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Veröffentlicht am 23.01.2022

Vor Untermietern wird gewarnt

Was damals geschah
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Der Klappentext liest sich wie ein Thriller: Die junge Libby, die vor 25 Jahren als Baby in einem Haus im vornehmen Chelsea mit drei Leichen entdeckt wurde, erbt dieses Haus aus heiterem Himmel. Was ist ...

Der Klappentext liest sich wie ein Thriller: Die junge Libby, die vor 25 Jahren als Baby in einem Haus im vornehmen Chelsea mit drei Leichen entdeckt wurde, erbt dieses Haus aus heiterem Himmel. Was ist damals geschehen und wo sind die anderen Kinder aus dem Haus geblieben? Libby beginnt mit Nachforschungen und das leere Haus scheint nicht wirklich leer zu sein.

Dieser Erzählstrang ist nur einer von dreien, denn es gibt weitere Perspektiven, die die Puzzleteile zusammenfügen. Eines der Kinder, Henry, berichtet aus der Ich-Perspektive, was sich damals zugetragen hat und dann gibt es noch Lucy, die sich in Südfrankreich mit Geige spielen über Wasser hält und verzweifelt versucht, mit ihren zwei kleinen Kindern nach London zu kommen. Bald wird klar, dass in dem schicken Haus nicht nur die Familie Lamb gewohnt hat, sondern noch einige andere Personen; die Familie im oberen Stockwerk (so auch der Originaltitel "The Family Upstairs") blieb fünf Jahre dort.

Die Geschichte liest sich sehr flott, der Schreibstil vermittelt die nötige Atmosphäre und doch konnte mich der Roman nicht völlig überzeugen. Die Charakter der Gegenwart bleiben, mit Ausnahme von Henry, recht blass und vieles erschien mir zu verkürzt dargestellt bzw. zu konstruiert. Aus Miller und Dido hätten man mehr machen können als bessere Stichwortgeber. Ich konnte auch nicht alles nachvollziehen, was damals geschah und in der Gegenwart passiert. Allerdings haben die Ereignisse reale Bezüge zu einem Fall in Frankreich. Wer das Buch schon gelesen hat, sollte einmal den Namen Thierry Tilly googeln. Alle, die den Roman noch vor sich haben, sollten es natürlich nicht tun.

Insgesamt hat mich der Roman gut unterhalten, aber auch nicht mehr. Der Klappentext konzentriert sich sehr auf die Thrillerelemente und vermittelt daher einen falschen Eindruck. Es geht hier um viele Themen, die angeschnitten werden, aber vor allem steht die menschliche Psyche im Vordergrund, wie sie beeinflusst werden kann und was aus uns werden kann.

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Veröffentlicht am 19.01.2022

Brief an eine Mutter, die nicht lesen kann

Auf Erden sind wir kurz grandios
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Little Dog, Ende zwanzig, aufgewachsen mit seiner vietnamesischen Großmutter Lan und einer Mutter, die bis zur Erschöpfung in einem Nagelstudio arbeitet und ihn schlägt, bis er 13 Jahre alt ist. Rose spricht ...

Little Dog, Ende zwanzig, aufgewachsen mit seiner vietnamesischen Großmutter Lan und einer Mutter, die bis zur Erschöpfung in einem Nagelstudio arbeitet und ihn schlägt, bis er 13 Jahre alt ist. Rose spricht kaum Englisch und wird den Brief nie lesen, den Little Dog für sie schreibt. 262 Seiten angefüllt mit Träumen und Erinnerungen, voll von Leben und Trauer, Schmerz und Liebe. Wie fühlt es sich an, kein "weißer" Amerikaner zu sein, sondern immer Außenseiter zu bleiben? Wie fühlt es sich an, wenn man sich in einen anderen Jungen verliebt?

Ocean Vuong hat zuvor Lyrik veröffentlicht und dafür mehrere Preis gewonnen. Sein Romandebüt zeigt sich ebenfalls von diesem lyrischen Schaffen gezeichnet. So ist der Roman keine runde durchgängige Geschichte, sondern wird in kleinen Blasen erzählt, eingebettet in Gedanken und Bilder des Erzählers. "Ich erzähle dir weniger eine Geschichte als ein Schiffswrack - die Teile dahintreibend, endlich lesbar." (S 207) Das Zitat beschreibt es ganz treffend. Die bildhafte Sprache und die mit Metaphern angefüllten Sätze haben mich viele Post-Its verwenden lassen. Einzelne Zeilen, die so viel aussagen, so viel Inhalt haben, in Form von rhythmischer Lyrik (Wiederholungsfiguren) und auch Prosagedichten (bildstarke Elemente). Das hat mich sehr beeindruckt. Diese besondere Art des Schreibens wird auch optisch hervorgehoben, durch Absätze oder Gliederungen. Dennoch haben mich die längeren erzählerischen Abschnitte mehr gefesselt, in denen die Geschichte vorangekommen ist und bestimmte Lebensabschnitte ausführlicher dargestellt wurden: Das Leben in Vietnam, den Hinterzimmern der amerikanischen Nagelstudios oder die Arbeit auf der Tabak-Farm. Erschütternd waren die Abschnitte zum Vietnamkrieg, zu intim für mich die Begegnungen mit Trevor.

