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Veröffentlicht am 23.07.2025

Großartiger Roman über die Sehnsucht nach Freiheit

Himmlischer Frieden
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Viele Menschen kennen den originalen Videoausschnitt des sog. „Tank Man“, der sich am Tag nach dem Massaker der kommunistischen Regierung Chinas auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking 1989 den ...

Viele Menschen kennen den originalen Videoausschnitt des sog. „Tank Man“, der sich am Tag nach dem Massaker der kommunistischen Regierung Chinas auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking 1989 den Panzern der Staatsmacht entgegenstellte. Dies ist ein Bild, welches sich ins kollektive Gedächtnis mehrerer Generationen gebrannt hat. Details zu den studentischen Protesten, die sich auf die arbeitende Bevölkerung Chinas in 1989 ausbreiteten, sind meist nicht präsent. Die chinesische Autorin Lai Wen macht sich nun mit ihrem autobiografischen Prosawerk daran, ein Bild von den 1980er Jahren in China, einer von der Kulturrevolution noch immer gebeutelten Nation, auf Ebene eines ganz durchschnittlichen Mädchens zu erzählen. Dies gelingt ihr auf jeder einzelnen Seite dieses Buches bravourös. Und nebenbei gibt sie ein komplett neues Bild des „Tank Man“, was einem die Kinnlade runterklappen lässt.

Lai Wen ist 1970 in Peking geboren und aufgewachsen. Als Studentin war sie direkt in den Studentenaufstand involviert, wenn auch nicht an vorderster Front dabei. Ihren 560 Seiten starken Roman beginnt sie in der Kindheit der autobiografischen Figur Lai. Ein Mädchen, welches schon im Grundschulalter die harte Hand des Staates zu spüren bekommen hat und fortan in ständiger Angst und zuvorkommendem Gehorsam lebt. Die Autorin nimmt sich genügend Zeit, um die Lebensumstände, familiäre Dynamiken und staatliche Einflussnahmen zu beschreiben, bevor sie eigentlich erst auf den letzten 150 Seiten zu den Protesten des Jahres 1989 kommt. An keiner Stelle ist jedoch der Roman langatmig. Dieses Herleiten eines beispielhaften Lebens unter der Diktatur der Kommunistischen Partei Chinas ist hoch interessant und fesselnd geschrieben. Es ist unglaublich erhellend zu lesen, wie dieser Staat den Spagat versuchte zwischen einer kommunistischen Parteiräson und einer Marktwirtschaft, die sich an dem westlichen Modell orientiert. Dass aber eine relativ freie Marktwirtschaft und die Öffnung gegenüber westlicher Popkultur, welche in anderen noch heute abgeschotteten Staaten wie z.B. Nordkorea vollkommen unterdrückt wird, trotzdem den Bürgern und Bürgerinnen des Landes noch nicht automatisch das Gefühl von Freiheit vermittelt, wird in diesem Roman mehr als deutlich.

Lai Wen schreibt zunächst sehr ruhig und im Verlauf der Geschehnisse um den Platz des Himmlischen Friedens jedoch immer drängender. So floss bei mir während dieser letzten 150 Seiten immer wieder auch die ein oder andere Träne, was wirklich sehr, sehr selten vorkommt. Aber die Autorin hat mich gepackt mit ihrer Geschichte. Sowohl ihrer eigenen Geschichte als auch der in Romanform verdichteten Geschichte der Figur Lai und ihrer Freunde. Das Ende des Buches hat mir dann noch komplett den Boden unter den Füßen weggezogen und dem Roman das Siegel des „Highlights“ verpasst.

Ich kann diesen Roman einfach nur uneingeschränkt empfehlen. Wer etwas mehr - als nur ikonische Bilder - über die Aufstände in Peking 1989 erfahren, eine Vorstellung von einer skrupellosen Staatsmacht bekommen möchte, die mit Schusswaffen und Panzern auf ihre eigene Bevölkerung losgeht, und auch sehen, was im schlimmsten Fall im gleichen Jahr auch in der DDR bei einem falschen Schachzug während der Proteste, die glücklicherweise als eine „friedliche Revolution“ in die Geschichte einging, hätte passieren können, sollte dringend zu diesem Roman greifen. Ich jedenfalls bin absolut begeistert davon.

