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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 10.06.2024

Vom Erwachsenwerden und von schmerzhaften Erlebnissen

MAAME
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Maddie leistet Care-Arbeit und verpasst dabei ihre frühen 20er-Jahre mitsamt all den Lebensabschnitten, die uns ins Erwachsenwerden begleiten. Da ist der Spitzname „Maame“ Programm, den sie von ihrer aus ...

Maddie leistet Care-Arbeit und verpasst dabei ihre frühen 20er-Jahre mitsamt all den Lebensabschnitten, die uns ins Erwachsenwerden begleiten. Da ist der Spitzname „Maame“ Programm, den sie von ihrer aus Ghana stammenden Familie bekommt. Denn „Maame“ heißt sowas wie Frau, Mutter, „Person, die sich um jeden kümmert“ oder einfach „verantwortlich für alle(s)“.

Wie und ob Maddie der Sprung in die Welt einer selbstständigen und starken jungen Frau gelingt, erfahren wir in diesem Roman.

🧡💙🩷

Was bin ich durch die Seiten gerauscht! Wenn ich ein Buch mit fast 500 Seiten mit wenigen Unterbrechungen durchlese, dann muss einfach sensationell geschrieben sein. Sowohl Jessica George als auch der Übersetzerin gelingt es mit einem so lebendigen und authentischen Schreibstil, dass ich Maddies Geschichte nicht nur (super gerne) lese, sondern miterlebe.

Besonders geliebt habe ich daran, dass Maddie so ein normales Mädchen ist mit so normalen Erlebnissen und Learnings, wie es so vielen Mädchen in den frühen 20ern geht. Zumindest ich konnte mich ganz wunderbar mit ihr identifizieren, auch wenn Maddies Entwicklung - bedingt durch ihre (teilweise selbst auferlegten) Verpflichtungen zuhause - erst recht spät beginnen konnte.

An vielen Stellen habe ich mir gewünscht, es hätte dieses Buch schon knapp 15 Jahre früher gegeben. Denn ich finde es sehr bereichernd und so wichtig, was Maddie uns über das Selbstwertgefühl, über eine gleichberechtigte, würdevolle S
xualität, über Mikroaggrssionen, Alltagsrssismus und Feminismus mitgibt.

Zwei weitere Themen, die unfassbar spannend sind und in MAAME einen sehr hohen Stellenwert bekommen, sind Trauer - und damit verbunden der Umgang mit einem schrecklichen Verlust - und Freundschaft. Und nach dem Lesen war ich wirklich richtig traurig, dass es in meinem Leben keine Shu und Nia gab und gibt. 💔 Wie wundervoll kann Freundschaft bitte sein? 🥹

Eine riesige Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 18.05.2024

Was das Auge des Wals erzählt

Zur See
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Da sind die fünf Sanders - Hanne und Jens mit ihren drei erwachsenen Kindern Ryckmer, Eske und Henrik. Sie leben ein Inselleben vor der Nordseeküste und wir dürfen sie ein Jahr lang dabei begleiten. Und ...

Da sind die fünf Sanders - Hanne und Jens mit ihren drei erwachsenen Kindern Ryckmer, Eske und Henrik. Sie leben ein Inselleben vor der Nordseeküste und wir dürfen sie ein Jahr lang dabei begleiten. Und dann ist da noch der Inselpastor, der die Balance finden muss zwischen seiner Ehe und der Arbeit in der Kirche.

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Dörte Hansen lässt uns in „Zur See“ tief blicken in die Seelen der Sanders und des Inselpastors. Die Charaktere könnten verschiedener nicht sein, und ganz bestimmt findet man sich selbst in einem der Inselbewohnerinnen wieder.

Mit großer Sorgfalt und ganz viel Feingefühl gelingt es der Autorin, die Gefühle jedes Einzelnen authentisch und nachvollziehbar aufs Papier zu bringen. Selbst wenn ich eine Figur zuerst auch noch so verschroben fand, entwickelte ich im Laufe der Kapitel Verständnis und Empathie.

