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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 01.05.2021

„Auch das ist Kunst, ist Gottes Gabe, aus ein paar sonnenhellen Tagen sich so viel Licht ins Herz zu tragen, dass, wenn der Sommer längst verweht, das Leuchten immer noch besteht.“ (J.W. v. Goethe)

Mittwochs am Meer
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Maurice van der Berge ist Insolvenzverwalter und fährt jeden Mittwoch mit dem TGV von Paris nach Rennes, um von dort in den kleinen Küstenort Cancale zu gelangen. Dort hat er den Auftrag, eine Fischfabrik ...

Maurice van der Berge ist Insolvenzverwalter und fährt jeden Mittwoch mit dem TGV von Paris nach Rennes, um von dort in den kleinen Küstenort Cancale zu gelangen. Dort hat er den Auftrag, eine Fischfabrik abzuwickeln, was ihn bei den Arbeitern und Einheimischen nicht gerade beliebt macht und jede seiner Bewegungen misstrauisch von ihnen beäugt wird. Als er eines Abends in seiner Pension einchecken will, teilt ihm die attraktive Empfangsdame mit, dass es für ihn keine Buchung gibt und mietet ihn in ein Luxushotel ein. Kaum ist er dort eingecheckt, erhält er einen anrührenden Liebesbrief von der Rezeptionistin seiner Pension nebst einem beigelegten Gedichtband von Rimbaud, der sein Herz höher schlagen lässt. Maurice, der bisher nur einmal wirklich verliebt war und seitdem sein Herz verschlossen hat, lässt sich auf eine leidenschaftliche Beziehung mit der Dominique Vial ein, die ihn durch die Sommerwochen trägt. Immer mehr verliebt er sich in diese Frau, doch was wird aus den beiden, wenn der Sommer vorbei ist, schließlich ist Dominique verheiratet…
Alexander Oetker hat mit „Mittwochs am Meer“ einen kleinen, aber feinen Roman vorgelegt, der den Leser nicht nur mitnimmt an einen kleinen französischen Ort zwischen Saint-Malo an der Smaragdküste und Mont-Saint-Michel am französischen Wattenmeer, sondern ihn auch einen Sommer miterleben lässt, der bestimmt wird von großen Gefühlen und der Suche nach sich selbst. Der flüssige, bildhafte und poetische Erzählstil lässt den Leser an Maurice Seite gleiten und mit ihm in Paris den TGV besteigen, um einen ereignisreichen Sommer mitzuerleben. Der Autor ruft mit seiner farbenfrohen Sprache nicht nur ein wunderbares Kopfkino beim Leser hervor, sondern rührt mit seinen Worten auch das Herz des Lesers an. Mit Maurice hat er eine einsame Seele erschaffen, der nur für seinen Beruf lebt und Gefühlen in seinem Leben keinen großen Platz mehr eingeräumt hat. Oetker lässt seinen zurückhaltenden „Helden“ in diesem Sommer wachsen, zurückblicken, sich selbst durchleuchten und Erinnerungen an die Oberfläche holen, die er lange zu verdrängen suchte. Über die Jahre hat er sich selbst verloren, doch durch die offene Art und die bedingungslose Liebe einer Frau lernt er sich selbst ganz neu kennen, seine Prioritäten verschieben sich gänzlich. Während er mit Dominique Besuche in der Region unternimmt und die Bretagne kennenlernt, erwacht sein Herz und sein Blick wird weit für die eigenen Bedürfnisse, er empfindet Hoffnung und fühlt sich lebendig, was er sich selbst so lange verwehrt hat. Durch Maurice vermittelt der Autor dem Leser die Botschaft, keine Zeit zu verschwenden, sondern jeden Augenblick zu genießen und sich der Schönheit des Lebens bewusst zu sein, denn die Zeit auf Erden ist endlich, da muss man über seinen Schatten springen.
Die Charaktere sind facettenreich und lebendig gestaltet, so dass der Leser ihnen schnell nahe fühlt. Maurice ist ein zurückhaltender, einsamer Mann, der sein Herz weggesperrt hat und mechanisch seiner Arbeit nachgeht. Er hat Mauern um sich errichtet, die nach und nach fallen, ihn mutig werden und vor allem nach vorn blicken lassen. Dominique ist impulsiv, lebensbejahend, offensiv, aber auch geheimnisvoll. Madame Le Geoff ist eine gute Seele, die alles im Blick hat. Aber auch der brummige Chauffeur, der sich als Rädelsführer entpuppt sowie Monsieur Vial spielen kleine Nebenrollen in diesem Stück.
„Mittwochs am Meer“ ist ein kleines Meisterwerk voller Poesie, großer Gefühle und einem Sommer an der bretonischen Küste, wo alles möglich ist. Absolute Leseempfehlung für ein Highlight!

