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Veröffentlicht am 12.08.2021

Forensik-Krimi at its best!

Tote schweigen nie
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Cassie Raven ist trotz ihres unkonventionellen Äußeren Sektionsassistentin mit Leib und Seele. Sie spricht mit den Toten und die Toten sprechen mit ihr. Als sie eines Tages einen Leichensack öffnet und ...

Cassie Raven ist trotz ihres unkonventionellen Äußeren Sektionsassistentin mit Leib und Seele. Sie spricht mit den Toten und die Toten sprechen mit ihr. Als sie eines Tages einen Leichensack öffnet und ihre ehemalige Lehrerin, der sie ihre erfolgreiche Ausbildung verdankt, vor ihr liegt, ist sie nicht nur schwer geschockt – sie zweifelt auch an der angeblich natürlichen Todesursache. Schnell schießt sie sich auf einen Verdächtigen ein, muss aber feststellen, dass sie ohne die Hilfe der Polizei nicht sehr weit kommt. Ihre einzige Chance ist ausgerechnet die spröde, ihr nicht eben zugeneigte Polizistin Flyte…

Großartig, originell, unkonventionell und superspannend – das ist wirklich ein toller Auftakt zur Serie um die Sektionsassistentin Cassie Raven. Dabei fängt es recht harmlos und eigentlich sogar ein bisschen merkwürdig an: Ein von oben bis unten tätowiertes und gepierctes Mädel schneidet Leichen auf und spricht dabei mit ihnen? Es ist aber tatsächlich kein Fantasy- oder Horrorroman, sondern ein waschechter Krimi, der seine Spannung langsam, aber stetig aufbaut und ab etwa der Mitte plötzlich – durch verschiedene Ereignisse - mächtig Fahrt aufnimmt. Tatsächlich braucht Otto-Normalleser schon starke Nerven, denn nicht Jedermanns Fantasie hält den detaillierten Beschreibungen der praktischen Arbeit einer Sektionsassistentin stand. Ich persönlich fand auch das sehr interessant und spannend. Der Großteil der Krimispannung wird hauptsächlich dadurch erzeugt, dass erstens gar nichts auf Mord hinweist und es dadurch zweifelhaft ist, ob die Ermittlungen nicht im Sande verlaufen. Es gibt zudem mehrere „kleinere“ Fälle, wie zum Beispiel eine verschwundene Leiche, die aufgelöst werden wollen, und diverse andere Handlungsstränge. Zweitens ist es natürlich ein sehr ungewöhnliches Duo, das sich hier zusammentut. Mit den Figuren der Cassie Raven und der Phyllida Flyte ist der Autorin in meinen Augen ein wahrer Clou gelungen – ich jedenfalls habe schon lange kein derartig fesselndes Ermittlerteam kennenlernen dürfen, das mich so in seinen Bann gezogen hat.

Zunächst konzentriert sich die Erzählung auf Cassie, ihre Vergangenheit wird angerissen, ihr Äußeres thematisiert, ihre innere Zerrissenheit und auch ihr Trauma, der Tod ihrer Eltern, und ihre daraus resultierenden Beziehungsängste. Mit den später immer häufiger eingeschobenen Kapiteln um Flyte, aus der Sicht der Ermittlerin erzählt, kommen wir der Persönlichkeit dieser ungewöhnlichen Figur immer näher, und je mehr das geschieht, desto mehr wächst sie einem ans Herz, und bei näherem Hinsehen wird auch deutlich, dass sie und Cassie gar nicht so unterschiedlich sind, wie es den Anschein hat. Beide sind klug und hartnäckig und wollen Gerechtigkeit, sie geben sich nicht mit Halbwahrheiten zufrieden. Beide haben Schlimmes erlebt und verdrängen ihre Trauer, haben aber aufgrund dessen große Schwierigkeiten, sich anderen zu öffnen. Dass dies ausgerechnet miteinander geschieht, ist ein umso größeres Wunder. Cassies Charme rührt zum großen Teil auch daher, wie sie mit den ihr anvertrauten Schutzbefohlenen umgeht, zutiefst respektvoll und sorgfältig, sie behandelt sie wie Menschen, nicht wie tote Körper, und sie kann sie lesen wie ein Buch. Flyte ist vor allem dann herrlich, wenn ihre Sensibilität durch ihre vermeintlich harte Schale bricht. Es ist durchaus bezaubernd zu lesen, wie sich die beiden im Laufe der Ereignisse aneinander annähern, wieder Angst davor kriegen und dann doch über ihre Schatten springen. Beide entwickeln sich dahingehend weiter, dass sie Vorurteile über Bord werfen und Hilfe annehmen, und diese kommt zuweilen aus höchst unerwarteter Ecke. Der Autorin gelingt es aber bei aller Konzentration auf die beiden Hauptfiguren, auch die anderen Charaktere liebevoll zu zeichnen, hier sticht besonders Cassies polnische Großmutter heraus.

