Profilbild von Frau_Lentge

Frau_Lentge

aktives Lesejury-Mitglied
offline

Frau_Lentge ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Frau_Lentge über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 23.06.2025

„Dein Heimweg“ von Hannah Essing – Ein Thriller an der Schwelle zur Realität

Dein Heimweg
0

Hannah Essings Dein Heimweg ist ein Thriller, der sich nicht nur in die Nervenbahnen gräbt, sondern auch tief in gesellschaftliche Realitäten hineinbohrt – besonders jene, die Frauen nur zu gut kennen. ...

Hannah Essings Dein Heimweg ist ein Thriller, der sich nicht nur in die Nervenbahnen gräbt, sondern auch tief in gesellschaftliche Realitäten hineinbohrt – besonders jene, die Frauen nur zu gut kennen. Was auf den ersten Blick wie ein klassischer Spannungsroman wirkt, entfaltet sich bei näherem Hinsehen als beunruhigend realitätsnahes Szenario: Die allnächtliche Angst, allein durch dunkle Straßen zu gehen, ist keine bloße Erfindung der Thrillerliteratur – sie ist Alltag. Essing setzt genau hier an und verwebt Fiktion mit einem gesellschaftlich relevanten Thema, das viel zu oft bagatellisiert wird.

Im Mittelpunkt steht Emmy, die durch einen Mordfall an einer Kollegin in eine Spirale aus Misstrauen, digitaler Überwachung und kollektiver Angst gerät. Die virale Kampagne

meinheimweg erinnert deutlich an reale Bewegungen wie

MeToo oder #aufschrei – ein kluger literarischer Kniff, der die Trennlinie zwischen Realität und Fiktion verwischt. Besonders spannend: Die Reaktion des Start-ups, das auf den Mord mit einer App reagiert – ein Paradebeispiel für symbolpolitische Lösungsansätze, die strukturelle Probleme (nämlich patriarchale Gewalt) nicht lösen, sondern nur digitalisieren.

Der Schreibstil ist eingängig, aber nicht banal – mit einer Sogwirkung, die spätestens auf den letzten Seiten ihr volles Potenzial entfaltet. Die Auflösung kommt überraschend, fast verstörend, und bleibt doch konsequent im Spannungsbogen verankert. Literarisch bewegt sich Essing auf dem schmalen Grat zwischen Genretreue und Gesellschaftskritik – und balanciert dabei erstaunlich sicher.

Dein Heimweg ist kein feministisches Manifest, aber ein lesenswerter Thriller, der feministische Fragen stellt, ohne sie plakativ zu beantworten. Genau darin liegt seine Stärke: Er konfrontiert, ohne zu belehren. Für alle, die Spannung mögen – aber auch bereit sind, sich mit der Realität dahinter auseinanderzusetzen.

4 von 5 Sternen – eindringlich, unterhaltsam, relevant.

Veröffentlicht am 23.06.2025

Eine literarisch eindringliche Annäherung an weibliche Wut – und das Recht, sie zu fühlen

Verdammt wütend
0

Linn Strømsborgs Roman Verdammt wütend ist ein leises Buch über einen lauten Moment. Ein Moment, der viel zu lange auf sich warten ließ – und der vielleicht gerade deshalb so kraftvoll ist. Protagonistin ...

Linn Strømsborgs Roman Verdammt wütend ist ein leises Buch über einen lauten Moment. Ein Moment, der viel zu lange auf sich warten ließ – und der vielleicht gerade deshalb so kraftvoll ist. Protagonistin Britt, 43 Jahre alt, verheiratet, Mutter, hat alles richtig gemacht. Ein Leben lang. Sie war „vernünftig“, „zuverlässig“, hat sich selbst klein gemacht, um anderen Raum zu geben. Bis sie eines Tages explodiert – und plötzlich nichts mehr ist wie vorher.