Veröffentlicht am 25.04.2021

Nichts bleibt ungesühnt...

Das Nachtfräuleinspiel
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1986 Schwäbische Alb. Die 16-jährige Annamaria, die nach dem Tod ihrer Eltern bei einer lieblosen und ständig unter Alkoholeinfluss stehenden Pflegemutter einquartiert wurde, wird der Faschingsdonnerstag ...

1986 Schwäbische Alb. Die 16-jährige Annamaria, die nach dem Tod ihrer Eltern bei einer lieblosen und ständig unter Alkoholeinfluss stehenden Pflegemutter einquartiert wurde, wird der Faschingsdonnerstag zu einem Alptraum, der ihr Leben nachhaltig verändert. Niemand, dem sie von den Ereignissen berichtet, schenkt ihr Glauben. Doch dann gibt es einen Hoffnungsstreif am Himmel, denn Annamaria kommt als Au-Pair in die Familie der anerkannten Erziehungsexpertin Liane van der Berg, die selbst fünf Kinder hat. Hier sollte es Annamaria mit ihrer Tochter Stella eigentlich gutgehen, doch je länger sie dort ist, umso mehr muss Annamaria feststellen, dass nach außen alles nur Fassade ist…
2017. Liane leitet eine erfolgreiche Fernsehshow, in der sie schon 10 Jahre lang die Deutsche Nation mit ihren Kindererziehungstipps unterhält. Die Jubiläumsshow soll etwas Besonderes werden, doch dann wird Liane von der Vergangenheit eingeholt…
Anja Jonuleit hat mit „Das Nachtfräuleinspiel“ einen facettenreichen und bewegenden Roman vorgelegt, der sich nicht mit den Erziehungsmethoden der späten 70er Jahre auseinandersetzt, sondern auch mit einer spannenden Handlung überzeugen kann und den Leser durch eine wahre Achterbahn der Gefühle jagt. Der flüssige, bildhafte und empathische Erzählstil lässt den Leser über zwei Zeitebenen zwei starke Frauen und deren Schicksal kennenlernen, die recht nahe gehen und gleichzeitig Schauer über den Rücken jagen. Jonuleit hat ihre Handlung perfekt konstruiert, denn sie lässt den Leser abwechselnd zwischen den Jahren 1986 und 2017 hin- und herspringen, um zum einen Annamarias Erlebnisse zu erfahren, zum anderen die Gegenwart von Liane mitzuerleben, deren Leben durch ihre eigene Tun in der Vergangenheit maßgeblich durcheinandergerüttelt wird. Über einen Zeitraum