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Veröffentlicht am 24.06.2019

Nicht, was ich erwartet habe.

Im Schatten des Schleiers
4

Leider konnte das Buch meine Erwartungen nicht erfüllen. Anhand des Klappentextes und des Untertitels (Mein Kampf für ein Leben in Freiheit. Wie ich Folter und Verfolgung im Iran entkam) hatte ich eine ...

Leider konnte das Buch meine Erwartungen nicht erfüllen. Anhand des Klappentextes und des Untertitels (Mein Kampf für ein Leben in Freiheit. Wie ich Folter und Verfolgung im Iran entkam) hatte ich eine eindringliche Geschichte über Folter und Flucht erwartet. Stattdessen erzählt Maryam vor allem ihre Lebens- und religiöse Erweckungsgeschichte, die zwar auch mit sehr viel Dramatik aufwarten kann, aber nicht dem entspricht, was ich mir hier erhofft hatte.

Maryam wächst im Iran auf und schildert eindringlich das unterdrückte Leben der Frauen dort (Verschleierung, Zwangsehe usw). Als Frau und Angehörige einer Minderheit hat sie es doppelt schwer: Sie und ihre Familie müssen stets mit willkürlichen Kontrollen oder gar Verhaftungen rechnen, so ziemlich jeder außerhalb der Familie bespitzelt jeden, eine eigene Meinung oder Willen ist Frauen sowieso untersagt. Diese Gängelungen werden im Buch anhand zahlreicher Ereignisse nachvollziehbar und nachhaltig beschrieben.

Dann, langsam, macht sich das zweite, vielmehr das eigentliche, Thema des Buches breit: Glaube, und zwar in verschiedenster Form. Natürlich kommt die "Hausreligion", der Islam, im Alltag oft zu Wort. Einem sehr beträchtlichen Teil der Geschichte wird Raum für alten persischen (Aber)Glauben/Magie eingeräumt, als Maryam Geschäfte mit einer Doanevis (eine Art Hexe) beginnt. Die Thematik war nicht grunsätzlich uninteressant, da für mich neu, nahm aber im Gegensatz zu anderen Themen zu viel Raum ein, ohne dass ersichtlich wurde, warum (außer als Betonung einer Art "Glaubensvielfalt").

Maryam kommt schließlich mit Christen in Kontakt, ist fasziniert von der für sie neuen (und verbotenen) Religion und schließt sich ihr schließlich an - was sie und ihre Familie letztendlich zur Flucht zwingt. Die wird dann, für meinen Geschmack, relativ knapp und unausführlich abgehandelt.

Sprachlich ist das hier kein großer Wurf, entsprechend flott las sich das Buch weg. Aber das erwartet man bei so einer "wahren Geschichte"-Nacherzählung ja gar nicht, zumal sie durch einen Übersetzer verschriftlicht wurde.

Inhaltlich, naja: Wer sich für religiöse Themen, Konversionsgeschichten und Lobgesänge auf das Christentum interessiert, dürfte an diesem Buch Gefallen finden. Mir war es von allen drei Dingen zuviel.

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Veröffentlicht am 14.05.2019

Unterhaltsames und auch spannendes Hörbuch

NSA - Nationales Sicherheits-Amt
1

Endlich mal wieder ein richtig guter Eschbach - ein von Anfang bis Ende gut durchdachtes, erschreckend realistisch und beklemmendes Szenario aus dem Bereich der "alternativen Geschichte". Und auch das ...

Endlich mal wieder ein richtig guter Eschbach - ein von Anfang bis Ende gut durchdachtes, erschreckend realistisch und beklemmendes Szenario aus dem Bereich der "alternativen Geschichte". Und auch das Ende hat er super hingekriegt, das ist ja nicht immer so seins - hier passt für mich alles.

