Eine Reise zu den Wurzeln im zitronengelben VW-Beetle
Wodka mit GrasgeschmackEine Familie, eingequetscht in einen zitronengelben VW-Beetle, begibt sich auf die Reise in die polnische Region Śląsk, uns bekannt als Schlesien. Die Eltern sind nicht mehr die Jüngsten und würden gern ...
Eine Familie, eingequetscht in einen zitronengelben VW-Beetle, begibt sich auf die Reise in die polnische Region Śląsk, uns bekannt als Schlesien. Die Eltern sind nicht mehr die Jüngsten und würden gern ihre ehemalige Heimat noch einmal sehen, die Söhne hingegen wollen sich zu ihren Wurzeln begeben, wissen, woher ihre Familie stammt. Der Vater der Familie ist nie mit der Vertreibung zurecht gekommen und leidet jedes Mal ganz offensichtlich, wenn seine Entwurzelung zur Sprache kommt , die Mutter hält sich bedeckt. Die Söhne spüren von klein auf den Schmerz der Eltern, aber auch sie tragen das Trauma, das emotionale Erbe der Familie in sich, dass sich vor allem beim Erzähler der Geschichte in der Kindheit oft durch plötzliche Traurigkeit oder dem Ausmalen von Horrorszenarien bemerkbar machte. Der Ausflug nach Schlesien soll eine Heilung, eine Befreiung für alle sein, doch können die Eltern mit ihren teils schlimmen Erinnerung an Mord, Tod und Vertreibung abschließen oder reißt die Reise in die Vergangenheit nur alte Wunden auf?
Das Buch ist wirklich toll geschrieben, vor allem versteht sich Markus Mittmann darauf, mit Worten Bilder zu malen und mit Metaphern zu jonglieren. Man wird sofort ins Geschehen mit hinein gezogen und sitzt mit der Mutter und dem Erzähler stundenlang eingequetscht auf der Rückbank des Beetle (die Rückbank der kleineren VW-Modelle sind generell nicht dafür geeignet, sie sich mit einer weiteren oder zwei Personen auf längeren Strecken zu teilen, wenn man selbst ein langes Fahrgestell hat; die Erfahrung durfte ich erst kürzlich wieder machen). Auch klappert man mit dem Erzähler sämtliche schlesische Bäckereien ab (und bekommt Appetit auf Kekse), sieht die Häuser, in denen Vater und Mutter jeweils gelebt haben, vor seinem geistigen Auge, als sehe man sich Fotografien an und man leidet mit den Eltern, empfindet die Vertreibung aus deren Heimat, als wäre man persönlich dabei gewesen. Diese Geschichte war für mich mehr als nur die Geschichte von Markus Mittmann und seinem Bruder, die mit ihren Eltern nach Schlesien fahren, es war ein Stück weit auch für mich eine Reise zu meinen niederschlesischen Wurzeln und manches Mal auch zu meinen vogtländischen, da die Bilder, die beim Lesen vor meinem inneren Auge entstanden sind, meist der heimischen Landschaft eher glichen, als der schlesischen, die ich bisher nur von Bildern aus dem Internet oder aus Büchern mit alten Ansichten kenne.
Markus Mittmann hat mit "Wodka mit Grasgeschmack" nicht nur eine unglaublich bildhafte und grundsolide Erzählung vorgelegt, man fängt als Leser auch an, sich über seine eigene Herkunft Gedanken zu machen. Die Geschichte hat mich aber auch zur Auseinandersetzung mit meinem emotionalen Erbe bewogen, das tiefenpsychologisch wie epigenetisch auf mich wirkt. Welche transgenerationale Traumata trage ich wohl noch in mir und wie lassen sich diese auflösen; mit diesen Fragen werde ich mich wohl demnächst noch einmal beschäftigen müssen.