5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 16.07.2025

Über Verlust und generationenübergreifende, psychische Erkrankungen

Perlen
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In ihrem späten Debütroman verknüpft die Lyrikerin Siân Hughes ein mittelalterliches Gedicht „Pearl“ mit der Geschichte einer jungen Frau, die im Alter von acht Jahren unter mysteriösen Umständen ihre ...

In ihrem späten Debütroman verknüpft die Lyrikerin Siân Hughes ein mittelalterliches Gedicht „Pearl“ mit der Geschichte einer jungen Frau, die im Alter von acht Jahren unter mysteriösen Umständen ihre Mutter verliert und fortan mit dieser Leerstelle in ihrer Familie leben muss. Was genau mit der Mutter geschah, ist fraglich, aber sie verschwand einfach eines Tages, ging aus dem Haus, ließ nicht nur die achtjährige Marianne zurück sondern auch den Säugling Joe sowie den Ehemann und Vater der Kinder.

Anhand von einzelnen Kapiteln, denen jeweils der Vers des Gedichtes von „Gawain Poet“ (anonym) vorangestellt ist, erzählt Hughes nun, wie dieses Mädchen Marianne zur psychisch auffälligen Jugendlichen und jungen Erwachsenen heranwächst. Dabei verschränken sich verschiedene Faktoren bis hin zu Genese einer eigenen postnatalen Psychose. Auch schon die verschwundene Mutter zeigte psychotische Symptome und auch die Tochter von Marianne weist diese erneut auf. Leider wirft die Autorin hier verschiedene Krankheitsbilder in einen Topf, nämlich die schizoaffektiven Störungen bis hin zur erblich bedingten Schizophrenie und der, im Roman als postnatale Depression bezeichnete, postnatale Psychose. Diese Erkrankungen können sich durchaus gegenseitig bedingen, sind hier aber meines Erachtens für Laien schwer auseinanderzuhalten.

Die Autorin bemüht das Mittel der unzuverlässigen Erzählerin, was einfach aus Erinnerungsverzerrungen natürlich entstehen kann. Sie erwähnt die Möglichkeit der verfälschten Erinnerung allerdings ein wenig zu häufig ganz offen im Text. Hier hätte mehr Spannung dadurch aufgebaut werden können, dass es auch für die Lesenden lange offen bleibt, was tatsächlich passiert ist. Mit der Mutter. Mit Marianne. Mit dem Vater. Mit der Familie allgemein. Die Ausführungen zu Mariannes Jugend erscheinen mir hier ein wenig zu abschweifend. Letztlich bleiben die tatsächlichen Geschehnisse um das Verschwinden der Mutter genauso offen, wie auch Mariannes Geisteszustand zum Ende des Romans hin. Das ist gut gemacht, wenn es denn so auch intendiert war von der Autorin. Es wirkt alles ein bisschen zu gewollt nebulös gehalten. Wodurch auch eine Verbindung zu den Hauptfiguren nur schwer zustande kommt.

Für mich gab es keine einprägsamen Sätze und Passagen im Roman. Insgesamt habe ich das Buch gern gelesen, es wird wohl nur leider nicht so viel davon nachhallen.

3/5 Sterne

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Veröffentlicht am 06.07.2025

Eindrückliches, intersektionales Porträt zweier kongolesischer Frauen

Wohin du auch gehst
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Der Debütroman der 1987 in Kinshasa geborenen Autorin Christina Fonthes überzeugt durch seine Einblicke in die Leben zweier Frauen aus Zaire/Demokratische Republik Kongo, die auf den ersten Blick unterschiedlicher ...