Fazit: Wundervolles neues Ermittlerduo, ungewöhnlicher Plot, spannender Krimi mit überraschenden Wendungen und ebensolcher Auflösung – Herz was willst du mehr! Der sehr eingängige, humorvolle Erzählstil trägt sein Übriges dazu bei, dass dieser Krimi ein echter Pageturner ist. Ein großartiger Einstieg in eine hoffentlich mehrere Bände umfassende Serie um Cassie Raven und Phyllida Flyte – ich kann jedenfalls schon jetzt nicht genug von den beiden bekommen!

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Veröffentlicht am 03.08.2021

Aus dem Armenviertel in die glanzvolle Welt der Reichen und Schönen

Das Auktionshaus (Die Auktionshausserie 1)
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Die junge Sarah Rosewell wächst im Armenviertel von Soho auf. Wie ihre Mutter und ihre Schwestern arbeitet sie als Näherin. Die ganze Familie leidet unter dem spielsüchtigen, trinkenden und gewalttätigen ...

Die junge Sarah Rosewell wächst im Armenviertel von Soho auf. Wie ihre Mutter und ihre Schwestern arbeitet sie als Näherin. Die ganze Familie leidet unter dem spielsüchtigen, trinkenden und gewalttätigen Vater, und es gibt keine Aussicht auf Besserung. Doch als Sarah auf die reiche und schöne Lady Sudbury trifft, wendet sich das Blatt: Die Lady wird zu Sarahs Gönnerin und Mentorin, sie nimmt sie bei sich auf, verhilft ihr zu einer Stellung und zu Bildung und führt sie in die besseren Kreise der Gesellschaft ein. Sarah findet im Auktionshaus Varnham’s ihren Beruf und ihre Berufung und bringt es – auch aufgrund des Ausbruchs des 1. Weltkrieges - bis zur Expertin für Kunst und Schmuck. Doch auch sie ist trotz ihres Ehrgeizes und ihrer Klugheit nicht gegen Fehler und vor allem nicht gegen die Liebe gefeit….

Bildhafter, versierter und spannender Roman um Sarah Rosewell und der erste Band der Auktionshaus-Saga Anfang der 1900er-Jahre. Der Autorin ist eine super sympathische Heldin gelungen, mit der man von der ersten Zeile an mit lebt und die unser Herz gewinnt. Dabei bleibt sie immer menschlich, macht Fehler, ist mal himmelhochjauchzend und manchmal voller Verzweiflung, aber gerade das macht sie unglaublich authentisch. Obwohl eindeutig ein Kind ihrer Zeit, wächst sie doch in eine Phase des Umbruchs hinein, der erste Weltkrieg bringt bei allem Schrecken gerade für Frauen große Chancen, in Berufen Fuß zu fassen, die ihnen sonst verschlossen gewesen wären. Großartig dargestellt fand ich die Umstände, in denen besonders die sozial schwachen Schichten leben, die Diskrepanz zwischen den Gesellschaftsschichten, zwischen arm und reich, aber auch die Tatsache, dass auch bei den Aristokraten nicht alles Gold ist, was glänzt. Die Autorin versteht es meisterhaft, sich in ihre Figuren hinzuversetzen, in ihre Ängste und Träume und ihren Standesdünkel und macht dadurch die Motive sicht- und nachvollziehbar. Außerdem beweist sie großes Wissen um die Arbeitsweise in einem Auktionshaus und gibt interessante Einblicke in eine Welt, die dem Laien doch eher geheimnisvoll erscheint und verschlossen bleibt. Sie lässt uns hinter die Kulissen schauen und offenbart sowohl in der Welt der Reichen und Schönen als auch in der Welt der Auktionshäuser intime Kenntnisse der Verhältnisse.

