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Veröffentlicht am 17.06.2025

Das Leben mit all seinen Strapazen

Der Schlaf der Anderen
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Janis Gast ist spät dran. Normalerweise kommen ihre nächtlichen Besucher zu früh und sitzen im Pyjama auf ihrem Bett, während sie den Raum betritt, um sie zu verkabeln. Janis hat schon seit zwanzig Jahren ...

Janis Gast ist spät dran. Normalerweise kommen ihre nächtlichen Besucher zu früh und sitzen im Pyjama auf ihrem Bett, während sie den Raum betritt, um sie zu verkabeln. Janis hat schon seit zwanzig Jahren keinen normalen Schlafrhythmus mehr. Zuerst leistete sie Schichtdienst auf der Station und seit zwei Jahren den Nachtdienst im Schlaflabor. Sie lebt allein und hat sich mit sich arrangiert.

Sina Jott, wie der Buchstabe, heißt ihre Besucherin, die sie jetzt präparieren wird. Sie legt Bauch- und Brustgurt an, um Herz und Atmung zu überwachen, verkabelt Beinarterien und Kopfhaut. Sina macht ein Selfie für die Kinder und Janis entschlüpft ein Du, was sie sofort einen Schritt zurücktreten lässt, um den Raum zwischen ihnen zu vergrößern. Sie hat noch nie einen Gast geduzt, versucht immer Distanz zu wahren. Sie weiß selbst wie unangenehm es ist, von Patienten mit Liebes oder Herzchen oder einfach mit Du angesprochen zu werden. Wie es ist, wenn Patienten die WC Türe offen lassen, ihre Genitalien nicht bedecken oder sich einfach in ihre Arme fallen lassen. Dann setzt sie Grenzen und erinnert daran, dass auch sie eine Intimsphäre hat.

Sina leidet schon lange unter Schlaflosigkeit. Es fing mit der wütenden Ida an, ihre Erstgeborene. Sie hat nächtelang durchgeschrien. Matthias interessierte das nicht, der weicht heute noch keinen Millimeter von seinen Ritualen ab. Als sie Ben gebar, war es ähnlich. Jede Nacht um 2 Uhr 7 rattert die Nordwestbahn nach Delmenhorst durch ihren Garten und pflügt sich durch ihr Gehirn. Ihre Hausärztin hatte ihr seit Jahren Zolpidem verschrieben, aber jetzt ist sie in den Ruhestand gegangen.

Fazit: Tamar Noorts zweiter Roman verhandelt das Leben mit all seinen Strapazen, unerfüllten Erwartungen und erloschenen Träumen. Sina ist Lehrerin und versucht ihren Beruf und das familiäre Wohlbefinden zu händeln. Ihr selbstbezogener Mann ist ihr dabei keine Hilfe. Wie sehr sie unter ihrer Schlaflosigkeit leidet, kann sich nur vorstellen, wer selbst damit Erfahrung hat. Die ruhige, geerdete Janis bewegt sich in einem völlig anderen Leben als die humorvolle, quirlige Sina. Zwischen beiden entwickelt sich eine Freundschaft, die scheinbar nur von kurzer Dauer ist. Ich mochte die Geschichte sehr. Die Konflikte zwischen den Charakteren sind verständlich dargestellt. Das mangelnde Verständnis, das Sina entgegengebracht wird und sich in dem Erwartungsdruck entlädt, sie müsse funktionieren, ist tragisch. Was sie in ihrem Leben nicht findet, bekommt sie von Janis, die gerne ihr Ohr öffnet und sich kümmert. All das ist hervorragend rübergebracht. Eine ganz interessante tiefe Geschichte über die Möglichkeit von Veränderung, die mich glänzend unterhalten hat.

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Veröffentlicht am 17.06.2025

Sehr warmherzige Geschichte

Strandgut
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Buckys Hüftpfannen brennen im Wettstreit. Er will nicht länger im Bett liegen, aber auch nicht aufstehen. Die Einladung nach Scarborough erschwert sein Denken. Singen soll er, nachdem er ein halbes Jahrhundert ...

Buckys Hüftpfannen brennen im Wettstreit. Er will nicht länger im Bett liegen, aber auch nicht aufstehen. Die Einladung nach Scarborough erschwert sein Denken. Singen soll er, nachdem er ein halbes Jahrhundert seine Kehle einzig für Whisky geweitet hat und geflogen ist er noch nie. Ein Musikfestival, und sie wollen ihn gut bezahlen, wenn er die zwei Songs bringt, die je veröffentlicht wurden.