Mit einem feinfühligen, beinahe poetischen Schreibstil gelingt Strømsborg ein feministisches Porträt einer Frau, deren Wut nicht übertrieben, sondern überfällig ist. Der Roman liest sich leicht, mit schnell durchblätterbaren Seiten und einem klaren, zugänglichen Ton – und doch hallt er nach. Denn was hier zur Sprache kommt, ist nichts Geringeres als das strukturelle Schweigen um weibliche Wut. Eine Wut, die allzu oft als „irrational“, „hysterisch“, „unangebracht“ abgetan wird – und die hier endlich einen Raum bekommt, in dem sie nicht nur da sein darf, sondern auch produktiv wird.

Strømsborg schreibt über die Konventionen des Frauseins: über das Mädchen, das zu einer Frau wird, und über die Frau, die irgendwann zur Mutter wird – oder eben nicht. Sie zeigt auf, wie eng gesellschaftliche Rollenerwartungen gefasst sind und wie sehr sie das Selbstbild prägen. Britt ist dabei keine Heldin im klassischen Sinn, sondern vielmehr eine Projektionsfläche: für ein kollektives Aufbegehren, das leise beginnt und sich dennoch tief in den Leserinnenkörper schreibt.

Verdammt wütend ist ein Roman über die subtile Rebellion im Alltäglichen, über den Trotz, der sich nicht rechtfertigt – und über das Bedürfnis, endlich wieder Subjekt der eigenen Geschichte zu werden. Und vielleicht liegt genau darin die literarische Kraft dieses Textes: in seiner Fähigkeit, jene Nuancen sichtbar zu machen, die allzu oft im Diskurs um Weiblichkeit verloren gehen.

Obwohl der Text für Leserinnen, die selbst keine Mutter oder Ehefrau sind, nicht in allen Aspekten identifikatorisches Potenzial bietet, bleibt er dennoch relevant – gerade weil er eine Erfahrung in Worte fasst, die systematisch entwertet wird. Es ist ein kluges, eindringliches Buch über emotionale Emanzipation – und über die Frage, wie ein anderes Leben, eine andere Welt vielleicht doch möglich ist.

4 von 5 Sternen – nicht weil das Buch Schwächen hätte, sondern weil es für einige Leserinnen in bestimmten Lebensphasen vielleicht noch mehr Resonanz erzeugen kann. Und dennoch: ein ganz klarer Lesetipp.

Veröffentlicht am 23.06.2025

Hitze von Raven Leilani – roh, klug und voller Zwischentöne

Hitze
0

Hitze hat mich überrumpelt. Was wie die Geschichte einer Affäre beginnt – junge Schwarze Frau, älterer weißer Mann in offener Ehe – entpuppt sich als viel mehr: ein schonungsloser, wütender, manchmal sogar ...

Hitze hat mich überrumpelt. Was wie die Geschichte einer Affäre beginnt – junge Schwarze Frau, älterer weißer Mann in offener Ehe – entpuppt sich als viel mehr: ein schonungsloser, wütender, manchmal sogar komischer Roman über Einsamkeit, Begehren und Sichtbarkeit.

Edie ist 23, pleite, scharfzüngig, auf der Suche – nicht nach Erfüllung, sondern vielleicht einfach nach einem Platz im Raum. Sie ist keine klassische Heldin, und gerade das macht sie so faszinierend. Ich habe sie nicht immer verstanden, aber genau das mochte ich: Sie darf widersprüchlich, wütend, verletzlich sein – ohne sich erklären zu müssen.

Besonders berührt hat mich ihre Beziehung zu Akila, dem Adoptivkind des Ehepaars, bei dem sie schließlich wohnt. Zwei Schwarze Figuren in einer weißen Welt – ihre stille Verbundenheit hat für mich mehr Kraft als jede romantische Handlung.