Der Debütroman der 1987 in Kinshasa geborenen Autorin Christina Fonthes überzeugt durch seine Einblicke in die Leben zweier Frauen aus Zaire/Demokratische Republik Kongo, die auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein könnten und doch eng miteinander verbunden sind. Dabei schafft es die Autorin gekonnt Intersektionalität als übergeordnetes Konstrukt immer wieder durchscheinen und lebendig auftreten zu lassen.

Wir lernen in „Wohin du auch gehst“ zwei Frauen auf zwei verschiedenen Zeitebenen kennen. Da ist zum einen Mira, deren Erzählfaden sie schon kurz als kleines Kind in 1974 in Kinshasa, Zaire, zeigt und später ganz ausführlich als 16jährige ab 1981. Sie ist eine lebensfrohe Jugendliche, die gern mit ihrer Freundin tanzen geht und dafür auch mal die gesellschaftlichen Regeln biegt. Denn sie gehört der aufsteigenden Klasse Zaires an, das Umfeld, in dem sie sich bewegt, eher den mittellosen Lebemenschen. Hals über Kopf verliebt sie sich in einen Gitarristen, was ihre Eltern gar nicht gern sehen. Und da ist Bijoux, die wir im Alter von Mitte Zwanzig im London des Jahres 2004 erstmals kennenlernen. Sie hat die ersten zwölf Jahre ihres Lebens in ihrem Geburtsort Kinshasa verbracht, musste jedoch zu ihrer strengen, sogar verbitterten Tante Mireille nach London ziehen und lebt nun noch immer dort bei ihrer Tante. Mit Tantine Mireille geht sie regelmäßig in die Kirche „The Mountain“, eine evangelikale Kirche, die unbarmherzig starren Vorstellungen folgt. Nur ist Bijoux lesbisch und seit einem Jahr in einer geheimgehaltenen Beziehung zu einer anderen Frau. Ein Lebenswandel, der für ihre rigide Tante jenseits von Gut und Böse liegt. Recht schnell wird klar, dass es sich bei ihrer Tante Mireille um die lebensfrohe und offene Mira aus dem ersten Zeitstrahl handelt und wir begeben uns über die nächsten 400 Seiten auf die Spur, um nicht nur zu erfahren, wie aus Mira diese so ganz andere Tantine Mireille werden konnte, indem wir dem Zeitstrahl aus 1981 fortschreitend folgen, wir erfahren auch, wie es mit Bijoux weitergeht und was das Leben für sie in den folgenden Jahren zu bieten oder eben nicht zu bieten hat.

Meines Erachtens verwebt Fonthes inhaltlich wie auch sprachlich geschickt diese beiden Lebenswege miteinander und leitet psychologisch unglaublich authentisch her, wie sich die Figuren fortan verhalten bzw. in der Vergangenheit verhalten habe und zu welcher Art Mensch sie haben werden müssen. Durch den gekonnten Wechsel zwischen den Erzählfäden entsteht ein unglaublicher Sog und das Buch wird ein wirklicher Pageturner, ohne dabei an Tiefe zu verlieren. Außerdem gibt der Roman Einblicke in zum Beispiel eine lesbische Szene, in der sich vorrangig Schwarze Frauen bewegen. Ein von der Mainstreamgesellschaft selten gesehenes Milieu. Wenn dann auch noch eine Figur in einem Café für lesbische Frauen auftaucht, die vollkommen alltäglich und unaufgeregt im Rollstuhl sitzt und genauso agiert, wie jede andere Frau auch im Raum, nur eben im Sitzen, ist die Intersektionalität des Textes gesetzt. Die Autorin trägt diese Eigenschaften von marginalisierten Gruppen allerdings nie zu dick auf, sie sind einfach da und fügen sich absolut ins Buch, die Geschehnisse, die Figuren ein. Die Autorin bildet die Gesellschaft mit vielen Facetten ab. Allein zum Ende hin wurde mir ein klitzekleines bisschen der Plot um die Familiengeheimnisse herum runtererzählt, was der Klasse des Gesamtwerks aber keinen Abbruch tut.

