Anspruchsvoller, abgründiger Psychothriller
Je tiefer der WaldManche Albträume beginnen leise – in diesem Fall mit einem Spaziergang im oberbergischen Wald, bei dem die dreijährige Leni spurlos verschwindet. Was bleibt, ist ein klaffendes Loch im Leben ihrer Eltern, ...
Manche Albträume beginnen leise – in diesem Fall mit einem Spaziergang im oberbergischen Wald, bei dem die dreijährige Leni spurlos verschwindet. Was bleibt, ist ein klaffendes Loch im Leben ihrer Eltern, Julia und Sebastian. Ein Jahrzehnt gefüllt mit unerträglicher Trauer, schwelenden Schuldzuweisungen und der einen quälenden Frage: Wo ist unsere Tochter?
Genau dieser Abgrund ist die Grundlage für Kohlhaas’ psychologisch geniales Meisterwerk. Denn nach zehn Jahren der quälenden Ungewissheit taucht in einer Nacht wie aus dem Nichts ein junges Mädchen auf. Ihr einziges gesprochenes Wort ist ihr eigener Name: Leni.
Mit dem Auftauchen des Mädchens beginnt für Julia und Sebastian ein Ritt auf Messers Schneide, denn die Hoffnung, die eigene Tochter endlich in die Arme schließen zu können, kämpft sofort gegen ein beklemmendes, tief sitzendes Unbehagen. Das Mädchen ist verändert, schweigsam und umgeben von einer undurchdringlichen Aura des Geheimnisses.
Hier tritt Dr. Vinzenz Reker auf den Plan, ein erfahrener Kinder- und Jugendpsychologe, der Leni betreut. Durch seine Augen – die eine der beiden zentralen Perspektiven bilden – erleben wir die hochsensiblen, fast schmerzhaften Therapiegespräche. Dr. Reker liebt seinen Beruf, doch dieser Fall geht ihm emotional außergewöhnlich nahe. Er setzt alles daran, das schweigende Mädchen zu verstehen und die Leere zu füllen, die es umgibt.
Der Autor führt uns meisterhaft durch diese doppelte Erzählstruktur. Während wir Dr. Reker bei seinem behutsamen Vordringen in Lenis Trauma begleiten, blicken wir durch die Augen von Julia, der Mutter. Julia ist eine faszinierende, wenn auch verschlossene Protagonistin. Sie kämpft damit, Gefühle offen zu zeigen, doch man spürt in jeder ihrer Reaktionen, wie sehr sie das verschwundene Kind vermisst und wie sehr sie diese neue Leni verunsichert. Sie rekapituliert die Geschehnisse der Vergangenheit und konfrontiert sich mit der erschreckenden Gegenwart.
Kohlhaas’ Schreibstil ist einnehmend, eindringlich und zutiefst emotional. Er erzählt in angenehm kurzen Kapiteln, was der Geschichte eine atemlose Dynamik verleiht und den konstanten Spannungsbogen hält. Dieses Buch ist eine herzzerreißende Familienchronik, verwoben mit einer Welt voller Lügen und dunkler Geheimnisse.
Die beklemmende Atmosphäre, die der Autor durch die sorgfältige Auswahl seiner Charaktere und die düstere Szenerie des oberbergischen Waldes schafft, ist allgegenwärtig. Man spürt die Verzweiflung, die Trauer und die unterschwellige Angst, die alle Beteiligten lähmt. Und mich als stille Beobachterin gleich mit!
Besonders der Schlussteil des Thrillers ist von einer erschütternden Wucht. Als Dr. Reker nach und nach die ungeheure Wahrheit aus Leni entlockt und alle Geheimnisse ans Licht kommen, spürt man als Leser förmlich den Kloß im Hals. Die Auflösung ist so abgründig und schockierend, dass sie einen auch lange nach Beendigung der Lektüre nicht mehr loslässt.
Fazit: Ein psychologisch genialer und außergewöhnlich intensiver Thriller. Dieses Buch ist düster, emotional und von der ersten bis zur letzten Seite fesselnd. Kohlhaas erzählt seine erschütternde Geschichte mit solcher Dringlichkeit und Tiefe, dass sie direkt ins Herz trifft und beweist, dass die größte Dunkelheit oft im Schweigen liegt. Ein absolutes Muss für alle Liebhaber des anspruchsvollen, abgründigen Psychothrillers. Sofort lesen!