Die Grundlage dieser alternativen Geschichte ist schnell erzählt: Was wäre, wenn die Nazis (und auch alle anderen Menschen dieser Zeit) schon Computertechnologien, inklusive Handys und Social Media, gehabt und genutzt hätten? Schon als ich das erste Mal von diesem Plot gelesen habe, war ich direkt angefixt und hatte vor allen zwei Gedanken: 1) GRUSEL und 2) Wie soll das gehen?

Gedanke 1 - GRUSEL hat Eschbach schon mit dem sehr fulminanten Einstieg bereitet, der schon in den ersten Szenen sehr anschaulich beschreibt, welche Auswirkungen es auf der spätere Geschichte gehabt hätten, wären die Nazis schon online gewesen. Es gibt einige dieser geschichtsverändernden Szenen im Buch, ich werde hier nix inhaltlich spoilern, nur soviel: Jede Änderung war plausibel und nachvollziehbar. Und überhaupt, die ganze Szenerie, erschreckend! Big Brother kann einpacken, echt.

Plausibel und nachvollziehbar trifft erfreulicherweise auch auf meinen Gedanken 2 - Wie soll sowas gehen? zu. Die Story, warum Rechenmaschinen, und mit ihnen später Computer und Handys, schon weitaus eher "erfunden" wurden als geschehen, ist kein totaler Fantasyplot, sondern basiert tatsächlich auf historischen Grundlagen, die, zumindest bis zu einem gewissen Grad, gewisse Technologien hätten beschleunigen können, wenn, ja wenn... tja, nix mit wenn, es ist, wie es ist (und, gemessen an Eschbachs alternativer Version, wohl auch besser so). Sicher wird es für absolute IT-Cracks noch mehr Fragen geben, für mich als Leserin, die auf der Suche nach spannender Unterhaltung war, die nicht total abgehoben ist, hat dieser Roman alles erfüllt, was ich mir erhofft hatte, ohne das ich ständig Gedanken à la "was für ein Quatsch!" im Hinterkopf hatte.

Die zwei Hauptcharaktere waren gut gewählt: Da ist zum einen Helene, ein Mädchen aus guten Hause, die als "Programmstrickerin" (Programmiererin) beim NSA eine steile Karriere hinlegt. Sie ist unser "guter" Charakter, zumindest dem Anschein nach, denn aus zwei Gründen (mangelndes, fast schon pathologisch geringes Selbstwertgefühl, sowie berufliche Aufgaben, die sie in ihrer Naivität nicht immer gleich durchblickt) vollzieht sie - ungewollt, aber nichtsdestotrotz - einige negative Handlungen, die sie nicht ganz so unschuldig erscheinen lassen.

Der zweite Charakter, Eugen Lettke, handelt eher unter umgekehrten Vorzeichen: Mit dem Wissen, unerschütterlich wichtiger "Sohn eines Kriegshelden" zu sein aufgewachsen, ist er, zumindest unterschwellig, mit einem enormen Selbstwertgefühl ausgestattet. Als Kind wurde er einmal verletzt, etwas, das seine "Heldenkind"-Erziehung nicht vorgesehen hat, seitdem bestimmen Rachegelüste sein Leben.

Beide, sowohl Helene als auch Eugen, können dem Nationalsozialismus nichts abgewinnen, "nutzen" ihn jedoch beide gewissermaßen für persönliche Zwecke. Beide nutzen außerdem ihre Arbeit und Stellung, um private Dinge "zu regeln" - ich empfand diese Facetten sehr interessant, machen sie die beiden doch vielschichtiger als "die liebe Helene" und "der böse Eugen". Wie sie zu dem wurden, was sie sind, erzählt Eschbach sehr ausführlich, wobei Helene (zu Recht) mehr Platz eingeräumt wird - gleichzeitig dient Helenes Erzählstrang auch als Erklärung dieser alternativen Welt.