Der Fokus der Geschichte liegt klar auf der Figur der Sarah, aus ihrer Perspektive wird ausschließlich erzählt, ihre Persönlichkeit ist am detailliertesten herausgearbeitet. In drei Teilen mit darin eingebetteten einzelnen Kapiteln beginnt die Erzählung ab Sarahs 18. Lebensjahr im Jahr 1910 und wird chronologisch bis ins Jahr 1919 fortgeführt. Dabei springt die Autorin ein paar Mal mehrere Jahre voraus, was mich mitunter zunächst etwas verwirrt hat. Zum Glück geben die Jahreszahlen Klarheit und die Geschichte umreißt zumindest die Ereignisse der fehlenden Zeitspanne. Sarah selbst macht eine immense Entwicklung durch. Zunächst einmal erweist sie sich als sehr mutig, ihr vertrautes Umfeld, sei es noch so elend, zu verlassen und sich in eine für sie ungewisse Zukunft zu begeben. Im Haus der Lady Sudbury muss sie sich ebenso behaupten wie später als Frau in einem Männerberuf und als alleinstehende junge Frau in der Gesellschaft. Dabei – und das fand ich einen weiteren interessanten Aspekt – vergisst sie nie ihre Herkunft und wird auch oft genug im Zusammenhang mit ihrer Familie oder ihrem Jugendfreund Charlie mit ihr konfrontiert. Mit wachsender Erfahrung wird sie nicht nur selbstbewusster, sondern auch härter, sie muss nicht Everybody´s Darling sein und geht für die Erfüllung ihrer Träume sprichwörtlich über Leichen. Da wunderte es mich phasenweise, wie naiv sie in manchen Dingen ist (was glaubt sie denn, was Charlie von ihr will?) und manche Entscheidungen waren bei allem Wohlwollen nicht nachvollziehbar. Als kleinen Kritikpunkt will ich noch anmerken, dass ich mir zu manchen Themen ein paar Sätze mehr gewünscht hätte, viele Dinge und Ereignisse werden doch recht oberflächlich angerissen, zum Beispiel der Einfluss der Suffragetten, der Antisemitismus, die Frauenfeindlichkeit, der Zerfall der Gesellschaft, die Ächtung einer alleinstehenden Frau, die ihren Ruf zu wahren hat und die Verzweiflung, die manche Situationen in Sarah auslösen. In vielem hat sie sehr viel Glück und einiges ist dann doch ein bisschen weichgespült. Auch wünschte ich mir eine bessere Ausarbeitung einiger Nebenfiguren, so war ich ein schwerer Fan von Charlie, der für mich ein zwar zwiespältiger, aber gerade deshalb ein sehr interessanter Charakter war und dem ich viel näherkam als dem Fotografen und Aristokraten Philip Maynard. Diese zwei Gegenspieler um Sarahs Gunst hätten durchaus mehr Raum einnehmen können, aber das birgt dann auch noch genug Stoff für den Folgeband.

Fazit: Alles in allem ein sehr gelungener Mix aus Frauen- und Liebesgeschichte, sehr gut in einem historischen Kontext eingebettet und mit fundiertem Wissen und in großartiger, bildhafter Sprache erzählt. Dass die Autorin schreiben kann, hat sie als Constanze Wilken hinlänglich bewiesen, und auch hier offenbart ihr Können und ihre Liebe zu ihren Figuren. Man ist sofort in der Geschichte drin und fiebert mit Protagonistin Sarah mit. Das offene Ende und die überraschende Entscheidung birgt genug Potential für den Folgeband, der dann nächstes Jahr im Februar erscheinen soll.