Eine Museumsführerin, ein Vogelwart, ein Fährkapitän, eine Altenpflegerin, ein Strandgutkünstler und ein Pastor - verschiedener geht es kaum und dennoch teilen sie ähnliche Wünsche und Sorgen.

Es ist das starke Heimatgefühl, das alle sechs eint. Die Verbundenheit mit der Insel und das Bröckeln des Fundaments. Durch den Klimawandel, durch den Tourismus, durch das harte Inselleben, durch familiäre Katastrophen, durch den Verlust von Tradition und Sprache, durch Missverständnisse und Suchtprobleme, durch eine Kindheit ohne Halt und Wärme - durch all dies gerät die Inselwelt ins Wanken.

Ein wahres Highlight war für mich das Kapitel des Wals, das so wunderbar zeigte, dass das wichtige Erbe und das Seemannswissen der Inselbewohner
innen schon längst nicht mehr so präsent sind, wie sie es erwartet hätten und nach außen hin verkörpern möchten. Außerdem steht der Wal in meinen Augen für ein Omen, für einen Wink des Schicksals und für eine Wendung - was mir unglaublich gut gefallen hat.

Eine riesige Empfehlung für einen Roman, der in einer unfassbar atmosphärischen Sprache ein Meisterwerk aus Bildern schafft mit der perfekt gewichteten Brise Melancholie.

Veröffentlicht am 15.05.2024

Zwischen rauer Wildnis und dem Wunsch nach einem Ausweg

Die Tage des Wals
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Manod ist 18 Jahre alt und lebt kurz vor dem Zweiten Weltkrieg gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester und ihrem Vater auf einer Insel vor der walisischen Küste. Das Leben dort ist hart und ganz der Witterung ...

Manod ist 18 Jahre alt und lebt kurz vor dem Zweiten Weltkrieg gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester und ihrem Vater auf einer Insel vor der walisischen Küste. Das Leben dort ist hart und ganz der Witterung und den Naturgewalten ausgesetzt. Anpassung ist nötig und nur für das Einfachste bleibt Raum und Zeit. Doch Manod ist eine besondere junge Frau, die sich von den anderen Inselbewohner:innen deutlich unterscheidet. Durch ihre Neugier und ihr Interesse, das sich weit über die Grenzen der Insel erstreckt, durch ihre überdurchschnittlich gute Bildung und ihr Wissen, das sie sich sowohl in der Wildnis als auch in der Schule auf dem britischen Festland angeeignet hat, sticht sie heraus. Als die beiden Forschenden Joan und Edward vom Festland zur Insel kommen, um das dortige Leben zu dokumentieren, bemerken auch diese die besondere junge Frau und machen sie zu ihrer Assistentin. Und plötzlich eröffnen sich ganz neue Möglichkeiten für Manod und vielleicht sind ihre Träume und Wünsche doch gar nicht so fern, wie sie ihr bisher schienen.

🐋🦭🦞

Ein Wal strandet gleich zu Beginn des Buchs am Strand der Insel, die Manods Heimat ist. Und dieser Wal begleitet uns während des kompletten Buchs durch seine unauffällige Anwesenheit. Ebbe und Flut lassen ihn auftauchen und wieder verschwinden, das Meer umspült ihn, bedeckt ihn und legt ihn wieder frei. Er verwest, wird zur Nahrungsquelle für andere Tiere und die Natur nimmt ihn wieder auf, macht ihn zum Teil eines Kreislaufes, eines Ökosystems. Doch auch die Menschen nutzen seinen Kadaver, allerdings vorwiegend die Menschen vom Festland. Bis er sich zum Schluss nun doch noch in ein bleibendes Denkmal für die Inselbewohner:innen verwandelt.

