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Nell_liest

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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 26.04.2024

Ein absolutes Muss!

Und alle so still
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Die Frauen legen sich hin, auf die Straße, vor Krankenhäuser, Kindergärten, und stehen nicht mehr auf. Sie hören auf mit der Carearbeit, mit den selbstverständlich von Frauen ausgeführten Tätigkeiten, ...

Die Frauen legen sich hin, auf die Straße, vor Krankenhäuser, Kindergärten, und stehen nicht mehr auf. Sie hören auf mit der Carearbeit, mit den selbstverständlich von Frauen ausgeführten Tätigkeiten, ohne laut zu werden oder Forderungen zu stellen - einfach, weil sie nicht mehr können.
So lernt Elin ihre Großmutter kennen und erfährt zum ersten Mal Solidarität unter Frauen. Ihre Tante Ruth wäre gern dabei, würde sich am liebsten dazulegen, aber als Pflegefachkraft im Krankenhaus wird sie nun noch mehr gebraucht als vorher, um das kollabierende System irgendwie aufrecht zu erhalten, und ohne Rücksicht auf sich selbst. Und da ist Nuri, gefangen am Existenzminimum und unter der toxischen Männlichkeit leidend, stellt er sich als Mann hinter die Frauen.
Mareike Fallwickl hat mit „Und alle so still“ den Roman unserer Zeit geschrieben. Sie drückt auf die blauen Flecken, die den Frauen immer wieder zugefügt werden, durch Druck, durch Erwartung, durch Gewalt. Sie schreibt über die Themen, die wenig Öffentlichkeit bekommen oder einfach nicht berücksichtigt werden; die abgewunken und mundtot gemacht werden, weil es doch läuft.
Mit „Die Wut, die bleibt“ hat sie 2022 einen famosen Auftakt geliefert, „Und alle so still“ ist die Ergänzung. Die beiden Romane greifen ineinander, bestehen aber auch eigenständig. Und es ist bemerkenswert, wie sehr sich Mareike Fallwickl von Roman zu Roman steigert. Etwas, was unmöglich scheint, denn ihr Niveau und ihr Handwerk sind bereits on top, wie kann sie da immer noch besser werden? Mit Elin, Ruth und Nuri erzählt sie eine Geschichte, die so tief berührt, dass unweigerlich Tränen fließen, und ist nicht so weit entfernt von unserer Lebensrealität, wie manche glauben mögen.
Mareike Fallwickl ist eine Meisterin der zeitgenössischen Literatur und nicht nur schriftstellerisch ein absolutes Vorbild. Ich hoffe, sie selbst, ihre Worte und ihre Werke, bekommen die Aufmerksamkeit, die sie verdienen.

Veröffentlicht am 15.04.2024

Das Früher und das Heute

Leute von früher
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Marlene arbeitet den Sommer über auf der nordfriesischen Insel Strand als Verkäuferin. Dort wird sie in eine längst vergangene Zeit zurückversetzt, denn im Dorf dürfen die Angestellten nur im ...

Marlene arbeitet den Sommer über auf der nordfriesischen Insel Strand als Verkäuferin. Dort wird sie in eine längst vergangene Zeit zurückversetzt, denn im Dorf dürfen die Angestellten nur im Kostüm herumlaufen. Alles ist auf alt getrimmt und sie pendelt zwischen früher und heute, so wie durch das Leben nach dem Studium. Als sie Janne kennenlernt, verändert sich ihre Sicht auf sich selbst und auf die Liebe, doch dann merkt sie, dass Strand keine normale Insel ist.
„Leute von Früher“ von Kristin Höller hat mich absolut begeistert. Anfangs, wenn Marlene von der Fähre steigt, ahnt man noch nichts von der Sogwirkung, die sich ganz schnell einstellt und die einen auf Strand festhält. Dabei fällt es mir schwer, genau zu benennen, woran es liegt. Vielleicht an der Gradlinigkeit von Kristina Höllers Erzählstil; vielleicht an Marlene selbst, die Ecken und Kanten hat und dadurch als Figur so rund ist; vielleicht, weil gleichzeitig so viel und so wenig passiert. Marlene ist in einer Zwischenphase des Lebens und flüchtet, was nur halb gelingt. Sie meint zu wissen, wer sie ist, erkennt aber schnell, dass es nicht so ist. Nämlich als Janne in ihr Leben tritt, womit sich eine Liebesgeschichte entspinnt, die zart ist und doch solide scheint. Liebe spielt eine große Rolle und Beziehungen, in ihren unterschiedlichsten Formen, aber auch die Frage nach dem eigenen Leben, nach den eigenen Wünschen. Das alles steht zwischen den Zeilen, trägt Marlene in sich, schwingt ganz nebenbei mit, zusätzlich zu der vordergründigen Geschichte mit Janne.
Dann kam das Ende und wie bei offenen Enden habe ich erst gestutzt und dann erkannt, dass es einfach perfekt ist. Kristina Höllers Stil ist besonders, nicht poetisch, aber unheimlich nahbar. Er ist klar und enthält doch Raum für Interpretation.
Ein wirklich toller Roman von einer Autorin, die ich zukünftig im Blick behalten werde.