Insgesamt eine anspruchsvolle, starke und nachdenklich machende Lektüre. Sicherlich kein Buch für zwischendurch, vielmehr die sensible und tiefe Darstellung eines zerrissenen Menschen, der durch das Schreiben ein Ventil gefunden hat, seinen innersten Gefühlen Ausdruck zu verleihen.

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Veröffentlicht am 10.01.2022

Zwischen Istanbul und Oxford

Der Geruch des Paradieses
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Peri ist eine Mutter und Ehefrau, die scheinbar ein normales, wenn auch gut situiertes Leben in Istanbul führt. Ziemlich langweilig findet ihrer Tochter. Als diese jedoch unverhofft erfährt, dass Peri ...

Peri ist eine Mutter und Ehefrau, die scheinbar ein normales, wenn auch gut situiertes Leben in Istanbul führt. Ziemlich langweilig findet ihrer Tochter. Als diese jedoch unverhofft erfährt, dass Peri früher einmal in Oxford studiert hat, sieht sie ihre Mutter mit anderen Augen und auch Peri erinnert sich an eine Zeit zurück, als alles noch möglich schien. Ein altes Foto, das Peri mit zwei Mitstudentinnen und einem Professor zeigt, bringt die Vergangenheit Stückchen für Stückchen ans Licht. Eine Vergangenheit, mit der Peri noch nicht abgeschlossen hat.

Bücher von Elif Shafak sind mir auf Instagram immer wieder begegnet und nun habe ich meinen ersten Roman dieser Autorin gelesen und ich habe ihn sehr gerne gelesen. Die Protagonistin Peri steht seit ihrer Kindheit zwischen zwei Lagern, dem ihrer tiefgläubigen Mutter und dem ihres gerne trinkenden Vaters, einem Verehrer Atatürks, "ein Gegensatz wie Schenke und Moschee" (S. 30). Peri sieht sich selbst als eine unentschlossene Person in Bezug auf Religion. Während ihres Studiums verfolgen sie diese beiden Lager weiter, in Form ihrer besten Freundinnen. Hilfe und tiefere Einsichten erhofft sie sich vom umstrittenen Professor Azur. "Umgeben von Tausenden Titeln, jeder für sich ein Zufluchtsort, war sie selig. Doch ein Gedanke kehrte in dieser unermesslichen Weite des Wissens sonderbarerweise immer wieder: der Gedanke an Gott." (S. 223) Der Roman ist angefüllt mit Gesprächen und Gedanken über die Unterschiede der Kulturen, ihren Wertvorstellungen und dem Umgang mit Glauben, Gott und Philosophie. Alles verwoben in die Lebensgeschichte einer Frau, die modern und fortschrittlich sein möchte und doch immer wieder von sich selbst zurückgerufen wird, die voller Zweifel und Unsicherheit steckt, die wortwörtlich vor sich davonläuft. Das schildert Shafak in einer angenehmen Sprache, sehr bildhaft z.B. wenn es um Sinneseindrücke wie das Essen geht und sehr klug wenn es um theoretische Fragen geht.

Obwohl das Buch wegen der vielen Passagen, in denen über Religion und Gott philosophiert wird, sicherlich nicht jedem oder jeder gefallen wird, hat es mich sehr angesprochen. Die Geschichte von Peri wird geschickt in zwei Strängen erzählt. Während eines einzigen Abends in der Gegenwart wird das Leben der Protagonistin immer wieder in Kapiteln dazwischengeschoben. Mir hat gefallen, dass alle Personen während des Abendessens (Ausnahme ist Peris Ehemann) nur mit ihren Berufsbezeichnungen versehen werden, z.B. Geschäftsmann oder PR-Frau. Das gleiche spielt sich bei einem Abendessen in Oxford ab, nur die Hauptcharaktere haben Namen, die anderen sind der Theologieprofessor oder der Professor für Quantenphysik. Daher hatten sie für mich immer eine Art Stellvertretercharakter. Ich fand diesen Kniff interessant.