von 50 Jahren mit Intermezzos in den 70er und 80er Jahren bekommt der Leser nicht nur einen Einblick in die Hippiezeit, Drogenkonsum, freie Liebe und das Kommunenleben, sondern auch in das fragwürdige Brauchtum der schwäbischen Fastnacht. Die Kapitel werden jeweils durch ein Kinderspiel, dem „Nachtfräuleinspiel“ eingeleitet, was perfekt zur erzählten Geschichte passt und die düstere, spannungsgeladene Atmosphäre gut wiederspiegelt. Erschreckend ist die Erkenntnis allerdings, dass es in der heutigen Zeit viele Menschen wie Liane gibt, die skrupellos, manipulativ und ohne Rücksicht auf Verluste ihr Leben-(sglück) auf dem Rücken anderer aufbaut und meint, damit dauerhaft durchzukommen. Nur Geduldige werden belohnt, denn die Strafe folgt tatsächlich meist nicht auf dem Fuße, doch sie folgt irgendwann unverhofft und dafür so überraschender.
Die Charaktere sind sehr detailliert und differenziert ausgestaltet und lebendig in Szene gesetzt. Der Leser kann seine Sympathien gerecht verteilen, heftet sich an die Fersen der Protagonisten und bekommt eine Geschichte geboten, die ihn mitfühlen, mitschaudern und vor allem mithoffen lässt. Annamaria wurde vom Schicksal bereits genug gebeutelt, trotzdem gibt sie nicht auf bei der Suche auf ein glückliches Leben. Sie ist freundlich, liebenswürdig und hat das Herz am rechten Fleck. Liane ist eine egozentrische Frau, die alles unter Kontrolle haben will, alles besser weiß und mit viel Augenwischerei ihre Umwelt manipuliert und in eine Ecke drängt, aus der sie als Retterin in der Not hervorgeht, was ihr letztendlich den Hals brechen wird. Carl genießt es, von Liane angebetet und hofiert zu werden. Er ist ein Egoist par excellence, dessen Welt sich hauptsächlich u sich selbst dreht.
„Das Nachtfräuleinspiel“ ist ein Buch für zwischendurch, sondern ein tiefgründiger und anspruchsvoller Roman, der den Leser durch Höhen und Tiefen schickt, während die Dramatik immer mehr Fahrt aufnimmt. Am Ende ist man erst einmal sprachlos und denkt noch tagelang darüber nach. Absolutes Meisterstück von Jonuleit mit verdienter Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 24.04.2021