Er muss dringend ein Rezept einlösen. Dieses Gefühl, wenn die Wirkung der einen Tablette nachlässt und die der anderen einsetzt, nennt er die „Goldene Stunde“. Es ist das Gefühl der Zeit, als er in den besten Jahren seines Lebens war und noch kein Hauch des Alters winkte. Ohne Krankenversicherung ist das mit dem Rezept allerdings schwierig, aber er kennt die Ecken in Chicago, an denen sie stehen und gegen ein paar Dollar gerne etwas abgeben. Leuten wie ihm ist das mit dem viel Leisten und dann ganz nach oben kommen, nie gelungen. Für Leute wie ihn bleibt der amerikanische Traum ein Mythos.

Er hatte mit Maybellene genau die richtige Frau gefunden. Im Vergleich zu ihrem Verlust sind die Schmerzen nichts. Als er sie an diese Blutkrankheit verlor, hatte sie einen schwarzen Strudel hinterlassen, der ihn hinabzusaugen drohte. Jeden Tag ohne ihr Lachen, den tadelnden Blick, ohne all die Liebe, verblasste er etwas mehr, bis er sich ganz auflösen würde. Er wird es wagen, er fliegt in dieses englische Kaff und sieht sich das Meer an, ein paar alte Gemäuer soll es dort auch geben. Dann singt er, nimmt die Kohle und haut wieder ab.

Fazit: Benjamin Myers hat aus dem Nähkästchen geplaudert. Die Geschichte erzählt von einem Mann, der die Siebzig überschritten hat. Aus einfachen Verhältnissen kommend hat er ein Leben voller Verluste hinter sich gebracht. Verschiedene Dramen, die er nicht verursacht hat, haben ihn vorzeitig altern und zum Schluss resignieren lassen. Seine Einsamkeit ist so spürbar und das macht die Geschichte so bewegend. Er lässt seinen Protagonisten immer wieder aus der Gegenwart heraus Rückschau halten und nach und nach entblättert sich das ganze Leid dieses Mannes, der sich immer durchgekämpft hat, dem jedoch, als er seine Frau verlor, die Puste ausging. Der Charakter ist wundervoll gezeichnet, ein ruhiger Mann, ein bisschen derb, ein bisschen einfach gestrickt, aber voller Wärme. Und diese Kombination bringt mich dazu, dass ich den Hauptakteur, genau wie sein Umfeld, nur ins Herz schließen kann. Zwischendurch gibt es eine Menge Pathos, aber so stelle ich mir die meisten Amerikaner vor, übertrieben. Am Ende wird es etwas unglaubwürdig, aber das hat mich nicht gestört, denn was sollte ich „Bucky“ anderes wünschen als ein „Happy End“?

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Veröffentlicht am 16.06.2025

Unterhaltsam aber nicht rund

Die Frau hinter der Bühne
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Die junge Mairéad folgt ihrem Traum. Sie geht aus einer dörflichen Provinz Irlands ins multikulturelle London, um Theaterregisseurin zu werden. Um ihr WG-Zimmer halten zu können, arbeitet sie an einem ...

Die junge Mairéad folgt ihrem Traum. Sie geht aus einer dörflichen Provinz Irlands ins multikulturelle London, um Theaterregisseurin zu werden. Um ihr WG-Zimmer halten zu können, arbeitet sie an einem kleinen Theater unter Margaret, der dortigen Kostümbildnerin. Margaret ist anspruchsvoll, distanziert, sparsam und trockene Alkoholikerin. Sie verlangt Mairéad einiges ab, deren Alltag aus waschen, nähen, ausbessern, bügeln und Einkäufen besteht.

Mairéad muss Scott Gilbourne vermessen. Der schottische Schauspieler raubt ihr den Atem. Sie ist kurz angebunden und geht nicht auf seine Witze ein. Seine Fragen beantwortet sie ausweichend. Als sie vor ihm in die Knie gehen muss, gibt die Naht ihrer Hose nach und entblößt ihren Hintern vom Becken bis zum Schritt. Mairéad stürmt aus dem Raum zur Toilette und weint, bis sie Nasenbluten hat.

Die Mitarbeiterin Jacquis, die zweite des Kleiderateliers, steht auf den Produzenten Oliver Bow. Sie glaubt, dass er ihr zu einer Karriere verhelfen könnte, dass er ein arroganter Unmensch ist, weiß sie zu ignorieren. Erst kürzlich hatte er seine Assistentin mit Dicken-Witzen vergrault, weil sie volle Bezahlung für all ihre Stunden verlangte. Er bringt Schauspielerinnen zum Weinen und hackt auf schwulen Mitarbeitern rum, aber im Grunde macht er auch nur seinen Job.

