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Nilchen

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Veröffentlicht am 07.12.2025

Wie erzählt man eine Wahrheit, die in Flammen steht?

Der brennende Garten
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V. V. Ganeshananthan gehört zu jenen Autorinnen, die politische Geschichte nicht einfach erzählen, sondern literarisch beleuchten, als würde sie unter der Oberfläche einer persönlichen Erinnerung nach ...

V. V. Ganeshananthan gehört zu jenen Autorinnen, die politische Geschichte nicht einfach erzählen, sondern literarisch beleuchten, als würde sie unter der Oberfläche einer persönlichen Erinnerung nach glühenden Splittern suchen – und genau diese Funken schlagen in Der brennende Garten (aus dem Amerikanischen von Sophie Zeitz) unentwegt über.
Dieser Roman ist eine Wucht – nicht laut, nicht reißerisch, sondern eindringlich, vielstimmig und atmosphärisch dicht wie ein monsunfeuchter Morgen in Jaffna. V.V. Ganeshananthan gelingt das Kunststück, ein zutiefst politisches Thema so intim zu erzählen, dass man die Geschichte weniger liest als miterlebt. Schon Sashis Eröffnungssatz – ein Brief an jemanden, den die Welt als Terroristen verurteilt – öffnet ein erzählerisches Tor, hinter dem die Frage lauert, wem Erinnerung eigentlich gehört.
Wir folgen Sashi von ihrer Jugend in Sri Lanka bis in ihr späteres Leben in New York. Und während sie am Anfang voller Zuversicht ist – Medizinstudium, Vorbilder in der Familie, ein zartes Band zu K aus der Nachbarschaft – setzt der Bürgerkrieg alles in Flammen. Was in warmen, fast flirrenden Farben beginnt, kippt Stück für Stück ins Dunkel: Unterdrückung, Gewalt, Misstrauen, das gefährliche Schachspiel zwischen singhalesischer Mehrheit, tamilischer Minderheit und internationalen Interessen.
V.V. Ganeshananthan zeigt diese Welt nicht mit distanzierender Chronistenstimme, sondern durch Sashis Erinnern. Dieses Erzählen aus der Rückschau erzeugt eine Bitterkeit, eine Schärfe, aber auch überraschend viel Zärtlichkeit – denn die Figuren bleiben nie nur Opfer oder Täter, nie nur richtig oder falsch. Besonders bewegend ist, wie unterschiedlich die Familienmitglieder reagieren: Der eine sucht Schutz in Bildung, der andere in Widerstand, ein dritter in Loyalität zu einer Idee, die größer erscheint als das eigene Leben. Und mitten drin Sashi, die sich weigert, die Welt nur in Schwarzweiß zu betrachten, und deren Kampf für Gerechtigkeit leise, aber kraftvoll ist.
Literarisch beeindruckend ist vor allem die Balance: Die Autorin fügt persönliche Schicksale, reale historische Ereignisse und sprachliche Feinheit zusammen, ohne je den Blick für die menschliche Erfahrung zu verlieren. Ihre Sätze besitzen eine Eleganz, die sich nicht scheut, in Schmerz zu tauchen.
Wer wenig über Sri Lanka weiß, wird hier nicht belehrt, sondern hineingezogen. Der Roman erklärt nicht – er zeigt, er lässt spüren, er zwingt dazu, zuzuhören. Selbst die Szenen in New York, wo Sashi längst in Sicherheit ist, tragen die Schwere der Vergangenheit in sich. Migration erscheint hier nicht als einfacher Neuanfang, sondern als Fortsetzung einer offenen Wunde, die ihren eigenen Rhythmus hat.
Der brennende Garten ist kein Roman, durch den man rast. Er verlangt Zeit, Luft, Pausen. Aber gerade darin liegt seine literarische Größe: Er wirkt nach, er stellt Fragen, er lässt nicht los.
Ein meisterhaft erzähltes Werk voller moralischer Ambivalenz, politischer Klarheit und emotionaler Tiefe – und zweifellos eines der wichtigsten Bücher über den sri-lankischen Bürgerkrieg in der aktuellen Literatur.

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Veröffentlicht am 07.12.2025

Träume unter Kontrolle – und die leise Rebellion der Hoffnung

Das Dream Hotel
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Wenn selbst unsere Träume keine Zuflucht mehr sind, was bleibt uns dann? Diese Frage durchzieht Laila Lalamis Das Dream Hotel, das zu Recht auf der Longlioste des Women’s Prize for Fiction 2025 steht. ...