"Like ice in the sunshine..." (Beagle Musik Ltd.)

Der Eissalon
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1957 Bonn. Die aus gutsituiertem Hause stammende 23-jährige Karina von Oedinghof hat sich einen ziemlichen Faux pas geleistet, als sie sich auf eine Affäre mit ihrem Lehrer einließ. Jetzt steht sie ohne ...

1957 Bonn. Die aus gutsituiertem Hause stammende 23-jährige Karina von Oedinghof hat sich einen ziemlichen Faux pas geleistet, als sie sich auf eine Affäre mit ihrem Lehrer einließ. Jetzt steht sie ohne Abschluss der Restaurantfachschule auf der Straße und muss sehen, wo sie bleibt. Ohne ihre Eltern über den Vorfall zu informieren, findet sie bei Kriegswitwe Erika ein Zimmer zur Untermiete, wo auch der Italiener Ricardo untergekommen ist und mit dem sie sich schon bald ein Gefecht liefert. Während Karina sich schnell in Ricardo verliebt, hat der nur seinen Traum vom eigenen Eissalon im Kopf. Um Ricardo näher zu kommen, unterstützt Karina seine Pläne, steuert sogar Ideen sowie Startkapital bei. Die Dinge nehmen Formen an, und alles könnte so schön sein, doch dann taucht plötzlich Karinas Vater auf und auch Ricardo hat noch eine Schlacht in Bezug auf seine Vergangenheit zu schlagen…
Anna Jonas hat mit „Der Eissalon“ einen unterhaltsamen historischen Roman vorgelegt, der dem Leser den Zeitgeist der 50er Jahre wunderbar näher bringt, während er sich gemeinsam mit Karina und Ricardo ins Eisgeschäft wagt. Der flüssige, bildhafte und einnehmende Erzählstil katapultiert den Leser zurück in die Mitte des letzten Jahrhunderts, wo er sich plötzlich in alten gesellschaftlichen Strukturen wiederfindet, in denen die Frauenrolle klar als Hausfrau und Mutter definiert und Emanzipation noch ein Fremdwort war. Als unsichtbarer Schatten folgt der Leser der recht unkonventionellen Karina, die sich über die Ungerechtigkeit ärgert, sie als leichtes Mädchen abzustempeln und zum Verlassen der Schule zwingt, während der Lehrer mit einem blauen Auge davon kommt. In ihrer Vermieterin Erika findet sie nicht nur eine Freundin, sondern neben einem Zuhause macht sie auch noch die Bekanntschaft von Ricardo, mit dem sie schon bald einige Gemeinsamkeiten hat und Zukunftspläne in ihr wachsen lassen. Die Autorin fängt mit schön gezeichneten Bildern die damalige Zeit ein, lässt den Leser nicht nur die aufstrebenden Träume und Ziele der Menschen 12 Jahre nach Ende des Krieges miterleben, sondern bietet ihm auch Schicksale unterschiedlicher Protagonisten an, von denen jeder für sich mit Vorurteilen der Gesellschaft zu kämpfen hat.
Die Charaktere sind liebevoll ausgestaltet und in Szene gesetzt, glaubwürdige menschliche Eigenschaften machen es dem Leser leicht, sich ihnen anzuschließen und ihnen bei ihren Unternehmungen über die Schulter zu sehen. Karina ist eine verwöhnte Tochter aus reichem Hause, die sich keine Grenzen aufzeigen lassen und ihr eigenes Ding durchziehen will. Sie ist mutig, etwas stur, dafür aber eine ehrliche Haut, die versucht, sich der Bevormundung ihrer Familie endlich zu entziehen. Ricardo wirkt auf den ersten Blick wie der typische italienische Macho, doch er besitzt Herz, Mut und vor allem Ideenreichtum, um mit seinen Eiskreationen die Menschen zu verzücken. Erika ist eine Kriegswitwe, die sich durch die Untervermietung etwas für ihren Lebensunterhalt verdient. Sie ist warmherzig, fürsorglich und bietet ihren Mietern Familienanschluss. Dabei hat sie es selbst nicht leicht und hat unter Vorurteilen der Gesellschaft zu leiden. Aber auch Karinas Eltern sowie Franziska prägen mit ihren Auftritten diese Geschichte.
„Der Eissalon“ ist zwar eine vorhersehbare Geschichte, bietet jedoch mit der passenden musikalischen Untermalung sowie Liebe, Familie und 50er Jahre-Feeling eine kurzweilige und unterhaltsame Auszeit vom Alltag. Verdiente Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 24.04.2021

Fesselnder historischer Schmöker mit Kopfkinogarantie

Die Senfblütensaga - Zeit für Träume
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1908 Metz. Die aus einfachen Verhältnissen stammende Emma Bergmann hofft darauf, an der Straßburger Universität Jura studieren zu können, da diese endlich auch Frauen zulässt. Ihre Eltern dagegen wünschen ...