Fazit: Elaine Garvey hat mich in ihrem Debütroman mitgenommen, um mich in die Welt des Theaters hinter die Kulissen abtauchen zu lassen. Hier herrscht ein rauer Ton und die Mitarbeiter dürfen nicht zimperlich sein. Interessant fand ich, wie die Autorin ihre Protagonistin ausgearbeitet hat. Sie ist eine schüchterne junge Frau aus der Provinz, gefüttert mit den Anweisungen eines tadellosen Benehmens und der Zugehörigkeit zur katholischen Kirche. Ihrem Vater rutscht leicht die Hand aus und er und ihre Mutter liefern sich von je her erbitterte Zweikämpfe, ringen um die familiäre Aufmerksamkeit. Die Autorin hat sich für eine Ich-Erzählung entschieden und schildert alles aus Mairéads Sicht. Der Konflikt zwischen ihrem Vater, der wollte, dass sie spurt und den Männern am Theater, die zu Machtmissbrauch neigen, gefällt mir. Was mir nicht so gut gefallen hat, ist, dass die Autorin beim Lesenden einiges voraussetzt. Sie lässt Personen und deren Äußerungen einfließen, als müsste ich sie kennen. Ebenfalls erschwert hat mir meinen Lesefluss die Aneinanderreihung von Szenen, die ich mir aber nicht so recht vorstellen konnte. Insgesamt eine unterhaltsame Geschichte, die vielleicht etwas zu viel von mir erwartet hat.

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Veröffentlicht am 11.06.2025

Ein feines Stück Literatur

Die Tänzerin
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Heute in der Stadt von damals, die sich so sehr verändert hatte, dass man glauben konnte, die Touristen würden den Ort belagern, kamen ihm Bilder in den Sinn. Und dann an einer roten Ampel sah er den Mann, ...

Heute in der Stadt von damals, die sich so sehr verändert hatte, dass man glauben konnte, die Touristen würden den Ort belagern, kamen ihm Bilder in den Sinn. Und dann an einer roten Ampel sah er den Mann, den er seit Jahren tot geglaubt hatte. Serge Verzini, aber vielleicht irrte er sich auch. Als beide die Straße überquerten und auf gleiche Höhe kamen, sprach er ihn an. Trotz der Ähnlichkeit der groben Gesichtszüge gab der Mann vor, nicht Verzini zu sein, obwohl er einen Siegelring mit den Initialen S. V. trug. Nachdem die erste Skepsis von dem Kerl abgefallen war, gab der ihm seine Telefonnummer, damit sie sich einmal auf ein Glas Wein treffen könnten.

Die Tänzerin und er machten vor über fünfzig Jahren lange Spaziergänge. Sie hatte nach dem Training das Bedürfnis nach mehr Bewegung. Nicht die Sprache oder die großen Worte verband sie. Sie konnten schweigsam, jeder seinen Gedanken lauschend nebeneinander her gehen. Er hatte sie durch Verzini kennengelernt, der dem ambitionierten jungen Chansonnier ein möbliertes Zimmer vermietete.

Die Tänzerin bezog eine große Wohnung und holte ihren Sohn nach Paris, von dem er bis dahin keine Ahnung gehabt hatte. Sie warteten am Bahnsteig, beobachteten den einfahrenden Zug und die aussteigenden Passagiere. Fast hatten sie schon die Hoffnung aufgegeben, als ein schüchterner kleiner Junge, vielleicht sechs oder sieben Jahre, den Zug verließ. Die Tänzerin ließ ihn auf sich zukommen und ging zaghaft und etwas unbeholfen mit ihm um und er tat es ihr gleich, als hätten sie sich lange nicht gesehen. Der Vater, so erfuhr er von Verzini, war verschwunden, als sie mit dem Jungen schwanger war.