Wenn selbst unsere Träume keine Zuflucht mehr sind, was bleibt uns dann? Diese Frage durchzieht Laila Lalamis Das Dream Hotel, das zu Recht auf der Longlioste des Women’s Prize for Fiction 2025 steht. In einer nahen Zukunft, die sich beklemmend real anfühlt, hat der Staat gelernt, auch das Unbewusste zu vermessen – und damit das Innerste des Menschen in Daten zu verwandeln.
Sara Tilila Hussein, erfolgreiche Geschäftsfrau, Ehefrau und Mutter, wird am Flughafen verhaftet, weil ihre Traumdaten angeblich ein Risiko darstellen: Sie könnte ihrem Mann gefährlich werden. Kein Verbrechen, kein Motiv – nur ein Algorithmus, der Misstrauen in Wahrscheinlichkeiten gießt. Ihre „Unterbringung“ im sogenannten Dream Hotel – einem ehemaligen Schulgebäude, das nun Hightech-Gefängnis, Forschungslabor und profitables Datenzentrum zugleich ist – wird zum Albtraum aus Formularen, Befragungen und Entmündigung.
Laila Lalami entwirft eine Dystopie, die entfernt an Orwells 1984 erinnert, aber weiblicher, leiser und psychologisch schärfer erzählt ist. Während Überwachung und Angst allgegenwärtig sind, durchzieht den Roman etwas Überraschendes: Hoffnung. Nicht die naive, sondern die trotzige, die überlebt, weil sie sich weigert, aufzugeben. Zwischen Schlafphasen, Protokollen und Träumen formt sich bei Sara eine leise Widerständigkeit – das Wissen, dass Menschlichkeit dort beginnt, wo Kontrolle endet.
Die Erzählstruktur spielt mit Fragmenten – offizielle Dokumente, Sitzungsprotokolle, AGBs, Traumsequenzen – und schafft so ein Netz aus Bürokratie und Emotion. Gerade in diesem Wechsel liegt die Kraft des Romans: Er zeigt, wie leicht Freiheit erodiert, wenn Bequemlichkeit und Sicherheit Hand in Hand gehen.
Und doch bleibt Das Dream Hotel kein trostloses Buch. Es ist ein Roman über das Beharren auf Selbstbestimmung – darüber, dass Hoffnung auch in einem System aus Glaswänden und Schlafsensoren überleben kann. Laila Lalami schreibt kühl und poetisch zugleich, präzise und doch voller Empathie.
Fazit: Ein kluger, eindringlicher Roman über Überwachung, Angst und den Mut, nicht alles als gegeben hinzunehmen. Das Dream Hotel ist weniger ein Albtraum als ein Weckruf – und gerade darin liegt seine Hoffnung.

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Veröffentlicht am 07.12.2025

Zwischen Tango und Projektorlicht – Litas Reise ins Herz der Geschichten

Mr. Saitos reisendes Kino
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Lita wächst in einem Leben auf, das vom ersten Atemzug an aus dem Takt der gewöhnlichen Welt fällt. Ihre Mutter Fabiola – eine Frau, die den Tango nicht nur tanzt, sondern im Blut trägt – wirbelt sie durch ...