Toll fand ich auch die Sprache: Hin und wieder hat Eschbach damals "zeitgemäße" Begriffe und Wendungen eingestreut, sowohl in Dialogen als auch in Beschreibungen. Und zwar genau im richtigen Maß: Zuviel hätte "gewollt" gewirkt, weniger wäre kaum aufgefallen. So gab es ab und an ein "daran haben Sie gut getan" (statt "das haben Sie gut gemacht"), "Frommser" (statt Kondom) usw. - leider fallen mir ad hoc keine weiteren Beispiel ein, aber ich fand diese kleinen Momente der eher ungewohnten Formulierungen ziemlich cool. Sie haben die Zeit noch etwas greifbarer gemacht.

Alles in allem ein sehr unterhaltsames und auch spannendes Hörbuch, bei dem ich mich nicht eine Minute gelangweilt habe. Keine Weltliteratur, aber spannend, absolut nachvollziehbar und auch lehrreich. Das ist es, was ich von Eschbach erwarte, und das hat er voll und ganz erfüllt.

Ich habe die ungekürzte Version gehört und bin voll des Lobes für die Sprecherin Laura Maire, die wirklich alle Stimmungen und Stimmen zum Leben erweckt hat. Werde nach weiteren Hörbüchern von ihr Ausschau halten.

Veröffentlicht am 14.05.2019

Mehr Gesellschaftskritik als bahnbrechende Depressionsforschung

Der Welt nicht mehr verbunden
1

Dies ist ein gutes Buch, das viele Kritiken an den heutigen, kapitalistisch geprägten Gesellschaften der westlichen Welt zusammenfasst und aufzeigt, wie diese Lebensweisen dazu führen, dass so viele Menschen ...

Dies ist ein gutes Buch, das viele Kritiken an den heutigen, kapitalistisch geprägten Gesellschaften der westlichen Welt zusammenfasst und aufzeigt, wie diese Lebensweisen dazu führen, dass so viele Menschen dabei "auf der Strecke" bleiben - nicht nur im materialistischen/sozialen, sondern auch im gesundheitlichen Sinn. Depressionen, so der Autor, werden nämlich durch viel mehr ausgelöst als "nur" Leitungsstörungen im Gehirn - und das sei auch der Grund, warum die medizinische Behandlung in Form von Antidepressiva so gut wie nie helfe. Um Depressionen gezielt und dauerhaft zu bekämpfen, müssten neben den biologischen auch die sozialen Faktoren (stärker) mit einbezogen werden. Pillen einzuwerfen allein sei in den meisten Fällen nicht mehr als ein Ratespiel - krank sind nicht die Menschen, die sie nehmen, sondern die Welt um sie herum. Soweit, ganz grob geschildert, die Grundidee dieses Buchs.

Das Fehlen des gemeinschaftlichen Zusammenhalts, der materielle Egoismus, das ständige Streben nach höher, schneller, weiter, mehr - all dieses sind Faktoren, die viele Menschen psychisch krank machen. So weit, so gut - ich stimme dem Autor in allen diesen Punkten zu. Die Beispiele für eine "bessere Welt", die er im zweiten Teil des Buches reportagenartig vorstellt, fand ich alle anschaulich und interessant: Ob das Berliner Multikulti-Viertel, das sich aufgrund drohender Gentrifizierung von anonymer Nachbarschaft zu einer rührigen Kommune mit Protestcharakter gewandelt hat, oder das Geschäftsmodell eines Fahrradmechanikers, der sein Geschäft in Form einer Genossenschaft aufgezogen hat: Die Menschen, die in diesen Modellen leben oder arbeiten, sind größtenteils glücklicher, zufriedener und weniger krank. Ihr Leben hat einen Sinn, hinter dem sie stehen, mit Leidenschaft und Herz. Sie sind Menschen, die wir uns alle als Beispiele für eine alternative Wohn- oder Lebensweise nehmen könnten. So hat das Buch gut für mich funktioniert: Als Anregung für eine bessere Welt. Von der kleinen Achtsamkeitsübung bis zur ganz großen Kapitalismuskritik.