Fazit: Patrick Modiano, vielfach ausgezeichneter Autor (Literaturnobelpreis 2014) hat eine amouröse, knapp hundert Seiten umfassende Geschichte erschaffen. Er lässt seinen Protagonisten auf das Paris der Siebziger-Jahre zurückblicken. Sein Studium verschlägt ihn in einen elitären Künstlerkreis, in dem sich alle Beteiligten um die Hauptperson, die Balletttänzerin drehen. Sie ist unglaublich gut gezeichnet, sowohl weich und zart als auch diszipliniert, leidenschaftlich und introvertiert. Eine Frau, die ihre Lebenserfahrung aus dem Beobachten zieht. Der Chansonnier fühlt sich ihr unterlegen, wirkt wie ein Anhängsel, das seiner Herrin folgt, ohne dass sie das von ihm verlangt hätte. Der ruhige Mann scheint sich zu ihr hingezogen zu fühlen, macht aber keine Anstalten einer Eigeninitiative. Er ist immer auf Abruf bereit und kümmert sich wie ein Vater um ihren Sohn, während sie sich zu vielen, Frauen wie Männern hingezogen fühlt. Die Geschichte plätschert angenehm vor sich hin. Die Stimmfarbe ist unaufgeregt schwelgend, so als würde der Autor mir einen Schwank aus seiner Jugend erzählen. Die Stimmung ist deutlich französisch, auch durch die vielen Straßennamen, die er verwendet, um Atmosphäre zu erzeugen. Ein feines Stück Literatur, das mich vollumfänglich unterhalten hat.

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Veröffentlicht am 09.06.2025

Endzeitstimmung

Es sind nur wir
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Die Füchsin dringt in das Haus ein. Springt durch das Fenster auf die Küchenzeile, verharrt kurz, orientiert sich. Elegant gleitet sie auf den Fußboden, durchquert den Flur und bleibt vor der schweren ...

Die Füchsin dringt in das Haus ein. Springt durch das Fenster auf die Küchenzeile, verharrt kurz, orientiert sich. Elegant gleitet sie auf den Fußboden, durchquert den Flur und bleibt vor der schweren Metalltüre stehen. Sie kratzt am Eisen, noch einmal, aber die Tür bleibt zu, wie gestern und vorgestern.

Die Tage sind zum Verwechseln ähnlich. Während des Probealarms gießt er seine Blumen und überlegt, wie unwahrscheinlich grausam es wäre, würden sich echte Katastrophen hinter den Sirenen verbergen. Ein explodierendes Atomkraftwerk, ein Krieg, der unerwartet ein paar Hundert Kilometer näher rückt, startende Raketen, einschlagende Raketen. Und die Leute gießen einfach ihre Blumen und leben ihr Leben.

Er hat bis vor Kurzem Informatik unterrichtet, dann aber Antrag auf Dienstfreistellung gestellt, was die Schulleiterin sichtlich erleichterte. „Alles Gute für Ihr Projekt.“ Alles Gute für dein Buch, die Kollegen. Er sammelte schon seit einer Weile Geschichten über das Verlieren und erzählte zu schnell, zu vielen Leuten davon, die jetzt alle glauben, daraus würde ein Buch entstehen.

Nebenbei entwickelt er für ein Start-up Unternehmen Computerspiele. Dabei stellte er fest, wie schwer sich Vögel in das Game implizieren ließen. Die werden nie überzeugend lebensecht. Jetzt hat er den Job, sich ausgiebig damit auseinanderzusetzen und deswegen ist er unterwegs zum Birdwatching. Dort lernt er Mascha kennen. Sie ist Prepperin und hat alles akribisch für das Ende vorbereitet.

Fazit: Martin Peichl hat eine Geschichte geschrieben, mit der er eine Endzeitstimmung thematisiert. Sein Protagonist lässt sich nach dem tragischen Ereignis eines Mitschülers suspendieren. Er hat viel Zeit, über das Leben nachzudenken und sich in die Natur einzufinden. Die Schuldgefühle und seine Traurigkeit versucht er mit dem Daten von Frauen zu unterdrücken. Dabei geht es nur um eins, er bleibt emotional distanziert. Kurz bevor sich zahlreiche Umweltereignisse abspielen, die den Kipppunkt deutlich machen, lernt er Mascha kennen, die in einem Haus mit Bunker und einer Füchsin lebt. Und zum ersten Mal kann er die Nähe zu einem anderen Menschen aushalten, sich sogar wohlfühlen. Der Autor schreibt in der Gegenwart, das macht die Geschichte sehr lebendig. Die Sprache ist unaufgeregt, fast entspannend. Am Ende jedes Kapitels stellt er passende, ja philosophische Fragen, mit denen er sich auseinandersetzt. Wie die Innenschau im wirklichen Leben. Mir hat die Schreibweise des Autors, die ich sehr besonders finde, absolut gefallen.

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