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REZENSION – Wohl nur die Älteren unter uns erinnern sich noch an die mehrteiligen TV-Krimis „Das Halstuch“ oder „Tim Frazer“, die in den 1960er Jahren mit einer heute unvorstellbaren Einschaltquote bis ...

REZENSION – Wohl nur die Älteren unter uns erinnern sich noch an die mehrteiligen TV-Krimis „Das Halstuch“ oder „Tim Frazer“, die in den 1960er Jahren mit einer heute unvorstellbaren Einschaltquote bis zu 93 Prozent den Begriff „Straßenfeger“ prägten. Diese und weitere TV-Krimiserien jener Zeit waren nach den später zu Romanen umgeschriebenen Büchern des britischen Schriftstellers Francis Durbridge (1912-1998) gedreht worden. In den 1970er Jahren folgten die 52 TV-Episoden „Paul Temple“, in denen der gleichnamige Kriminalschriftsteller mit Unterstützung der Journalistin Steve Trent, die später seine Ehefrau wird, als Privatdetektiv ermittelt.
Heute ist der in den 1950er bis 1970er Jahren erfolgreiche Francis Durbridge weitgehend vergessen, weshalb der Österreicher Georg Pagitz, der schon durch einige Aufsätze sich als Durbridge-Kenner ausgewiesen hat, den britischen Kriminalschriftsteller wieder in Erinnerung zu rufen versucht. Nach dem von ihm 2018 herausgegebenen Band „Paul Temple. Die verschollenen Fälle“ mit 20 von ihm übersetzten, vorher auf Deutsch noch unveröffentlichten Kurzgeschichten erschien nun im Dezember wieder beim Pidax Film- & Hörspielverlag mit „Paul Temple und der Fall Max Lorraine“ ein weiterer von Pagitz übersetzter, ebenfalls bisher nicht auf Deutsch veröffentlichter Durbridge-Krimi aus dem Jahr 1938. Das besondere an der Wiederentdeckung ist, dass dieser erste Fall aus der Paul-Temple-Krimireihe zugleich das Romandebüt des späteren Bestseller-Autors war, der bis dahin relativ erfolglos Lustspiele und Hörspiele verfasst hatte. Auch dieser erste Roman war erst nach Ablauf seiner zuvor im selben Jahr auf BBC gesendeten und unerwartet erfolgreichen Hörspielreihe als „Buch zum Thriller“ geschrieben worden, wobei sich der mehr auf Dialoge spezialisierte Durbridge für seine Romanfassung noch einen Ghostwriter zur Unterstützung geholt hatte.
Diese und andere überaus interessanten literaturhistorischen Hinweise erfährt man im Vorwort des Durbridge-Sohnes Nicholas sowie in den Vor- und Nachbemerkungen des Übersetzers, die in ihrer Ausführlichkeit den eigentlichen Reiz und literarischen Wert des Buches ausmachen. Denn der Kriminalroman allein entspricht keinesfalls den Ansprüchen heutiger Krimi-Leser. Deutlich sind Anleihen bei Edgar Wallace festzustellen wie unterirdische Geheimgänge, Falltüren oder sich unerwartet öffnende Wandverkleidungen, auf die wir von Georg Pagitz im Begleittext hingewiesen werden. Es ist unverkennbar, dass Durbridge in seinem 1938 erschienenen Debütkrimi sein sechs Jahre zuvor verstorbenes Vorbild Wallace stilistisch nachzuahmen versuchte.
Worum geht es nun in „Paul Temple und der Fall Max Lorraine“? Eine unheimliche Serie von Juwelen-Diebstählen hält Scotland Yard in Atem. Die Bande schreckt sogar vor Mord nicht zurück. Die Polizei tappt völlig im Dunkeln, weshalb die Presse fordert, endlich den bekannten Schriftsteller Paul Temple einzuschalten, der schon in einem früheren Fall seine Fähigkeit als Ermittler bewiesen hatte. Als der ermittelnde Superintendent Gerald Harvey in einem heruntergekommenen Gasthof erschossen wird, beginnt Paul Temple seine Ermittlung und findet heraus, dass Kopf der Bande ein gewisser „Diamantenfürst“ Max Lorraine ist.
„Ich glaube, dass dies mein bisher größter Beitrag zur Unterhaltungsliteratur werden wird, Ja, bei Timothy, dessen bin ich mir sicher“, ist Hobby-Ermittler und Autor Paul Temple von seiner Arbeit überzeugt. Ob auch Durbridge Ähnliches über seinen Debütroman gedacht hat? Aus heutiger Sicht muss Widerspruch erlaubt sein: Nicht nur stilistisch ist manches am Roman zu bemängeln, sondern die Handlung strotzt nur so von unglaubwürdigen Zufällen. Um sich bei der Lektüre den Spaß nicht zu verderben, ist empfehlenswert, nicht jede Einzelheit oder unerwartete Wendung zu hinterfragen, sondern sie so hinzunehmen, wie sie ist. Dies gilt auch für den unrealistischen Schluss. Sei's drum! Was bleibt also vom Romandebüt des damals erfolgreichen Francis Durbridge? Paul Temples erster Fall ist gewiss ein literaturhistorisch interessantes Erinnerungsstück, das man zur Entspannung lesen kann. Aber mindestens aus heutiger Sicht hat der Kriminalroman gewiss keinen nachhaltigen literarischen Wert. Ob er wohl deshalb noch nie ins Deutsche übersetzt wurde?