Was soll ich noch sagen? Ich hing der Autorin quasi an den Lippen, habe mit den Figuren mitgefiebert und konnte das Buch kaum aus der Hand legen. „Wohin du auch gehst“ erfüllt für mich alle Kriterien eines Highlights und das ist es auch. Also gibt es eine klare Leseempfehlung von meiner Seite für diesen interessanten Debütroman, der nach Verbindungen über Kontinente, Hautfarben, sexuelle Orientierung, Klasse und so viele Eigenschaften hinweg sucht. Toll!

4,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 04.07.2025

Weder „warmherzig“ noch „schonungslos“

We Burn Daylight
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Auf dem Cover von Bret Anthony Johnstons zweitem Roman „We Burn Daylight“ ist ein Zitat des Lobes vom The Boston Globe abgedruckt, welches in seiner Kürze sagt: „So warmherzig wie schonungslos“. Leider ...

Auf dem Cover von Bret Anthony Johnstons zweitem Roman „We Burn Daylight“ ist ein Zitat des Lobes vom The Boston Globe abgedruckt, welches in seiner Kürze sagt: „So warmherzig wie schonungslos“. Leider kann ich in diesem Roman beides nicht oder nur minimal angedeutet erkennen. Um noch weiter zu gehen: Der Roman, der seinen Plot an die realen Ereignisse eines missglückten Behördeneinsatzes gegenüber einer dubiosen, christlichen Sekte in Texas in 1993 entlang führt, hat mich wirklich enttäuscht.

Auf Plotebene verfolgen wir als Hauptfiguren zwei Teenager, Roy und Jaye, die beide 14 Jahre alt sind und sich ineinander verlieben. Nur, dass Jaye mit ihrer Mutter innerhalb der Sekte lebt und Roy der Sohn des Sheriffs ist. Somit stehen sie scheinbar auf zwei verschiedenen Seiten dieser Geschichte, was sie, mit der Deutung des Buchtitels „We Burn Daylight“ als Shakespeare-Zitat aus „Romeo und Julia“ die beiden jugendlichen Liebenden zu einem modernen Romeo-und-Julia-Equivalent machen. Tragisch geht nicht nur das Original von Shakespeare aus, sondern tragisch sind auch die Geschehnisse um die mit schweren Waffen ausgestatteten Sekte und eine schief gelaufende Razzia mit anschließender Belagerung des Farmgeländes.

Auf den ersten Blick haben mir sehr viele stilistische Entscheidungen des Autors wirklich gefallen, aber er konnte sie einfach in meinen Augen nicht gut umsetzen. So entscheidet sich Johnston dafür, das fast 500 Seiten starke Buch in vier große Abschnitte und einen Prolog einzuteilen. Die vier Teile des Buches sind nach den vier Pferden der Apokalyptischen Reiter benannt. Das weiße Pferd steht für Jesus, das feuerrote Pferd für den Krieg, das schwarze Pferd für Hunger und das fahle Pferd für den Tod. Die Handlung in diesen vier Teilen, welche sich in einem sehr engen Zeitraum von Januar 1933 bis März 1993 bezogen auf die Ereignisse auf der Farm des Sektenführers abspielen, soll somit unten diesen Vorzeichen der vier Apokalyptischen Reiter stehen. Das passt zu Beginn noch gut, wenn uns Perry Cullen, der sich zukünftig nur noch „Lamb“ (also wie „das Lamm Gottes“) nennt, als selbsternannter Prophet, der seine Schäfchen zu sich ruft, vorgestellt wird. Das passt inhaltlich in die Teilüberschrift, allerdings passt die Figur nicht, aber dazu später mehr. Mitunter stellt er sich Jesus gleich somit passt zu ihm das weiße Pferd. Allerdings schon im zweiten Teil, wenn man den „Krieg“ erwartet, passiert noch gar nicht das, was dort eigentlich reingehören würde: nämlich die gewaltsame Razzia. Und auch die folgenden Überschriften halten – ohne hier ins Detail zu gehen – nicht, was sie versprechen. Mit kleinen Verschiebungen innerhalb der Ploteinteilung zu den Teilüberschriften hätte diese strukturelle Idee meines Erachtens wirklich sehr gut werden können.