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Veröffentlicht am 05.07.2021

Knaller-Thriller und Paukenschlag-Auftakt einer neuen Reihe

Die Verlorenen
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Warum Jonah Colley, Scharfschütze einer Londoner Polizeieinheit, dem Hilferuf seines ehemaligen Kumpels Gavin folgt, weiß er selbst nicht so genau. Was er am Treffpunkt vorfindet, ist jedoch glasklar: ...

Warum Jonah Colley, Scharfschütze einer Londoner Polizeieinheit, dem Hilferuf seines ehemaligen Kumpels Gavin folgt, weiß er selbst nicht so genau. Was er am Treffpunkt vorfindet, ist jedoch glasklar: vier in Plastikfolie eingewickelte Körper, darunter der seines ehemaligen Freundes. Beim Versuch zu retten, was zu retten ist, wird Jonah niedergeschlagen. Als er erwacht, ist er selbst gefesselt und liegt auf Plastikfolie – und für Jonah beginnt ein Alptraum, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint…

Hammermäßiger Auftakt einer neuen Thriller-Reihe von Erfolgsautor Simon Beckett, der einem wie immer kalte Schauer über den Rücken jagt und sich nicht aus der Hand legen lässt. Beckett ist bekannt dafür, dass er kein Blatt vor den Mund nimmt, er benennt die grausamsten Details beim Namen. Die Bilder, die er hervorruft, lassen dem Leser kaum Raum für Fantasie. Das war zumindest so bei der Serie um den forensischen Anthropologen David Hunter, und auch dieser Thriller ist nichts für schwache Nerven. Schon der Paukenschlag zu Beginn lässt einem die Haare zu Berge stehen. Da wird nicht lange gefackelt – nach einem kurzen Intro findet man sich unversehens mit Protagonist Jonah Colley in der verrotteten Lagerhalle in einer gottverlassenen Gegend am Londoner Hafen wieder – und wird sofort mitten in Jonahs Alptraum mit hineingezogen. Becketts Erzählstil und -freude hat auch in diesem ersten Band der neuen Reihe nichts von seiner Überzeugungskraft und Intensität verloren, er versteht einfach sein Handwerk, entwirft mühelos Helden und Antihelden, stiftet Verwirrung mit überraschenden Wendungen und hält die Spannung so konstant aufrecht, dass auch dieses Buch zu einem Pageturner wird.

Mit Jonah Colley ist dem Autor hier auch wieder ein starker, wenn auch polarisierender Charakter gelungen. Innerlich gebrochen nach dem Verschwinden seines Sohnes Theo und der Trennung von seiner Frau, lebt er in einer schäbigen Bude, einzige soziale Kontakte sind die zu seinen Kollegen. So wirklich interessiert ist er an nichts mehr – außer an der Frage, was mit seinem Sohn damals passiert ist. In Rückblenden werden parallel zur Gegenwartsgeschichte die Ereignisse um das Verschwinden seines Sohnes erzählt. Anfangs losgelöst voneinander, bildet sich nach und nach ein Gesamtbild, das zeigt, wie alles zusammenhängt. Die Erlebnisse am Kai ändern alles. Man könnte meinen, sie traumatisieren Jonah noch mehr, das tun sie einerseits auch, doch andererseits geht er gestärkt daraus hervor, er ändert sein Leben und entwickelt eine andere Sicht auf die Dinge. Dabei ist er keinesfalls der hundertprozentige Sympathieträger, auch er verschweigt einiges und handelt manchmal irrational. Er ist eher der Antiheld, durch sein Trauma glaubt man, er habe sich aufgegeben, dazu kommen noch seine schweren Verletzungen – er läuft an Krücken durch das Buch. Mehr als einmal kommen einem Zweifel am Ausgang der Situation, denn man traut ihm einfach nicht zu, dass er heil da wieder herauskommt. Jonahs Unzulänglichkeit gibt der Geschichte zusätzliche Brisanz, seine Verletzlichkeit und Hartnäckigkeit geben ihr Emotionalität. Der starke Fokus auf Jonah als Hauptfigur lässt kaum Raum für andere starke Figuren, vielleicht das Einzige, was ich ein wenig bemängele.