Leilanis Sprache ist scharf, rhythmisch, manchmal schmerzhaft nah – und doch bleibt da eine Wärme zwischen den Zeilen. Hitze ist feministisch, aber nicht belehrend. Es zeigt, was es heißt, als Schwarze Frau zu existieren – zwischen Begehren und Auslöschung, zwischen Kunst und Kapitalismus.

Ich bin begeistert, ratlos, beeindruckt – und weiß: Dieses Buch bleibt.

Veröffentlicht am 23.06.2025

Ein feministisches Märchen über Selbstermächtigung

Weit über der smaragdgrünen See
0

Brandon Sandersons Weit über der smaragdgrünen See beginnt wie ein klassisches Abenteuer: Ein Mädchen macht sich auf, ihren Freund zu retten. Doch Tress ist keine typische Heldin – und genau das macht ...

Brandon Sandersons Weit über der smaragdgrünen See beginnt wie ein klassisches Abenteuer: Ein Mädchen macht sich auf, ihren Freund zu retten. Doch Tress ist keine typische Heldin – und genau das macht sie so besonders.

Statt übernatürlicher Kräfte bringt sie Neugier, Mitgefühl und Mut mit. Sie verlässt ihre Insel nicht aus romantischer Naivität, sondern weil sie erkennt: Wenn niemand handelt, muss sie es tun – und sie kann es.

Sanderson spielt mit Märchenkonventionen und bricht sie bewusst auf. Die Erzählstimme kommentiert augenzwinkernd traditionelle Rollenbilder – und lässt Tress einen eigenen, selbstbestimmten Weg gehen. Ihre Reise ist keine klassische Rettungsmission, sondern eine leise, kraftvolle Emanzipation.

Ein kluges, warmherziges Buch über die Kraft des Erzählens und eine stille Heldin, die zeigt, wie subversiv Freundlichkeit und Entschlossenheit sein können.

Veröffentlicht am 23.06.2025

Für alle, die Fantasy lieben – aber auch für die, die sich für Fragen nach Macht, Kontrolle und Identität interessieren.

The will of the many
0

AUDI. VIDE. TACE.
Ein Motto wie ein Machtbefehl – höre, sieh, schweige. Und genau das tut Vis Telimus. Zumindest vordergründig.

James Islington erschafft in The Will of the Many eine politische Dystopie ...

AUDI. VIDE. TACE.
Ein Motto wie ein Machtbefehl – höre, sieh, schweige. Und genau das tut Vis Telimus. Zumindest vordergründig.

James Islington erschafft in The Will of the Many eine politische Dystopie mit klassizistischer Prägung: eine Welt, in der Macht nicht nur strukturell, sondern über ein literalisiertes System der Unterwerfung organisiert ist – durch den „Willen“. Was hier wie Magie anmutet, funktioniert vielmehr als ideologisches Instrument: Wer seinen Willen abtritt, gibt sich selbst auf – körperlich, geistig, politisch. Ein brillantes Konzept, das an Foucaults Theorie der Selbstdisziplinierung erinnert und gleichzeitig an antike Herrschaftsmodelle angelehnt ist.

Das Narrativ spielt virtuos mit dem Topos der Verkleidung: Vis gibt sich als jemand aus, der er nicht ist – eine narrative Maskerade, die an Motive der klassischen Tragödie erinnert, aber mit der Rasanz moderner Fantasy-Romane erzählt wird. Das Worldbuilding ist monumental, aber nicht überladen; die Spannung speist sich nicht nur aus äußeren Konflikten, sondern auch aus der doppelten Identität des Protagonisten.

Ein Buch, das man nicht einfach „wegliest“. Ich habe mir Zeit gelassen – und genau das hat sich ausgezahlt. Die Sprache ist klar, aber durchdacht, der Plot dicht und strategisch – wie ein Schachspiel in einer Arena aus Worten, Macht und Intrigen.

Für alle, die Fantasy lieben – aber auch für die, die sich für Fragen nach Macht, Kontrolle und Identität interessieren.