Was für mich nicht gut funktioniert hat, war der Zusammenhang zu den "wahren Ursachen" und "unerwarteten Lösungen" von und für Depressionen, die der Untertitel suggeriert. Was das angeht, habe ich hier nicht viel Neues erfahren. Der Teil des Buches wäre besser geeignet als Historie über die medizinische Betrachtung der Depression im Laufe der vergangenen Jahrzehnte ("Was bisher geschah").

Für mich (als Angehörige depressiver Menschen mit Therapie- und Behandlungserfahrung) stand es schon vorher völlig außer Frage, dass auch soziale Faktoren Ursachen einer Depression sind. In einem der ersten Kapitel bemängelt der Autor, dass er in mehr als 30 (!) Jahren Behandlung mit Antidepressiva nicht ein einziges Mal von seinem Arzt gefragt wurde, warum er traurig sei, ob ihn etwas belaste usw. Tut mir leid, aber das kann ich nicht glauben, und da hat der Autor gleich zu Beginn sehr viel Skepsis bei mir gesät. Sind also meine eigenen Erfahrungen mit Psychiatern, Psychotherapeuten, Hausärzten und Therapieeinrichtungen so außergewöhnlich gut, dass ich (und meine betroffenen Angehörigen) zumindest in dieser Hinsicht zu absoluten Glückskindern gehören? Hmmmm...

Auch die Kritik, dass soziale Faktoren keine oder viel zu wenig Berücksichtigung finden, kann ich so nicht bestätigen. Berufswechsel aufgrund akuter Depressionen (die wiederum aufgrund des Berufes ausgelöst und auch so diagnostiziert wurden) mit anschließender bezuschusster Reha/Umschulung - wieder nur ein glücklicher Einzelfall? Jahrelange (akute) therapeutische Behandlung mit Entspannungsübungen und den verschiedensten Kommunikationsformen - ich selbst war Teil einer Therapiesitzung für Angehörige, in der genau jene Fragen (nach den sozialen Faktoren, eventuellen Traumata, Gefühlen von- und zueinander) behandelt wurden - wieder nur ein glücklicher Einzelfall? Ich verstehe das nicht, ganz ehrlich. Und man kann nicht einmal die "vielleicht sind das die Zustände in den USA"-Karte ziehen, denn der Autor benennt mehrfach ausdrücklich die aktuelle Lage in Deutschland und hat hier auch viel recherchiert. Ich bin wirklich ratlos, was diese Passagen des Buches angeht.

Natürlich hat das System jede Menge Lücken und viel Verbesserungspotenzial nach oben, keine Frage. Die Plätze für stationäre Therapie sind zu knapp, die Wartezeiten zu lang, die Dauer oft zu kurz, die Behandlungen nicht immer "treffsicher". Auch die Antidepressiva sind sicher nicht der Weisheit letzter Schluss - allein schon die langwierige Suche nach dem passenden Präparat gibt zu denken. Und dennoch: Alles im Körper beruht nun mal auf chemischen Prozessen, auch im Gehirn. Und der Autor gesteht Betroffenen ja auch durchaus zu, dass (zumindest bei einigen von ihnen) Antidepressiva helfen.

Aber zu sagen, Therapie bestehe im Regelfall nur aus Tablettenlotterie und keiner fragt nach mehr? Und die Idee, auch mal nach anderen Faktoren zu schauen, als bahnbrechende Neuerung zu verkaufen? Das kam bei mir nicht gut an. Und was wäre die Alternative? Nicht jeder Mensch hat die Möglichkeit, sein Leben einfach mal neu in einer Kommune durchzustarten. Da steht dann wieder das System im Weg, das finanzielle oder mobile Hindernisse aufbaut. Teufelskreis. Auch der grundsätzliche Gedanke "Depression ist keine Krankheit, sondern ein Symptom einer kranken Gesellschaft" - stieß mir sauer auf. Kämpfen die Betroffenen nicht schon viel zu lange dafür, dass die Gesellschaft Depression (und andere psychische Beeinträchtigungen) als Krankheit anerkennt? Dass es eben kein "Jetzt stellt dich nicht so an"-Ding ist, an der die "böse Welt da draußen" Schuld ist? Der Autor geht selbst (kurz) darauf ein, aber mir hat das nicht gereicht. Ich glaube, da tut man der Community auf lange Sicht keinen wirklichen Gefallen mit.

