Rekonstruktionsversuch eines Lebens anhand weniger Quellen
Fräulein Hedwig"Fräulein Hedwig" war die Großtante von Christoph Poschenrieder. Selbst ist der Autor 1964 geboren, während sie nur bis zu den 1940er-Jahren lebte - persönlich hat er sie also nicht mehr kennen gelernt. ...
"Fräulein Hedwig" war die Großtante von Christoph Poschenrieder. Selbst ist der Autor 1964 geboren, während sie nur bis zu den 1940er-Jahren lebte - persönlich hat er sie also nicht mehr kennen gelernt. Hedwig hatte eine Schwester Marie, und zwei Brüder, einer von letzteren der Großvater des Autors. Marie wiederum hat sich viel um die ältere, psychisch erkrankte Schwester gekümmert, und nach deren Tod damit begonnen, die Familiengeschichte aufzuschreiben - ein Vorhaben, das unvollendet geblieben ist.
Basierend auf Maries Notizen und eigenen Quellenforschungen versucht der Autor nun, in diesem Buch das Leben seiner Großtante Hedwig nachzuzeichnen. Wir finden Auszüge aus ihren Krankenakten, Bittbriefe der Mutter an das Staatsministerium um finanzielle Unterstützung nach dem frühen Tod des Familienvaters, Briefe von anderen Familienangehörigen und eben Maries unvollendete Familiengeschichte. Sehr sorgfältig und behutsam legt der Autor diese Quellen offen und nimmt dazu Stellung, was wir wissen können, was wir vermuten können und was im Dunkeln bleibt.
So entsteht das Bild einer sehr intelligenten, aber auch sensiblen, eher introvertierten jungen Frau, für die schon früh die damals so verbreitete ausschließliche Rolle der Gattin und Mutter nicht so recht zu passen schien, die musikalisch interessiert war und gerne Musikerin geworden wäre, als Mädchen auch nicht studieren durfte, und von ihrer Mutter gedrängt wurde, Lehrerin zu werden. Eine besondere Berufung zu dieser Tätigkeit scheint Hedwig vermutlich nicht verspürt zu haben und es muss für sie herausfordernd, überwältigend und zugleich einsam gewesen sein, als in der Stadt Aufgewachsene erst einmal am Land als Hilfslehrerin für über 40 Kinder in einem Raum zuständig zu sein. So bricht auch in ihren 20ern zum ersten Mal klar sichtbar ihre bipolare Erkrankung aus, sie muss immer längere Krankenstände nehmen und Zeit in Kliniken verbringen. Ein "Fräulein" wird sie ihr Leben lang bleiben, denn sie heiratet nie.
Dem guten sozialen Status der Familie ist es zu verdanken, dass man sich in den Kliniken erstmal sehr um sie bemüht, sie hat auch ein geräumiges Einzelzimmer, es gibt schöne Parklandschaften zum Spazieren-Gehen und die Familie weiß Hedwig dort erst einmal gut versorgt, auch wenn sie sich Sorgen macht. Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass in späteren Jahren die Gefahr, die im Dritten Reich von diesen Kliniken ausging, als menschenverachtendes Gedankengut schon längst weit verbreitet war, von den Verwandten nicht gesehen wurde.
Insgesamt ist das Buch ein interessantes Porträt einer intelligenten Frau, die viel Potential gehabt hätte, das sie unter den gegebenen Umständen nicht leben konnte. Ich habe es sehr gerne gelesen, vor allem mit dem Fokus auf "Was können wir wissen?" und "Wie können wir uns anhand spärlicher Quellen ein Bild von einer verstorbenen Verwandten zu machen versuchen?".
Wer sich hier aber einen spannend geschriebenen Roman erwartet, ist mit diesem Buch nicht gut beraten. Es ist eben sehr nah an den Quellen erzählt und diese Quellen sind spärlich, das reicht insgesamt für einen großen Spannungsbogen oder viel Unterhaltungswert nicht aus. Es ist ein stilles, ruhiges Buch, das zum Nachdenken anregt, aber auch aufzeigt, wie viele weiße Löcher in einer Geschichte bleiben, wenn jemand schon länger tot ist und es nicht mehr viele erhaltene Quellen gibt.