Der Wal durchläuft nach seinem Tod eine Entwicklung – einen Prozess, der sich eigentlich vollkommen im Hintergrund abspielt. Und trotzdem ist diese Entwicklung präsent, ebenso wie Manod eine Entwicklung durchläuft und am Ende auch die Insel und die ganze Welt. Denn gerade kurz vor dem Zweiten Weltkrieg ist alles im Wandel, auch wenn es für die Handlung des Buches nur beiläufig auf der walisischen Insel zu spüren ist. Denn hier steht Manods Entwicklung im Vordergrund, die sich in meinen Augen von einem klugen Mädchen zu einer selbstbewussten und scharfsinnigen jungen Frau verwandelt.

Die Autorin erschafft mit Manod eine sehr sympatische Protagonistin, die so lebendig und wild ist, dass mir das Herz aufgeht. Durch die Verwendung einer wunderschönen poetischen Sprache strahlt Manods einzigartiges Wesen in die Welt hinaus. Sie ist so vielseitig und wissensdurstig, sie ist eine liebenswürdige und fürsorgliche große Schwester und sie ist naturverbunden und geerdet. Und natürlich macht sie Fehler, so wie wir alle, doch sie lernt daraus, zieht die richtigen Schlüsse und steckt neue Ziele. Ich finde Manod wirklich grandios.

Die Handlung von "Die Tage das Wals" ist sehr leise. Es passiert nicht besonders viel und so lebt der Roman vor allem durch seine bildgewaltige und poetische Atmosphäre und durch Naturbeschreibungen, die mich die raue Küste fühlen lassen. So ist diese Geschichte vor allem etwas zum Abtauchen, Genießen und Entschleunigen. Gespickt ist das Buch außerdem mit ungewöhnlichen Inseltraditionen, mit Bräuchen und Liedern und vor allem mit vielen Geheimnissen. Schließlich bleiben einige Lücken zurück, die wir als Leser:innen mit unseren eigenen Gedanken schließen dürfen.

Ich habe das Buch sehr gemocht und es kam für mich zur richtigen Zeit. Aktuell entdecke ich meine Liebe für den poetischen Sprachstil und der ist in diesem Buch wirklich hervorragend gelungen. Ein ruhiger Romane mit viel Platz für dich selbst, mit versteckten Informationen, die du zwischen den Zeilen findest und mit einer fantastischen und bewundernswerten Hauptdarstellerin. Eine Leseempfehlung von mir!

Veröffentlicht am 13.05.2024

Wie will ich sein? Wie will ich werden?

Die Gezeiten gehören uns
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Vier Freundinnen leben Anfang der 80er-Jahre in San Francisco. Sie sind 13-14 Jahre alt, gehen auf eine private Mädchenschule und befinden sich in der Phase zwischen Kindsein und Erwachsenwerden. Bei den ...

Vier Freundinnen leben Anfang der 80er-Jahre in San Francisco. Sie sind 13-14 Jahre alt, gehen auf eine private Mädchenschule und befinden sich in der Phase zwischen Kindsein und Erwachsenwerden. Bei den einen verläuft die Entwicklung schneller als bei den anderen - so wie die Pubertät eben ist.

In dieser Zeit befinden sich die Mädchen mehrfach an einer Weggabelung, wo sie sich entscheiden müssen für eine Richtung und für die Werte, die ihr Leben bestimmt sollen: Aufrichtigkeit oder Selbstsucht, Authentizität oder Heuchelei, Bescheidenheit oder Überheblichkeit?

🌊👙⛅️

Der Roman wird aus der Perspektive von Eulabee erzählt, die mir mit ihrem grandiosen Humor, mit ihrem Scharfsinn, ihrem pfiffigen Verstand und einem beeindruckenden Gerechtigkeitsgefühl sofort gefallen hat. Sie ist in vielen Aspekten ihrem tatsächlichen Alter weit voraus, auch wenn sie sich körperlich nicht so schnell entwickelt wie ihre beste Freundin Maria Fabiola.