Zu guter Letzt noch eine stilistische Anmerkung: Mit waren zu viele "Cliffhanger" bzw. zu gewollte Überleitungen in dem Buch. Fast jedes Kapitel lief auf eine Formulierung à la "Aber da wusste ich noch nicht, dass ich bald einen Mann treffen sollte, der noch viel beeindruckendere Dinge herausgefunden hatte" heraus. Das hat schnell genervt.

Alles in allem ein gutes gesellschaftskritisches Buch mit unterhaltsamen Reportagen alternativen Lebensweisen. Als bahnbrechendes Werk über Depressionen hat es mir nicht gefallen.

Veröffentlicht am 04.09.2020

Gesellschaftliche relevante Themen, die weh tun, das Ganze innovativ erzählt

Serpentinen
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Ein düsteres, sehr bedrückendes, teils geradzu ängstigendes Buch: Depression, Suizid(gedanken), Trauma, Alkoholsucht - die grobe Themenauswahl fungiert hier schon als Triggerwarnung.

Der Erzähler reist ...

Ein düsteres, sehr bedrückendes, teils geradzu ängstigendes Buch: Depression, Suizid(gedanken), Trauma, Alkoholsucht - die grobe Themenauswahl fungiert hier schon als Triggerwarnung.

Der Erzähler reist mit seinem jungen Sohn zurück in seine Heimat. Dort lauern natürlich an jeder Ecke Erinnerungen - für den Erzähler sind diese meist qualvoll und schmerzhaft, denn seine Vergangenheit wird von "unaussprechlichen" Tragödien geprägt. Sowohl Vater als auch Groß- und Urgroßvater haben sich umgebracht, die Umstände wurden danach jeweils totgeschwiegen. Nun ist der Erzähler selbst in dem Alter, in dem seine Ahnen meist schon aufgegeben hatten - und er weiß nicht, ob er stark genug ist, dem Schicksal zu entfliehen und seinen Sohn davor zu beschützen.

Bov Bjerg erzählt die Geschichte in Fragmenten - die Serpentinen sind nicht nur die kurvigen Straßen der Schwäbischen Alb, sondern auch die Erinnerungsverläufe, Wiederentdeckungen, Reminiszenzen. Außerdem wabert, je nach Alkoholspiegel, das Bewusstsein des Erzählers hin und her ("Reich mir mal noch ein Bier rüber"). Neben den bereits erwähnten Themen - intergenerationelles Trauma, versinnbildlicht durch Depression und Suizid - spielt auch Klassismus eine Rolle. Der Erzähler, mittlerweile studierter Soziologe, traut seinem eigenen Bildungsweg nicht; zu hoch hinaus ist er, der einfache Arbeiterjunge, gekommen, merkt das denn keiner?

Kurzum: Gesellschaftliche relevante Themen, die weh tun, das Ganze innovativ erzählt. Was mir hier besonders gefallen hat, ist die Darstellung der Krankheit Depression. Das Thema hält ja immer mehr Einzug, nicht nur im Sachbuch, und ist natürlich, wie die Krankheit selbst auch sehr unterschiedlich empfunden wird und "wirkt", auf verschiedene Weise darstellbar. Bov Bjerg wählt hier den steinigsten Weg. Sein Charakter steckt ganz tief drin in der Depression, seine Gedankenwelt sind von Suizidgedanken und dem Nachdenken über den (familiären) Suizid bestimmt, und auch die Zukunftsgedanken sind überwiegend düster bis grausam. Das ist schwere, harte Kost, auf die sich sicher nicht jeder Leserin einlassen will, was verständlich ist. Ich lobe Berg für seinen Mut, die dunklen Seiten der Krankheit so böse und direkt "nackt" zu zeigen - das zu lesen ist teils sehr ungenehm, aber manchmal nötig.

