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Veröffentlicht am 29.06.2019

Geschichte zum Leben erweckt

Schwert und Krone - Meister der Täuschung
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Im ersten Band des "Barbarossa Epos" Schwert und Krone widmet sich Sabine Ebert der Zeit zwischen 1137 und 1147, als Staufer und Welfen um die Königsmacht kämpften. Von Beginn an sind wir mitten im Geschehen, ...

Im ersten Band des "Barbarossa Epos" Schwert und Krone widmet sich Sabine Ebert der Zeit zwischen 1137 und 1147, als Staufer und Welfen um die Königsmacht kämpften. Von Beginn an sind wir mitten im Geschehen, die Erzählweise bleibt das ganze Buch über farbig. Ambitioniert werden die aufregenden Geschehnisse aus Sicht der Herrschenden geschildert und dies gelingt gut. Uns begegnen eine Vielfalt historischer Personen - nicht nur die Staufer und Welfen, sondern auch die lokalen Herrscher wie Albrecht der Bär, Konrad von Meißen, diverse Bischöfe, Grafen und ihre Familien. Eine Übersicht vorne im Buch listet die wesentlichen Charaktere nach Familien geordnet auf. Ich habe diese Übersicht nicht gebraucht, weil es die Autorin die Figuren so gut darstellt, daß man sie auseinanderhalten und ihren verschiedenen Handlungssträngen folgen kann.

Auch sonst bietet das Buch gute Hintergrundmaterialien. Eine farbige Landkarte auf der inneren Umschlagseite zeigt die verschiedenen Herrschaftsgebiete und wichtigsten Städte. Diverse Stammbäume der beteiligten Familien sowie ein Glossar schließen sich im hinteren Teil des Buches der Geschichte an. Der Auflistung der Personen folgt ein ausführlicher Stammbaum der Staufer und Welfen - der ist leider zumindest im Taschenbuch gar nicht hilfreich, da die Schrift so winzig ist, daß man sie nicht lesen kann. Hinzu kommt, daß die Felder der Staufer dunkel unterlegt sind. Dunkle Schrift auf dunklem Hintergrund...komplett unlesbar. Das kann man nicht der Autorin und dem Buch zur Last legen, aber es war ausgesprochen ärgerlich und ich frage mich, warum ein Verlag so etwas nicht überprüft. Im Nachwort gibt die Autorin noch einige Informationen und erklärt auch, an welchen Stellen sie sich ein wenig dichterische Freiheit erlaubte und welche Punkte sich historisch nicht definitiv belegen lassen. Das fand ich informativ und gut.

Es ist auf jeder Seite offensichtlich, daß hier viel historisches Wissen vorhanden ist und auch gründlich recherchiert wurde. Durch zahlreiche Details lebt die Welt des 12. Jahrhunderts auf und ich konnte mir vieles bildlich vorstellen. Wie bereits erwähnt, erhalten auch die Charaktere Konturen und werden von bloßen historischen Namen zu Menschen, die man sich ebenfalls gut vorstellen kann. Es hat mir sehr gut gefallen, wie diese Welt zum Leben erweckt wurde. Manchmal ist es allerdings auch etwas zu viel der Detailfreude, viele Szenen ziehen sich durch diese Ausführlichkeit. Auch die Vielzahl der beteiligten Personen geht manchmal etwas zu Lasten von Übersichtlichkeit und Erzählfluß. Den historischen Personen werden einige wenige fiktive Charaktere zur Seite gestellt, deren Geschichte ich in großen Teilen nicht so interessant fand, was auch daran gelegen haben wird, daß es einfach insgesamt zu viele Erzählstränge waren. Auch wiederholen sich manche Szenen in der Struktur - der geheimen Gespräche in Militärlagern gab es reichlich und der geheimen Gespräche in Burgkammern ebenfalls. Überwiegend aber liest sich das Buch unterhaltsam, oft spannend und das Ende ist geschickt gewählt, denn es werden genügend Andeutungen gemacht und neue Erzählstränge begonnen, um die Neugier der Leser zu erwecken.

Ein ausgesprochen ärgerliches Manko ist allerdings die unerfreuliche Methode, Infodumping per Dialog zu betreiben. Bei einer erfahrenen Autorin hätte ich nicht damit gerechnet, daß die Informationsvermittlung an vielen Stellen so plump erfolgt. Viele Dialoge dienen ausschließlich dazu, dem Leser Hintergrundinformationen zu vermitteln. Wenn dies gut gemacht ist, ist es als Methode durchaus sinnvoll, aber es ist leider überhaupt nicht gut gemacht. Da erzählen sich ständig Leute Dinge, die sie bereits wissen und das in aller Ausführlichkeit. Da betet eine Mutter ihrem Sohn ihren Stammbaum herunter, als ob er ein völlig Fremder wäre, oder jemand berichtet einem anderen von Geschehnissen, die sie gemeinsam erlebten. Viele Unterhaltungen sind in diesem Sinne (kein Zitat, nur ein Beispiel): "Du bist bei deinem Onkel Arnulf aufgewachsen. Er und seine Frau Hildtrud hatten vier Kinder namens a, b, c und d. A und c starben im Alter von vier, bzw. sieben Jahren. Da b und d Mädchen sind, hat dein Onkel keinen Erben." Kein Mensch würde so reden und im Buch kommen solche Dialoge so oft vor, daß ich mich richtiggehend geärgert habe, denn hier wählt die Autorin eine unelegante, für sie einfache Methode und nimmt den Leser nicht ernst. Das hat mein Lesevergnügen erheblich beeinträchtigt. Ein kleineres Ärgernis waren die doch häufigen Wiederholungen von Fakten und Informationen, sowie die Holzhammermethode, mit der auf die Situation der Frauen in dieser Zeit immer und immer wieder hingewiesen wurde.