Veröffentlicht am 14.04.2024

Glücklich sein vor Recht behalten

Alles gut
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Jess tritt ihren neuen Job an der Wall Street an und begegnet Josh, mit dem sie schon an der Uni aneckte. Es treffen zwei Welten aufeinander: die Schwarze Jess, die zwar Geld verdienen möchte, aber eher ...

Jess tritt ihren neuen Job an der Wall Street an und begegnet Josh, mit dem sie schon an der Uni aneckte. Es treffen zwei Welten aufeinander: die Schwarze Jess, die zwar Geld verdienen möchte, aber eher liberal eingestellt ist und der Weiße Josh, der nicht nur Republikaner ist, sondern seine Augen vor Ungleichbehandlung gerne verschließt. Immer wieder geraten sie aneinander, diskutieren, streiten, doch finden auch Gemeinsamkeiten und profitieren vom Gegenüber, besonders Jess. Sie werden Freunde und irgendwann mehr, leichter wird ihr Miteinander dadurch aber nicht.
„Alles gut“ von Cecilia Rabess hat eine wichtige Botschaft: Glücklich sein vor Recht behalten. Sie zeigt mit ihrem Debüt, wie sehr sich ein Paar aufreiben kann, wenn es konträre Sichtweisen hat. Allerdings konnte mich die Erzählweise nicht vollends überzeugen. Erst hat es lange gedauert bis es wirklich los geht und nach einer kurzen Hochphase, dümpelt es dann wieder bergab, bis zum Ende, was ich eher als mau empfunden habe.
Dass Cecilia Rabess einen Fuß in der Finanzwelt hat und sehr intelligent ist, merkt man an dem Infodump, den sie stellenweise einfließen lässt und was zu manchen Längen beiträgt. Und so ganz kann ich Jess und Josh auch nicht verstehen. Jess hat mich zusehends genervt, weil sie manchmal selbst nicht so recht wusste, worauf sie hinauswollte und Josh, weil ich seine Ansichten nicht teile und er für mich auch nach Beenden des Buches ein Rätsel bleibt.
Sprachlich hat es einiges zu bieten, es gab Metaphern, die mich überrascht haben und im Mittelteil konnte ich den Roman nicht zur Seite legen, aber davor und danach hätte man, meiner Meinung nach, vieles streichen können.
Trotz aller Kritik hat es mir einen weiteren Einblick in das Leben von PoCs in den USA geschenkt und wie sehr das Land vom Kapitalismus durchsetzt ist, während an anderer Front dagegen angekämpft wird.

Veröffentlicht am 08.04.2024

Das Leid der Sklaven

James
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Mark Twains Huckleberry Finn erzählt aus der Perspektive des Sklaven Jim - so könnte man „James“ von Percival Everett in einem Satz zusammenfassen, doch gerecht würde es dieser Neuerzählung des Klassikers ...