Veröffentlicht am 04.09.2020

Ein tolles Buch, das mich sehr positiv überrascht hat.

Der Halbbart
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Ein Buch, das im Jahr 1313 in der heutigen Schweiz spielt (inklusive helevetischen Begriffen), erzählt von einem Jungen, und davon 688 Seiten? Ich gebe es zu, so richtig viel Bock hatte ich anfangs nicht ...

Ein Buch, das im Jahr 1313 in der heutigen Schweiz spielt (inklusive helevetischen Begriffen), erzählt von einem Jungen, und davon 688 Seiten? Ich gebe es zu, so richtig viel Bock hatte ich anfangs nicht auf den Halbbart. Aber schon nach wenigen Seiten war ich quasi schockverliebt in Sebi: Selten so einen tollen, einnehmenden, sympathischen Protagonisten/Erzähler erlebt! Und schwupps, das Buch las sich quasi von selbst. Das ist große Erzählkunst in 83 Kapiteln à 8 Seiten, die Charles Lewinsky hier abliefert.

Sebi, Dreh- und Angelpunkt der Geschichte und Erzählung, ist ein Junge auf der Schwelle zum Erwachsenen, der nicht so recht weiß, was er will - oder kann. Als jüngster von drei Brüdern (in bester Märchenmanier ist der Älteste Geni weise und "gut", der mittlere Poli ein Unruhestifter) fällt es ihm nicht leicht, seinen Platz zu finden. Und so steckt er meist in der Rolle des Beobachters und Kommentators fest - für die Leserschaft ein echter Glücksfall, denn Sebi ist das, was man wohl landläufig "bauernschlau" nennt. Er hat ein Gespür für Menschen und Situationen und blickt schnell, was Sache ist. Diese clevere Auffassungsgabe ist ihm selbst aber gar nicht richtig bewusst, sodass er seine Beobachtungen und Überlegungen nie überheblich, sondern stets lakonisch-nonchalant, fast nebenbei schildert - was ihn umso glaubwürdiger und sympathischer macht.

Der titelgebende Halbbart läutet mit seinem Erscheinen den Beginn der Erzählung ein. Er ist ein mysteriöser Fremder, der aufgrund seines verunstalteten Äußeren (augenscheinliche Brandnarben) sein Pseudonym erhält. Die, die ihm nahestehen, - und da gehört Sebi schnell dazu - erfahren von seinem Schicksal und dem Antisemitismus, der ihn zum Flüchtigen machte.

Das Buch selbst ist ein Bildungsroman, Sebis Coming of Age, wenn man so will. Vor allem ist es aber eine große Liebeserklärung an die Fabulierkunst. Sebi erzählt vom Leben im Dorf (und da passiert eine Menge, wir sind mitten im Marchenstreit, die Hintergründe werden im Buch geschildert) und von vielen anderen Geschichten, die er gehört hat. Das Erzählen wird für ihn selbst immer wichtiger, bis hin zur wahren Bestimmung.

Viel historisches bla bla bla? Nicht nur, denn viele Themen im "Halbbart" sind gerade heute aktueller denn je. Denn Sebi merkt, was Geschichten in den falschen Händen oder ihr Erzählen mit falschen Absichten ausrichten können: Fake News, Medienmanipulation und Geschichtsrevision lassen grüßen. In dieser Hinsicht funktionieren die mittelalterlichen Mechanismen heute noch genauso "gut"...

Ein tolles Buch, das mich sehr positiv überrascht hat.