Insgesamt hat mir das Buch gut gefallen, es hat eine Sogwirkung entfaltet. Ich wollte unbedingt wissen, wie es ausgeht, aber leider ist das Ende nicht ganz mein Fall. Eine Lektüre über zahlreiche kulturelle und religiöse Aspekt, die einen an vielen Stellen nachdenklich werden läßt. Vier Sterne.

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Veröffentlicht am 03.01.2022

Die Tür zum Tod

Ausweglos
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Elias Blom bearbeitet Verkehrsdelikte bei der Hamburger Polizei. Ein Abschiebegleis, denn vor weniger als drei Jahren war er noch der Star der Mordkommission. Allerdings hat der ungelöste Fall des Ringfingermörders ...

Elias Blom bearbeitet Verkehrsdelikte bei der Hamburger Polizei. Ein Abschiebegleis, denn vor weniger als drei Jahren war er noch der Star der Mordkommission. Allerdings hat der ungelöste Fall des Ringfingermörders ihm und seinem Kollegen das Genick gebrochen. Jetzt wird erneut eine Frauenleiche gefunden, die alle Merkmale des Serienkillers aufweist. Entgegen den Dienstvorschriften erhält Blom einen Anruf und ist als erster am Tatort. Kann er mit seinem Wissen über den Täter punkten? Alles weist darauf hin, dass der Mörder wieder aktiv ist. Der entscheidende Unterschied: Dieses Mal gibt es einen Zeugen.

Der Debütroman von Henri Faber besticht durch eine schlau konstruierte Geschichte und die Erzählweise. Es bleibt relativ unblutig und die drei Erzählerfiguren stehen im Mittelpunkt: Elias Bloom sowie Noah und Linda Klingberg, der Zeuge und seine Ehefrau, berichten abwechselnd aus ihrer Sicht das Geschehen. Einschübe aus Tätersicht füllen darüber hinaus Verständnislücken. Abwechselnd schauen wir tief in die Seelen der Charaktere und können dennoch nie sicher sein, wer die Wahrheit sagt und wer lügt. Blom könnte als Charakter noch ein bisschen Unterfutter gebrauchen, seine Figur ist sehr auf die des Ermittlers reduziert und bleibt daher etwas blass.

Der Thriller liest sich flott und eine Wendung und Drehung reiht sich an die nächste. In der Mitte wird es etwas langsamer, aber - wie so oft - klettert die Spannungskurve am Ende mit mehrfachem Salto nochmal in die Höhe.

Mehr als einmal dachte ich, dass ich auf der richtigen Fährte wäre, aber die Fallstricke und Winkelzüge sind raffiniert. Ein prima Thriller, den ich nicht weglegen konnte und der mich gut unterhalten hat. Fünf Sterne.

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Veröffentlicht am 29.12.2021

Märchen für Buchliebhaber

Der Buchspazierer
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Ich wollte es nicht lesen! Nachdem ich eine recht niederschmetternde Besprechung im Podcast eatreadsleep vom NDR (Folge 31) gehört hatte, war ich froh, es noch nicht erstanden zu haben. Aber dann hat es ...

Ich wollte es nicht lesen! Nachdem ich eine recht niederschmetternde Besprechung im Podcast eatreadsleep vom NDR (Folge 31) gehört hatte, war ich froh, es noch nicht erstanden zu haben. Aber dann hat es mir eine liebe Freundin im Sommer zum Geburtstag geschenkt, ich habe innerlich gestöhnt und war verzweifelt und habe mich dann doch über die Feiertage aufgerafft, damit es vom SUB herunterkommt.

Und was soll ich sagen, ich habe es an zwei Abenden mit großem Vergnügen durchgelesen. Eine herrlich klebrige Geschichte über einen alten Buchhändler, der einige ausgewählte Stammkunden mit einem Bücherbringservice verwöhnt. Herr Kollhoff kennt ihre Vorlieben und versorgt sie mit genau der Literatur, die sie sich wünschen. Denkt er zumindest, bis ein neunjähriges Mädchen ganz andere Ideen hat und das Leben aller Buchliebhaberinnen und Buchliebhaber in diesem kleinen Roman (222 Seiten) durcheinanderbringt.

Klar ist es kitschig, klar ist es unglaubwürdig und klar ist es teilweise unlogisch. Aber es ist wirklich ein schönes Lesevergnügen und passte für mich genau in die Weihnachtszeit. Ein Märchen für erwachsene Buchfreunde; einfach in die kleine Welt von Carl Kollhoff eintauchen und den Alltag ausblenden. "Jeder Mensch braucht andere Bücher. Denn was der eine aus tiefstem Herzen liebt, das lässt den anderen völlig teilnahmslos." (S. 89) Für mich ist es immerhin ein Vier-Sterne-Buch geworden.

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