Lita wächst in einem Leben auf, das vom ersten Atemzug an aus dem Takt der gewöhnlichen Welt fällt. Ihre Mutter Fabiola – eine Frau, die den Tango nicht nur tanzt, sondern im Blut trägt – wirbelt sie durch eine Kindheit, die von Leidenschaft, Chaos und plötzlichen Wendungen bestimmt ist. Als die politischen Verhältnisse ihrer Heimat ihnen den Boden unter den Füßen wegziehen, geraten Mutter und Tochter auf eine abgelegene Insel vor Neufundland: ein Ort, an dem der Wind Geschichten erzählt und die Menschen eher dem Meer vertrauen als ihrem eigenen Glück. In einem alten Seemannsheim, bevölkert von schrägen, aber herzoffenen Gestalten, findet Lita eine neue Welt, die langsam – völlig unerwartet – zu ihrem Zuhause wird. Dort begegnet sie Oona, der gehörlosen Tochter der Gastgeber, deren stille Stärke mehr sagt als jedes Wort. Und eines Tages rollt ein Mann namens Mr. Saito seinen Projektor aus, spannt ein Laken in die salzige Luft und bringt Bilder, Hoffnung und Veränderung auf diese windumpeitschte Insel. Seine Ankunft bleibt nicht ohne Folgen: Für die Bewohner, für Fabiola – und vor allem für Lita.
Was Annette Bjergfeldt daraus formt, ist ein Roman, der weniger eine Geschichte erzählt als ein Leben einatmet. Ihre Sprache hat eine Musikalität, die spürbar macht, dass sie nicht nur Autorin, sondern auch Musikerin ist. Jeder Satz wirkt rhythmisch gesetzt, jede Szene wie ein leuchtendes Bild, das langsam in die nächste überblendet. Man liest und hat das Gefühl, der Roman sei selbst eine Art Wanderkino: lichtdurchflutet, melancholisch, manchmal flackernd, aber immer mit Wärme und stiller Kraft.
Stark ist vor allem die Art, wie Bjergfeldt Emotionen nie breit ausmalt, sondern sie in kleinen, präzisen Momenten aufflammen lässt. Wenn die Inselbewohner in Mr. Saitos Filmen Dinge erkennen, die sie sich selbst nicht zu sagen trauen – unerfüllte Wünsche, verlorene Träume, heimliche Hoffnungen –, dann spürt man, dass Kino hier mehr ist als Unterhaltung: Es ist ein Spiegel, eine Rettungsleine, ein geheimer Raum. Besonders Lita findet im Licht des Projektors etwas, das ihr Leben neu ausrichtet – nicht wie ein Paukenschlag, sondern wie ein langsames, inneres Aufleuchten.
Die Erzählstruktur, die sich in sieben „Wellen“ gliedert, spiegelt nicht nur das Auf und Ab von Litas Lebensreise, sondern schenkt dem Roman einen ruhigen, fließenden Rhythmus. Manche Passagen wirken beinahe träumerisch, als würde man im Gleichklang mit der Brandung lesen. Wer rasante Handlung sucht, könnte hier ungeduldig werden – aber wer sich gerne in atmosphärische Welten fallen lässt, wird sich in diesem Tempo verlieren wie in einem langen Kinonachmittag, der im Dämmerlicht endet.
Was jedoch am stärksten nachhallt, ist dieses Gefühl, dass Familie nicht immer die ist, in die man hineingeboren wird, sondern jene, die einen auffängt, wenn man aufs offene Meer hinaustreibt. Die Freundschaft zwischen Lita und Oona, die exzentrischen Seemänner, der wortkarge Mr. Saito – sie alle werden zu Ankern in einem Leben, das von Anfang an auf Bewegung eingestellt war.
Mr. Saitos reisendes Kino ist ein Roman voller Zwischentöne: melancholisch, warm, humorvoll, poetisch. Ein Buch, das nicht laut ruft, sondern leise bleibt – und gerade deshalb lange im Herzen vibrierend zurückbleibt. Ein großes, stilles Kino, das zeigt, wie sehr Geschichten verändern können. Und wie manchmal schon ein flackerndes Bild auf einem weißen Laken reicht, um ein Leben ins richtige Licht zu rücken.

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Veröffentlicht am 07.12.2025

Wie findet man zurück ins Leben, wenn alles verschwunden scheint?

Lass uns noch bleiben
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Manchmal reicht schon ein einziger Straßenzug in Kreuzberg, um ein Gefühl von Zuhause wachzurufen – genau so erging es mir mit diesem Buch. Saskia Luka fängt diese besondere Mischung aus urbanem Chaos ...

Manchmal reicht schon ein einziger Straßenzug in Kreuzberg, um ein Gefühl von Zuhause wachzurufen – genau so erging es mir mit diesem Buch. Saskia Luka fängt diese besondere Mischung aus urbanem Chaos und stillen Rückzugsorten so zart ein, dass ich mich sofort wieder zwischen Mehringdamm und Planufer wähnte. Und mittendrin Anna, deren kleines Pflanzenrefugium wie ein grünes Herz im Asphalt schlägt.
Ihr Leben ist ins Wanken geraten, seit ihre Freundin einfach verschwunden ist – ohne Nachricht, ohne Anker, ohne Erklärung. Während draußen das Kiezleben weiterflirrt, zieht Anna sich zurück in ihr Grün, in Töpfe und Triebe, in dieses sanfte Chaos aus Erde und Hoffnung. Es ist ein stilles, verletzliches Anfangskapitel, das wunderbar zeigt, wie man sich an die Dinge klammert, die noch nicht zerbrochen sind.
Was mich sofort berührt hat, war diese liebevolle Nachbarschaftsdynamik. Henning mit seinem Antiquariat – ein Mann, der alte Bücher behandelt, als wären sie scheue Tiere – bietet eine Wärme, die nicht künstlich wirkt, sondern wie echter Kiezalltag: Menschen, die sich nicht aufdrängen und doch da sind, wenn’s dunkel wird.
Und dann wirbelt Alex hinein, so spontan, lebendig und herrlich unberechenbar, dass Anna gar nicht anders kann, als ein kleines Stück aufzutauen. Die beiden brechen schließlich gemeinsam auf, um nach der verschwundenen Freundin zu suchen – eine Reise, die ich viel sanfter, überraschender und emotionaler fand, als ich es erwartet hätte. Kein Roadmovie, eher ein vorsichtiges Wieder-zum-Leben-Finden.
Was diesen Roman für mich so besonders macht, ist seine stille Kraft. Die Geschichte rauscht nicht, sie drängt nicht – sie tastet sich vorwärts. Manchmal langsam, fast zögerlich, aber immer poetisch, warm und mit einem Blick für die kleinen Momente, die man im echten Leben so oft übersieht. Wer Tempo und Drama sucht, landet hier vermutlich nicht im richtigen Regal. Wer aber Geschichten mag, die einen leise anschubsen, statt laut zu rütteln, wird sich wunderbar aufgehoben fühlen.
Für mich ist Lass uns noch bleiben ein Buch, das wie ein Nachmittag auf einem Kreuzberger Balkon wirkt: Ganz unspektakulär – und trotzdem bleibt etwas im Herzen hängen. Eine sanfte Geschichte über Verlust, neue Wege und darüber, wie ein einzelner Mensch reichen kann, um wieder Licht ins eigene Leben zu tragen.