Fazit: sehr spannende, durchaus brutale und blutige Geschichte und starker Auftakt zur neuen Thriller-Reihe des Erfolgsautors Beckett, die der David-Hunter-Serie in nichts nachsteht. Der Autor hat nichts verlernt, gewohnt bildhaft und lässig hält er die Spannung hoch, sorgt mit überraschenden Wendungen und erneuten Paukenschlägen für erschrecktes Aufkeuchen. Mit Jonah Colley ist ihm ein vielschichtiger Charakter gelungen, von dem man ungemein gefesselt ist und der dafür sorgt, dass man auch die Folgebände sehnsüchtig erwartet.

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Veröffentlicht am 25.05.2021

Spannender Politkrimi aus der Zeit der Gründerjahre der Bundesrepublik

Die Akte Adenauer
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August 1953: Der Krieg ist seit acht Jahren beendet und Philipp Gerber, amerikanischer Agent deutscher Abstammung, wollte eigentlich zurück in die Vereinigten Staaten, um dort seine Verlobte zu heiraten ...

August 1953: Der Krieg ist seit acht Jahren beendet und Philipp Gerber, amerikanischer Agent deutscher Abstammung, wollte eigentlich zurück in die Vereinigten Staaten, um dort seine Verlobte zu heiraten und fortan als Jurist ein gemütliches Leben führen. Doch sein Vorgesetzter Colonel Hiram Anderson, dem er glaubt etwas schuldig zu sein, hat einen Spezialauftrag für ihn: Er soll den Tod des BKA-Beamten Buchmann untersuchen, der als amerikanischer Agent tätig war. Kurzerhand wird Gerber mit deutschem Pass ausgestattet und als Nachfolger von Buchmann beim BKA eingeschleust. Bei seinen Ermittlungen trifft Gerber auf die Journalistin Eva Herden, die für ein kommunistisches Blatt schreibt und die er aus einer lebensgefährlichen Situation rettet. Die beiden arbeiten fortan zusammen und bald stellt sich heraus, dass sich das Ganze von einem reinen Mordfall zu einer politischen Krise auswächst...

Super spannender Krimi, der vor dem historischen Hintergrund der bundesdeutschen Gründerjahre nicht nur einen verzwickten Kriminalfall beschreibt, sondern auch ein authentisches Bild der politischen Situation im jungen Deutschland darstellt. Im nach dem Krieg zerstörten Deutschland herrscht einerseits Aufbruchstimmung, da die Menschen mit dem Wiederaufbau ein gemeinsames Ziel haben, andererseits bilden sich zwei gegensätzliche Staaten auf bundesdeutschem Boden heraus, deren grundverschiedene Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen sich konfrontativ gegenüberstehen. Im Buch wird deutlich, wie sehr die Amerikaner auf das neue Deutschland Einfluss nehmen und wie viele ehemalige Mitglieder der SS und NSDAP trotz Entnazifizierung in hohe Ämter und in Führungsetagen gesetzt werden. Konrad Adenauer wird ebenfalls von den amerikanischen Besatzern reaktiviert und unterstützt, sie unterschätzen jedoch seinen politischen Ehrgeiz. Er lässt sich nur ungern fremd steuern und die Amerikaner können ihn nur durch eine geheime Akte kontrollieren.