Es war für mich eine große Lesefreude, die vier Mädchen mit ihren so detailliert beschriebenen Charakterzügen kennenzulernen. Dass ich mich mit Eulabee am besten identifizieren konnte, hat sich bis zum Schluss nicht geändert. Sie hat mich so oft an meine eigenen Jugend erinnert mit all den Schwierigkeiten und Hürden und mit den Entscheidungen, die getroffen werden müssen und häufig lebensprägend sind.

Das Ende des Romans verdeutlicht den Standpunkt der Persönlichkeitsentwicklung erneut auf unglaublich spannende Weise. Denn gerade die Selbstfindung in der Pubertät wirkt manchmal ein Leben lang nach.

Vendela Vida beschreibt die Zeit in Eulabees Leben in einem authentischen, gefühlsgeladenen und ausdrucksstarken Sprachstil, sodass ich den Roman ohne viele Pausen durchgelesen habe. Große Leseempfehlung für eine spannende Zeitreise mit Charme und Witz und mit einer sympathischen und bezaubernden Protagonistin!

4,5/5 ⭐️

Veröffentlicht am 09.05.2024

Wutausbrüche und der Weg zur Wahrheit

Ein simpler Eingriff
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Marianne spürt eine Wut in sich - unkontrolliert, nicht zu bändigen und unberechenbar. Für den Doktor ist klar, es handelt sich um, bei Frauen so weit verbreitete, Hysterie. Und er ist überzeugt, es gibt ...

Marianne spürt eine Wut in sich - unkontrolliert, nicht zu bändigen und unberechenbar. Für den Doktor ist klar, es handelt sich um, bei Frauen so weit verbreitete, Hysterie. Und er ist überzeugt, es gibt einen Weg, diesen Fehler zu beheben: einen simplen Eingriff.

Meret ist einfühlsam, verständnisvoll und empathisch. In der Klinik wird sie damit zur wichtigsten Assistentin des Doktors, um die Eingriffe durchführen zu können. Bis Sarah in Merets Leben tritt, bis die ersten Zweifel kommen, bis sie ihre Zweifel äußert.

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Junge Frauen mit traumatischer Vergangenheit, mit schrecklichen Erinnerungen entwickeln ein Ventil, um auszuhalten, was nie verarbeitet wurde. Sie fallen damit aus der Norm, sie verhalten sich nicht rollenkonform und sind eine Belastung für die Gesellschaft.

Yael Inokai erzählt in ihrem Roman, wie Mitte des 20. Jahrhunderts an Methoden geforscht wurde, um die Frauen zu „heilen“, die abnormale Verhaltensweisen aufwiesen. Aus den liebevollen Augen von Meret können wir das System beobachten, bis das Bild zu flimmern beginnt, bis die Sicht verschwimmt und bis wir auf einmal messerscharf sehen können, was hier wirklich geschieht.

Viele Details und Nuancen muss die Autorin nur ganz sanft andeuten und sofort wird es laut in meinem Kopf. Eine Wut, wie die von Marianne, beginnt zu brodeln. Ungerechtigkeit schreit zwischen den Worten hervor. Und der Wunsch, dass Meret erkennt, was schief läuft, dass sie Sarah zuhört, wächst von Seite zu Seite. Ich blättere zügig um, will wissen, was als nächstes passiert. Wacht sie auf? Erkennt sie die Gefahr?

Homophobie, Sexismus, Machtmissbrauch, das Patriarchat - all das sind Themen, die uns in diesem Roman auf beeindruckende Weise vor Augen geführt werden. Wie erschreckend, dass sie noch heute ebenso penetrant blenden.

Eine riesige Empfehlung für einen Roman, der in schwebender Sprache von wundervollen und sympathischen Protagonistinnen erzählt. Eine fesselnde Thematik mit berührender Handlung zum Mitfiebern, Hoffen und Mitfühlen bilden den Rahmen für ein stimmiges Gesamtbild.