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Veröffentlicht am 06.12.2025

Zwischen Flimmerlicht und Fernweh

This isn't happiness
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Dieser Roman brachte mich zum Lachen und zum Durchatmen zugleich…. This Isn’t Happiness von Mary Newnham (wunderbar übersetzt von Johanna Czerny) tat genau das. Der Ton ist leicht, der Humor sitzt, und ...

Dieser Roman brachte mich zum Lachen und zum Durchatmen zugleich…. This Isn’t Happiness von Mary Newnham (wunderbar übersetzt von Johanna Czerny) tat genau das. Der Ton ist leicht, der Humor sitzt, und trotzdem schwingt da eine unterschwellige Schwere mit, die mich erwischte. Dieses eigenwillige Gleichgewicht zwischen Witz und Melancholie fühlt sich an wie der Moment, in dem man lächelt, obwohl man innerlich längst ahnt, dass etwas nicht stimmt. Und genau dort lebt Amy: zwischen Haltung bewahren und Zähne zusammenbeißen. Sehr gelungen!
Ich mochte sie von der ersten Sekunde an. Ihr freundliches, leicht chaotisches „Ich krieg das schon hin“-Mantra wirkt unglaublich nahbar, und gleichzeitig möchte man sie immer wieder schütteln, weil sie Konflikte lieber weglächelt, statt sie auszusprechen. Zum Haare raufen. Besonders die kleinen Alltags-fluchten, mit denen sie versucht, ihre wachsende Unzufriedenheit zu überdecken, haben mich mitten ins Herz getroffen – vielleicht weil sie so echt sind, so menschlich.
Das Großartige an diesem Buch ist, dass es keine künstliche Dramatik braucht, um zu fesseln. Die Autorin beobachtet Beziehungen mit einem so scharfen, liebevollen Blick, dass schon alltägliche Momente emotional treffen. Es sind die Zwischentöne, die unausgesprochenen Dinge, die winzigen Verschiebungen im Miteinander – genau die, die man im eigenen Leben oft viel zu spät bemerkt. Und diese Ehrlichkeit tut weh, aber sie tut auch unglaublich gut.
Was mich ebenfalls begeistert hat, ist der Humor: intelligent, manchmal bissig, immer genau getimt. Ich habe oft gelacht, obwohl die Szene darunter einen ernsten Kern hatte – und genau dieses Gleichgewicht macht den Roman so stark. Er ist nie deprimierend, aber auch nie seicht. Er schenkt Leichtigkeit, ohne etwas schönzureden.
Besonders schön fand ich, wie sich im Hintergrund eine Frage immer deutlicher abzeichnet: Was bedeutet Glück – und wem gehört es eigentlich? Mary Newnham behandelt dieses Thema so zugänglich, so warmherzig und gleichzeitig so klar, dass man automatisch mitdenkt, mitfühlt und sich selbst an ein paar stillen Stellen wiedererkennt.

This Isn’t Happiness ist für mich ein Roman, derds Mut macht, das Herz wärmt und einen mit einem wunderbar hellen Gefühl zurücklässt: dass Veränderung möglich ist, und dass man sich selbst wiederfinden darf.
Eine klare Empfehlung – gerade weil es so echt und so überraschend leichtfüßig erzählt ist.

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