Die gegensätzlichen Systeme werden im Buch durch Philipp Gerber und der Kommunistin Eva Herden verkörpert. Philipp Gerber, der amerikanische Agent, dessen jüdische Eltern vor dem Nationalsozialismus geflohen sind, steht zwischen den Stühlen. Das ist einer der interessantesten Aspekte des Buches. Mit seinem Protagonisten Gerber hat der Autor eine aufregende und starke Figur geschaffen, die nicht immer der Sympathieträger ist und dem man sich erst einmal annähern muss. Gerber ist in sich ein zwiespältiger Charakter, ein ehemaliger Deutscher, der gegen sein Herkunftsland kämpft und sich später entscheiden muss, was er sein will. Er macht eine Entwicklung durch vom obrigkeitshörigen Armeeoffizier zum selbst denkenden investigativen Ermittler, der allerdings auch zu Misstrauen gegenüber seinen Mitmenschen und zu Alleingängen neigt. Gerber reflektiert sehr viel, dies ist seiner Vergangenheit und seinen Schuldgefühlen geschuldet, die er gegenüber dem Vaterersatz Anderson hat. Eines aber behält bei ihm immer die Oberhand: Er will Gerechtigkeit und die absolute Auflösung des Falles, und das um nahezu jeden Preis, er ist nicht bestechlich und er macht sich seine Entscheidungen nicht leicht. Als er auf den charismatischen Adenauer trifft, beginnt er seine Identität noch mehr zu hinterfragen und seine Loyalität verschiebt sich. Zudem hegt er Gefühle für die Kommunistin Eva, die gegen Adenauer eingestellt ist. Diese beiden nähern sich mal einander an und mal driften sie wieder auseinander, grundsätzlich aber ergänzen sich in ihrer Arbeit ganz hervorragend, sind hochintelligent und arbeiten sehr professionell. Ich fand sehr beeindruckend, wie Philipp sich den Versuchen, ihn zu manipulieren, widersetzt und sich in seinen Schlussfolgerungen nicht beirren lässt. Als Gerechtigkeitsfanatiker will er das geplante Attentat der nationalsozialistischen Organisation Werwölfe natürlich unbedingt verhindern und als ein aus Nazideutschland Geflüchteter hat er außerdem extremes Interesse daran, dass Hitler-treue Organisationen aufgespürt und aufgelöst werden, obwohl diese noch von den Amerikanern unterstützt wurden. Gerber kämpft also für das Gute und will dabei auf jeden Fall gewinnen.

Fazit: Toller Einstieg in eine neue Reihe um den BKA-Beamten Philipp Gerber und ein für mich hochinteressanter und authentischer Einblick in die politischen und historischen Hintergründe der bundesdeutschen Gründerjahre. Es lohnt sich auf jeden Fall, auch die Erläuterungen und das Interview des Autors am Ende des Buches zu lesen. Für alle Geschichtsinteressierten bietet dies eine spannende Lektüre, bei der nicht unbedingt nur immer der reine Mordfall, sondern mehr noch die politischen Verwicklungen im Vordergrund stehen. Ich freue mich auf den zweiten Band, dessen Veröffentlichung für Februar nächsten Jahres geplant ist!

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Veröffentlicht am 11.05.2021

Eine großartige Frau und ihr bewegtes Leben

Sturmvögel
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Geboren 1907 und aufgewachsen auf einer kleinen Nordseeinsel mit Ebbe und Flut, mit vierzehn Jahren Dienstmädchen in Berlin, zwei Weltkriege, drei Kinder – die 86jährige Emmy Seidlitz kann auf ein ereignisreiches ...

Geboren 1907 und aufgewachsen auf einer kleinen Nordseeinsel mit Ebbe und Flut, mit vierzehn Jahren Dienstmädchen in Berlin, zwei Weltkriege, drei Kinder – die 86jährige Emmy Seidlitz kann auf ein ereignisreiches Leben zurückblicken. Sie ist zufrieden in ihrer kleinen Wohnung in Berlin-Tegel und liebt ihre drei Kinder Hilde, Otto und Tessa, doch sie liebt auch und ganz besonders ihren Schützling Anni, die gerade flügge wird. Mit ihr zusammen fährt sie nach München zu ihrer alten Freundin Marianne, um sie ein letztes Mal zu sehen, bevor es nicht mehr geht. Sie spürt ihre Zipperlein und bräuchte einen Herzschrittmacher, doch sie weiß auch, dass es bald Zeit ist zu gehen. Eine Sache jedoch muss sie vor ihrem Ableben dringend noch regeln…