Mark Twains Huckleberry Finn erzählt aus der Perspektive des Sklaven Jim - so könnte man „James“ von Percival Everett in einem Satz zusammenfassen, doch gerecht würde es dieser Neuerzählung des Klassikers nicht werden. Ich gebe zu, ich habe Mark Twain nicht gelesen, kann also keinen Vergleich ziehen, allerdings handelt es sich bei diesem Roman keineswegs um ein Abenteuerbuch für Kinder.
Kurz zum Inhalt: Als Jim nach New Orleans verkauft und somit von seiner Frau und seiner Tochter getrennt werden soll, flieht er. Dabei trifft er Huckleberry, der von seinem gewalttätigen Vater geflohen ist. Sie versuchen, sich zusammen durchzuschlagen, werden getrennt, finden sich wieder.
Jim schildert sehr eindrücklich, was ihm als Sklave von seinen Weißen Massas angetan wird. Er wird behandelt wie ein Gegenstand, wie ein Tier, wie Sklaven nun mal behandelt worden sind. Jegliche Menschlichkeit, selbst Schmerzempfinden wurde ihnen abgesprochen. Zu sagen, dass sie ausgebeutet wurden, ist zu schwach für das Leid, das ihnen von den Weißen zugefügt wurde.
Percival Everett schafft es, diese Grausamkeiten so zu verpacken, dass es gerade so erträglich ist und spickt die Begebenheiten mit Humor, was eigentlich unvorstellbar scheint, ihm aber sehr gut gelingt. Die Dummheit liegt dabei bei den Weißen, die denken, sie wären die Schlauen. Sie erkennen nicht, dass die Sklaven nur so tun, als seien sie einfältig, weil sie sonst mit Strafen oder sogar dem Tod rechnen müssen. Widerworte, Nachfragen, selbst Blicke sind gefährlich.
Jim macht eine tiefgreifende Veränderung durch. Anfangs ist er vorsichtig, zurückhaltend, aber im Verlauf hat er immer weniger zu verlieren und in ihm erwacht ein Zorn, der nur allzu menschlich ist in dieser Ungerechtigkeit.
„James“ ist ein Roman, der unbedingt neben Huckleberry Finn als Schullektüre stehen sollte, denn wir müssen endlich die Stimme derer hören, die so lange zum Schweigen gebracht wurden. Ein absolutes Muss für jeden, dieder sich mit amerikanischer Geschichte auseinandersetzen will.

Veröffentlicht am 01.04.2024

Herausfordernd, atemlos, eindringlich

Sieben Sekunden Luft
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Selah hat sich verloren, eigentlich hat Selah sich noch nie gehabt. Früher hat ihre Mutter ihr alles vorgegeben, dann die Gesellschaft und irgendwann konnte sie nicht mehr. Selah ist aus- und aufgebrochen, ...

Selah hat sich verloren, eigentlich hat Selah sich noch nie gehabt. Früher hat ihre Mutter ihr alles vorgegeben, dann die Gesellschaft und irgendwann konnte sie nicht mehr. Selah ist aus- und aufgebrochen, um sich selbst zu finden, und tat sich trotzdem schwer damit. Als endlich ein Licht mit Namen Ava zu sehen ist, wird Selah wieder zurückgerissen, denn erneut fordert die Mutter die Aufmerksamkeit.
„Sieben Sekunden Luft“ von Luca Mael Miltsch gehört zu den intensivsten Romanen, die ich jemals gelesen habe. Selahs Geschichte wird zu verschiedenen Zeiten erzählt: 1995, 2006, 2017 und 2023. Jede Zeit hat die passende Perspektive, dahingehend, wie nah Selah sich selbst ist, was sehr spannend ist und den Zugang zu Selah verstärkt, das Leid noch ein Stück greifbarer macht.
Sie merkt schon früh, dass sie nicht in die festgefahrenen Rollenbilder passt, kann dies aber nicht einordnen und wird damit auch noch komplett alleingelassen. Sie versucht, ihren Schmerz zu betäuben, was so atemlos, so intensiv beschrieben wird, dass es mich japsen ließ. Erst spät erkennt Selah, dass sie sich keinem Geschlecht zugehörig fühlt und es kostet nochmal Zeit, es richtig zu begreifen. Über allem schwebt die Mutter, die mich wahnsinnig wütend gemacht hat, denn auch wenn sie es schwer hatte, Selah konnte am wenigstens dafür und ich hätte mir einen richtigen Befreiungsschlag gewünscht, aber Mutter-Kind-Beziehungen sind nie leicht und im Nachhinein hat Selah genauso gehandelt, wie es zur Figur passt.
Luca Mael Miltsch hat ein wahnsinnig eindringliches und sprachlich hervorragendes Debüt abgeliefert, was herausfordernd ist, aber auch den Blick öffnet. Luca schreibt über etwas, was nicht beschrieben werden kann und aus vielerlei Gründen am Puls der Zeit ist.