1908 Metz. Die aus einfachen Verhältnissen stammende Emma Bergmann hofft darauf, an der Straßburger Universität Jura studieren zu können, da diese endlich auch Frauen zulässt. Ihre Eltern dagegen wünschen sich, dass sie eine gute Ehefrau und Mutter abgibt und lassen nichts unversucht, für sie eine Ehe mit Carl Seidel, den Erben eines gutsituierten Fuhrunternehmers, zu arrangieren, damit auch die Familie zukünftig abgesichert ist. Carl und Emma fühlen sich schon beim Kennenlernen zueinander hingezogen und verlieben sich bald. Carl hat den Traum einer eigenen Senffabrik, liebt er doch die Welt der Düfte und Aromen, die er auch Emma schnell näher bringt. Emma ist von seinem Mut und Ideenreichtum begeistert und steht ihm unterstützend zur Seite, denn die beiden müssen so manchen Kampf gegen die eigenen Familien aufnehmen, die ihren Kindern deren Zukunft aufzwingen wollen. Und dann ist da noch Carls bester Freund Antoine, der Emmas Herz ebenfalls höher schlagen lässt…
Clara Langenbach hat mit „Zeit für Träume“ den Auftaktband ihrer historischen Senfblüten-Trilogie vorgelegt, der den Leser mit einer spannenden und sehr unterhaltsamen Geschichte von Beginn an zu faszinieren weiß und Hoffnung weckt auf die Anschlussromane. Der flüssige, farbenprächtige und gefühlvolle Erzählstil den Leser durch die Zeit reisen, um sich im Elsass-Lothringen zu Beginn des 20. Jahrhunderts niederzulassen und Emma Lebensweg kennenzulernen. Die Autorin hat ihre Handlung mit gut recherchiertem geschichtlichem Hintergrund verknüpft, die dem Leser neben einer interessanten und fesselnden (Liebes-)Geschichte auch die damalige Stimmung gut zu vermitteln wissen. Es ist die Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg, die Rolle der Frau ist immer noch in einem Korsett der gesellschaftlichen Normen und gerade erst gewähren Universitäten den ersten Frauen Zutritt zum Studium. Ihre Möglichkeiten sind begrenzt, denn die verkrusteten alten Strukturen lösen sich nur mühsam und sehr langsam auf. Emma, die sich ein Studium wünscht, bekommt von Seiten ihrer Eltern Unverständnis und Gegenwind. Aber auch Carl ist in einer Zwickmühle: auserkoren, den Familienbetrieb zu übernehmen, will er doch etwas ganz anderes eigenes aufbauen und stemmt sich gegen die Wünsche seiner Familie. Die Autorin hat nicht nur diese Kämpfe gegen die Vorstellungen anderer sehr gut herausgestellt, sondern auch die zwischenmenschlichen Beziehungen ihrer Protagonisten, so dass der Spannungsbogen durchgehend erhalten bleibt.
Die Charaktere sind liebevoll und detailreich mit realistischen Ecken und Kanten ausgestaltet. Sie wirken glaubwürdig und authentisch, was es dem Leser leicht macht, sich ihnen anzunähern, ihren Unternehmungen zu folgen und mit ihnen zu fiebern. Emma ist eine recht selbstbewusste, impulsive und kämpferische junge Frau. Sie wirkt allerdings oftmals noch sehr naiv und unbedarft, eher wie eine Träumerin, die mit aller Macht mit dem Kopf durch die Wand will. Carl ist ein sympathischer Mann mit Prinzipien, der seinen Traum wahrmachen will. Dafür nimmt er so manches Hindernis in Kauf, denen er sich mutig entgegenstellt. Antoine hat etwas Geheimnisvolles, aber auch Irritierendes an sich, was den Leser immer wieder zwischen Sympathie und Antipathie schwanken lässt. Aber auch die Eltern von Emma und Carl spielen wichtige Rollen in dieser Geschichte und treiben dadurch die Spannung in die Höhe.
„Zeit für Träume“ ist ein fesselnder Roman, der den Leser durchgängig mit gut recherchiertem historischem Hintergrund, Familiengeschichten, Liebe, Spannung und farbenfrohem Kopfkino zu unterhalten weiß. Absolute Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 22.04.2021

"Es ist die Wahl, nicht der Zufall, der Dein Schicksal bestimmt." (Jean Nidetch)

Grenzgängerin aus Liebe
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Die 21-jährige Sophie Becker lebt in Weimar und ist nun die Geliebte des 15 Jahre älteren verheirateten DDR-Funktionärs Karsten Brettschneider, den sie bei einem Tanzabend kennengelernt hat. In ihrem Urlaub ...