Diese Geschichte ist rührend, ergreifend, lustig, aufregend und Emmy ist einfach wundervoll! Schon zu Beginn wird deutlich, wie sie tickt und was sie für einen Humor hat, und im Laufe des Buches zeigt sich, dass das eine ihrer hervorstechendsten Charaktereigenschaften ist: dieser manchmal derbe, manchmal ironische, aber immer grundehrliche und unglaubliche komische Humor zieht sich durch die ganze Geschichte hindurch. Diesen bewahrt sie sich ihr Leben lang, sie nimmt meist – wenn dann nur sehr selten – kein Blatt vor den Mund, er hilft ihr und anderen durch alle Lebenslagen. Und schwierige Lebenslagen und Schicksalsschläge gab es einige in Emmy Leben. Bei diesen und allen anderen hilft ihr ihre zweite herausragende Eigenschaft: ihre Charakterstärke. Sie ist eine unglaublich starke Frau und bleibt sich und ihren Überzeugungen immer treu. Wer ihr Vertrauen und ihre Freundschaft einmal hat, verliert sie nicht, und ihre natürliche Herzensgüte und Schlauheit, ihr Pragmatismus und Erfindungsreichtum, ihr gesunder Menschenverstand und ihre Menschenkenntnis lassen ihre mangelnde Schulbildung in Vergessenheit geraten.

Emmys Leben wird in mehreren Zeitabschnitten erzählt und reicht einmal sogar in die Zeit vor ihrer Geburt bis ins Jahr 1870 zurück. Die Autorin wechselt also mitunter zwischen großen Zeitspannen hin und her, kehrt aber immer wieder zur Hauptgeschichte in die Gegenwart 1994 zurück. Dies geschieht sehr flüssig, ohne dass es jemals langweilig oder anstrengend wird. Dabei werden auch die Gegensätze in Emmy Leben deutlich, zum Beispiel ihr einfaches Leben auf der Insel und ihr Erwachsenwerden in der großen Stadt, dem Sündenbabel Berlin, und die technischen Entwicklungen und Innovationen (vor allem der Siegeszug des Automobils - entgegen aller Prognosen!) deutlich. Sehr schön in dem Zusammenhang war in meinen Augen, dass Emmy in ihrem Keller einiges aus der Vergangenheit aufbewahrt hat, was bei mir dann einen großen Wiedererkennungswert hervorgerufen hat, als hätte ich selbst ein liebes Erinnerungsstück wiedergefunden. Faszinierend fand ich zudem, dass sich das titelgebende Motiv des Sturmvogels durch den ganzen Roman zieht. Neben den Sturmvögeln auf der Nordseeinsel kehren im Herbst auch die Seemänner von ihren Walfangtouren zurück. Auch Emmy ist ein Sturmvogel, die Stürme des Lebens haben sie hierhin und dorthin geweht und sie schließlich in einem sicheren Hafen landen lassen. Auch wenn der Roman stark auf Emmy fokussiert ist, kommen auch die anderen Charaktere nicht zu kurz und mitunter wird auch aus ihrer Perspektive erzählt. Zum Glück hat die Autorin all ihren Figuren vielschichtige Persönlichkeiten mit eigenen Facetten zugestanden, so dass sie sich nicht hinter der starken Hauptfigur verstecken müssen.

Fazit: Der Autorin ist eine wunderbare Geschichte und ein authentisches Portrait gelungen. Sie schafft es, Emmy durch die historischen Epochen zu begleiten und damit dem Leser einen Lebensalltag näher zu bringen, wie ihn die meisten nicht kennen dürften. Ihre bildhafte Sprache lässt sowohl die kleine Nordseeinsel als auch das turbulente Berlin der goldenen 20er lebendig werden, es ist einfach großartig, wie man sich mittendrin fühlt, wie man vor allem mit Emmy mit lebt und sie am liebsten an den Händen fassen und mit ihr lachen und weinen möchte. Unbedingt lesen!

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