Die nächste sehr gute stilistische Idee des Autors ist neben den wechselnden personalen Kapiteln zwischen Roy und Jaye auch noch Kapitel einzuflechten, die Ausschnitte aus Podcast-Sendungen beinhalten. Dieser Podcast ist dreißig Jahre nach den Ereignissen in Waco, Texas, angesiedelt und beinhaltet Interviews von verschiedenen Beteiligten der damaligen Ereignisse. Diese Möglichkeit der Rückschau auf die fatalen Geschehnisse in 1993 wäre ein perfektes Stilmittel gewesen, um das Geschehene nachträglich einzuordnen. Leider verschießt auch hier Johnston sein Pulver, da die Personen einfach mitunter so schwer auseinanderzuhalten sind, dass man über die 500 Seiten hinweg mitunter den Überblick verliert, wer hier eigentlich wer ist. Auch erscheinen mit die Interviewauszüge mitunter wenig hilfreich, was die Handlung betrifft, wenngleich sie durchaus auch aufzeigen, welche Fehlentscheidungen hier auf Seiten der Regierungsorganisationen getroffen wurden, die zur Verschlimmerung der Situation auf der belagerten Farm beigetragen haben. So muss ich Johnston zugestehen, dass er sowohl auf Seiten der Sektenanhänger als auch auf Seiten der Regierungsorganisationen verschiedene Akzente setzt, was Fehler aber auch positive Aspekte angeht.

Was mich allerdings stilistisch am meisten gestört hat ist, wie die Figuren konstruiert sind und vor allem wie sie miteinander umgehen. Sowohl im Kleinen, wenn sie miteinander kommunizieren als auch im Großen, wenn es um Entscheidungen innerhalb ihrer Beziehung zueinander geht. Vieles ist einfach unplausibel und psychologisch nicht nachvollziehbar. Und leider betrifft dies auch wirklich alle Figuren. Sie sind meines Erachtens wirklich in sich nicht gut entworfen und dargestellt. Allen voran natürlich Lamb selbst, der im Klappentext als „charismatisch“ beschrieben wird. An keiner Stelle des Romans wurde mir klar, warum diese Menschen ihm folgen in seinen wilden Prophezeiungen, außer eine Mörderin auf der Flucht und die portugiesische Familie, die als Illegale in den USA leben. Aber ehrlich, gerade aus Portugal?! Na ja, aber bei denen weiß man wenigstens, dass sie einfach nur in erster Linie pragmatisch einen Unterschlupf brauchten, der scheinbar von den Behörden unbeachtet bleibt.

Von allen stilistischen Fragen abgesehen, muss ich betonen, dass vielleicht dieses Buch besser funktioniert hätte, wenn es dann nicht auch noch 500 Seiten lang gewesen wäre. Ich empfand den Roman so dermaßen zäh, dass ich zwischendurch sogar eine Pause machen musste, weil es sich wie Treibsand anfühlte. Der Autor verwendet viel zu viel Zeit mit Nebensächlichkeiten und schafft es nicht, die Handlung knackig zu gestalten. Wenn dann auch noch keine plausiblen Figuren – ob sie nun Sympathieträger oder nicht wären, aber leider haben die Figuren fest keinerlei Regung bei mir ausgelöst – existieren, die den Roman tragen und die Sprache nur mittelmäßig ausfällt, zeihen sich 500 Seiten wie Gummi. Hier kann ich nur ein Zitat aus dem Buch anbringen:

„Was immer gesendet wurde, ich schaute es mir an. Ich konnte nicht wegsehen. Niemand konnte das. Wir waren alle Geiseln.“ Hier geht es zwar um die fragwürdige Medienberichterstattung über die Belagerung der Sekte, aber es könnte auch eine Beschreibung sein, wie ich mich beim Lesen fühlte: Wie eine unfreiwillige Geisel. Ich musste das Buch lesen, weil es ein Rezensionsexemplar ist, hätte es aber eindeutig abgebrochen, wenn dieser Zwang nicht dagewesen wäre.