Veröffentlicht am 08.01.2022

Nette Unterhaltung, mehr aber nicht

Der Rabbi und der Kommissar: Du sollst nicht morden
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REZENSION – War es zeitlich so gewollt, dass ausgerechnet im Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ beim Heyne Verlag im Oktober mit „Du sollst nicht morden“ der Debütkrimi von Michel Bergmann ...

REZENSION – War es zeitlich so gewollt, dass ausgerechnet im Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ beim Heyne Verlag im Oktober mit „Du sollst nicht morden“ der Debütkrimi von Michel Bergmann (77) veröffentlicht wurde? Zumindest war der Zeitpunkt passend gewählt, ist doch Bergmanns Auftaktroman zu seiner bereits auf acht Bände ausgerichteten Krimireihe rund um das jüdische Leben in Frankfurt am Main nicht nur ein Unterhaltungsroman, sondern vermittelt zumindest ansatzweise einiges Wissenswerte über das moderne Judentum in Deutschland.
In „Du sollst nicht morden“ lernen wir den Polohemden tragenden und einen Smart fahrenden modernen und liberalen Rabbiner Henry Silberbaum kennen, der sich engagiert um seine Gemeinde im Jüdischen Gemeindezentrum Westend, um die Schüler der dortigen Schule und um die Bewohner des jüdischen Altenstifts kümmert, das man als das Budge-Seniorenheim in Seckbach erkennen darf. Als dessen Bewohnerin Ruth Axelrath kurz nach ihrer Ankündigung, ihre Vermögensverhältnisse in Deutschland klären und nach Israel zur Tochter auswandern zu wollen, überraschend stirbt, denkt der krimi-belesene Rabbi sofort an Mord, zumal die Seniorin seiner Gemeinde doch gerade erst eine Million Euro zur Gründung einer Bibliothek versprochen hatte. Bestimmte Indizien scheinen nach und nach seinen Verdacht zu stützen. Doch Kommissar Robert Berking, der den Rabbi erst kürzlich nachts auf dem jüdischen Friedhof irrtümlich festgenommen hatte, vermisst eindeutige Beweise, um offiziell Ermittlungen aufnehmen zu können. So muss sich Rabbi Silberbaum zwangsläufig allein des vermeintlichen Mordfalles annehmen, nur gelegentlich vom Kommissar mit Tipps unterstützt.
"Mein Bestreben ist es, den Juden ein Recht auf Durchschnittlichkeit zu geben. Und zu sagen: Schaut her, ja, es ist nichts Besonderes, Jude zu sein", hat sich Michel Bergmann mal in einem Interview zu seinem Roman geäußert. Als Kind internierter jüdischer Flüchtlinge in der Schweiz geboren, verfügt der in Frankfurt aufgewachsene Autor sicher über gute Voraussetzungen, darüber zu schreiben. Insofern hätte ihm mit seiner Krimireihe „Der Rabbi und der Kommissar“ ein Kleinod in der weiten Krimi-Landschaft gelingen können. Wer allerdings die Bücher von Salcia Landmann kennt oder die von Friedrich Torberg übersetzten Werke Ephraim Kishons schätzt, stellt zu hohe literarische Erwartungen an Bergmanns Roman. Wer diesen Roman andererseits nur als schlichten Krimi liest, dem drängt sich unwillkürlich der Vergleich mit dem gewitztem Pater Brown auf, wenn der Rabbi sich zu rechtfertigen versucht: „Einige Fakten zu ignorieren ist keine Lüge.“ Doch auch hier unterliegt Rabbi Silberbaum im literarischen Vergleich: Die Handlung ist zu dünn, die Sprache zu schlicht und reicht stellenweise bis in die Niederungen von Plattitüden: „Du bist fit wie ein Turnschuh.“
Zweifellos ist der Rabbi eine interessante Ausnahme unter den literarischen Ermittlern. Doch auch hier gelingt Bergmann nicht der große Wurf. Zwar findet man hin und wieder den in jüdischen Witzen geschätzten Sarkasmus: „Ist mit ihr gereist, bis nach Auschwitz. Und sogar wieder zurück!“ Doch allzu banal wirken dann die vom Rabbi erzählten, zusammenhanglos in den Text eingestreuten Judenwitze. Anzuerkennen ist der Versuch, uns einige antisemitische Vorurteile unter die Nase zu reiben: „Nu sei nicht so geizig, aber so seid ihr Juden!“ Doch warum muss Bergmanns Mordopfer ausgerechnet eine Multimillionärin sein? Stützt er damit nicht selbst eines dieser unsäglichen Vorurteile?
Trotz der durchaus wissenswerten Einschübe über das Judentum, wobei sich der Autor auf die reformierte, in Deutschland vorherrschende liberale Strömung beschränkt, und eines Glossars mit Übersetzung der im Text vorkommenden jiddischen Begriffe kann ich den uneingeschränkt positiven Bewertungen mancher Rezensenten nicht zustimmen: „Du sollst nicht morden“ hat eine inhaltlich überschaubare, auf 280 Seiten gedehnte Handlung, der es leider an Dramatik und Spannung fehlt. Nur dank mancher ironischer, auch sarkastischer Passagen ist das Buch ein netter Unterhaltungsroman. Ob sich allerdings eine mehrbändige Reihe zu lesen lohnt, muss der Autor, von dem man doch weitaus Besseres kennt, erst noch beweisen.