Die 21-jährige Sophie Becker lebt in Weimar und ist nun die Geliebte des 15 Jahre älteren verheirateten DDR-Funktionärs Karsten Brettschneider, den sie bei einem Tanzabend kennengelernt hat. In ihrem Urlaub an Bulgariens Goldstrand trifft Sophie auf Hermann, der aus Westdeutschland kommt und ihr schon bald Avancen macht, die Sophie nicht nur schmeicheln, sondern auch einiges an Gefühlen in ihr hervorrufen. Sophie steht auf einmal zwischen den Stühlen und stellt mutig einen Ausreiseantrag, der sie zu Hermann in den Westen bringen soll. Als sie in Bielefeld am Bahnhof ankommt, wird sie allerdings von Hermanns Eltern, die ein Hotel führen, in Empfang genommen, denn er selbst hat beruflich im Ausland zu tun. Sophie fühlt sich schon bald nicht mehr wohl, vermisst ihre Heimat Weimar und vor allem Karsten, der sie weiterhin umwirbt und ihr eine Rückkehr zu ihm nahelegt. So beschließt Sophie, Westdeutschland den Rücken zu kehren und zurück in den Osten zu gehen, was für sie nicht ohne Folgen bleibt…
Hera Lind hat mit „Grenzgängerin aus Liebe“ einen unterhaltsamen und gleichsam spannenden Roman vorgelegt, in dem sie sich erneut einem wahren Schicksal zugewandt hat. Der flüssige, bildhafte und gefühlvolle Erzählstil nimmt den Leser mit in die Deutsch-Deutsche Vergangenheit, wo er Sophie kennenlernt, die sich nicht nur im Widerstreit mit ihren Gefühlen befindet, sondern auch durch die Hölle gehen muss. Die Handlung wird aus der Sicht von Sophie erzählt, so dass man als Leser das Gefühl hat, mit ihr an einem Tisch zu sitzen und atemlos ihrer Geschichte zu lauschen. Der Handlungszeitraum erstreckt sich von 1974 bis 2020 und lässt den Leser nicht nur gemeinsam mit Sophie die gesamte Klaviatur des Gefühlsbarometers erleben, sondern durch den von der Autorin akribisch recherchierten und mit der Geschichte verwebten Hintergrund bekommt er auch einen Einblick in die menschenverachtenden Methoden, die damals in der DDR angewandt wurden, um Menschen gefügig zu machen oder zu bestrafen. Einerseits ist es gut nachvollziehbar, dass Sophie sich nach einem Leben in Freiheit sehnt, auch ihr Heimweh ist verständlich, doch ihre Entscheidung, in die DDR zurückzugehen ruft nur ein Kopfschütteln hervor, zumal ihr schon bei den Schwierigkeiten für die Antragstellung der Ausreise klar gewesen sein muss, was ein Weg zurück für sie bedeuten muss. Wenn man bedenkt, wie viele Menschen einen Weg aus dem Osten gesucht haben, kann man Sophies Beweggründe umso weniger verstehen.
Die Charaktere sind liebevoll ausgestaltet und in Szene gesetzt worden. Mit ihren glaubwürdigen menschlichen Ecken und Kanten wirken sie authentisch und geben dem Leser die Möglichkeit sich an ihre Fersen zu heften und ihr Schicksal hautnah mitzuerleben. Sophie ist eine junge Frau, die noch an Liebe und Freiheit glaubt. Sie ist nicht nur sehr naiv, sondern in ihren Entscheidungen auch recht wankelmütig, gibt zu schnell auf und muss dann durch eine harte Schule, bei der sie erwachsen wird. Hermann erweist sich als freundlicher und ehrlicher Mann, der alles für Sophie tun würde. Karsten ist regimetreu und denkt nur an seinen eigenen Vorteil, das Schicksal der anderen ist ihm egal. Aber auch Sophies Schwester nebst Ehemann sind aus einem harten Holz geschnitzt.
„Grenzgängerin aus Liebe“ ist eine spannende und gefühlvolle Geschichte anhand einer wahren Biografie, die nicht nur eine Zeitreise ins letzte Jahrhundert erlaubt, sondern auch das geteilte Deutschland gut von beiden Seiten aufgreift. Alle, die gern Schicksalsromane lesen, werden hier gut unterhalten. Verdiente Leseempfehlung!