Somit kann ich dieses Buch leider nicht weiterempfehlen. Es trägt gute schriftstellerische Ideen in sich, die allerdings nicht gut ausgeführt wurden.

2,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 19.06.2025

Vom Finden eines neuen Schlaf- und Lebensrhythmus

Der Schlaf der Anderen
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In ihrem zweiten Roman erforscht Tamar Noort auf prosaische Art und Weise den Einfluss von gestörtem Schlaf auf unsere Persönlichkeit, unsere Beziehungen, unser Leben. Dabei treffen zwei Frauen Anfang ...

In ihrem zweiten Roman erforscht Tamar Noort auf prosaische Art und Weise den Einfluss von gestörtem Schlaf auf unsere Persönlichkeit, unsere Beziehungen, unser Leben. Dabei treffen zwei Frauen Anfang Vierzig an einem ungewöhnlichen Ort aufeinander: Im Schlaflabor. Janis ist eigentlich ausgebildete Fachkrankenschwester und vollkommen überqualifiziert für ihren Job als Nachtwache in genau diesem Schlaflabor. Sie schaut ihren „Gästen“ dabei zu, wie sie schlafen, und findet dadurch selbst kaum noch geregelten Schlaf. Sina ist Lehrerin kurz vor einer Schlafmittelabhängigkeit, die sich ins Schlaflabor begeben muss, weil der neue Arzt ihr kein Zolpidem mehr verschreibt und sie einen folgenschweren Fehler unter Schlafmangel begeht. Nun treffen die beiden in einer Nacht aufeinander und es entsteht eine Verbindung über dieses rein funktionale Setting hinaus, die über mehrere Monate anhält. Ein Roman über das Leben außerhalb der gesellschaftlichen Norm und eine betörende Freundschaft mit Hindernissen.

Tamar Noort konnte mich direkt mit der ersten Seite ihres Romans für ihren Schreibstil gewinnen. Schnörkellos und gleichzeitig leise poetisch erfasst sie Menschen und Situationen, die irgendwie neben sich selbst und neben der Realität der Mehrheit stehen. Im Wechsel zwischen Kapiteln mit Janis als Hauptfigur und mit Sina als Hauptfigur nähern wir uns diesen Frauen und sie sich selbst an. Langsam erfahren wir immer mehr über ihre Hintergründe und wie sie an diesen Punkt der Schlaflosigkeit in ihrem jeweiligen Leben gekommen sind. Was hält diese beiden Frauen wach? Was lässt ihnen keine Ruhe? Und wir dürfen sie dabei begleiten, wie sie nicht nur einen ganz eigenen Schlafrhythmus sondern auch für sich selbst einen ganz neuen Lebensrhythmus finden.

Beide Frauen unterliegen gewissen Zwängen und beide werden für uns Leser:innen nachvollziehbar dargestellt. Immer sind wir ganz nah dran an ihren unerfüllten Bedürfnissen und Wünschen und ihrem persönlichen Weg aus dem Hamsterrad, ohne uns letztlich eine Pauschallösung anzubieten, sondern lediglich mögliche Wege aufzuzeigen.

So konnte mich dieser kurzweilige und trotzdem tiefgründige Roman um zwei schlaflose Frauen bis zur letzten Seite fesseln, weshalb ich eine Lektüre empfehle und selbst den Debütroman der Autorin auf meine Wunschliste setzen werde.

4/5 Sterne

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