Insofern ist es ein durchaus lesenswertes Buch, in dem Geschichte gelungen erweckt, Zusammehänge gut erklärt werden, und auch das zweite Buch werde ich lesen, aber es gab leider mehrere Punkte, die ich störend fand.

Veröffentlicht am 22.06.2019

Eine untergegangene Zeit

Wandlungen einer Ehe
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Wie der Titel schon sagt, geht es im Buch im die Wandlungen einer Ehe, aber letztlich geht es um so viel mehr, wie der Klappentext schon verrät: "Zugleich ist es ein Abgesang auf die großbürgerliche mitteleuropäische ...

Wie der Titel schon sagt, geht es im Buch im die Wandlungen einer Ehe, aber letztlich geht es um so viel mehr, wie der Klappentext schon verrät: "Zugleich ist es ein Abgesang auf die großbürgerliche mitteleuropäische Welt". Hier übrigens auch mal ein Lob an Piper, denn nach langer Zeit kann ich mich hier über einen Klappentext freuen, der nicht irreführend ist und dem Buch gerecht wird. Wie schon in „Die Glut" erweckt Sándor Márai auch hier wieder eine versunkene Welt zum Leben – das Großbürgertum, die Villen und Kaffeehäuser von Budapest, die Frage, was eigentlich Bürgerlichkeit, Stil, Kultur ausmacht.

In drei langen Monologen – eine Spezialität von Márais Stil – kommen hier die Hauptbeteiligten der Ehe zu Wort. Zuerst erfahren wir die Perspektive der Ehefrau, bzw. der Exfrau, die mit einer Freundin im Kaffeehaus sitzt, ihren Exmann dort sieht und daraufhin der Freundin die Geschichte ihrer Ehe erzählt. Wir erfahren alles aus ihrer Sicht, einige Dinge bleiben noch ein wenig unklar. Der zweite Teil des Buches gehört dem Ehemann, der Jahre später einen Abend mit einem guten Freund verbringt und die gleiche Geschichte erzählt und sie weiterführt. Hier eröffnen sich uns dann die Hintergründe seiner Persönlichkeit, erhellen sich einige der vorher unklaren Stellen. Zudem geht der Ehemann zurück in seine Vorgeschichte. Der von der Exfrau berichtete Zeitrahmen wird hier nur gestreift, um zu vervollständigen, zu erklären. So gelingt es Márai meisterhaft, die Geschichte so facettenreich darzustellen, daß ich ganz gebannt weiterlas.

Ganz wundervoll fand ich gerade des Ehemannes Darstellungen des großbürgerlichen Lebens und des Verständnisses, Bewahrer einer aussterbenden Lebensart zu sein. Die Werte, Ansichten und Lebensweisen dieses Lebens sind mit farbiger Detailfreude dargestellt, könnten fast schon als Recherchematerial dienen. Es geht über die reine Darstellung hinaus, man spürt die Atmosphäre dieses Lebens regelrecht, findet sich hinein, spürt, was da verlorenging.
Diese beiden Teile erschienen 1941 als Buch und man kann den Erzählungen entnehmen, daß sie – abgesehen von den Rückerinnerungen des Ehemanns, die uns in die k.u.k-Zeit führen - den Zeitraum zwischen den beiden Weltkriegen behandeln. Auch diese seltsame Atmosphäre einer fragilen Friedenszeit ohne richtigen Frieden, die dunklen Vorahnungen sind mit prägnanten Formulierungen ganz wundervoll eingefangen.

Der letzte Teil des Buches wurde sieben Jahre nach Veröffentlichung der ersten beiden Teile geschrieben, 1948, und berichtet eindringlich davon, was zur Zeit der ersten beiden Teile noch gar nicht zu ahnen war – die Belagerung und Zerstörung von Budapest, die gewaltsame Vernichtung der Bürgerlichkeit. Hier spricht die dritte Person in diesem Beziehungsgeflecht, nimmt den Faden des Ehemannes auf und führt ihn weiter bis in die Gegenwart des Buches. Sie ist – wie Márai damals selbst – im italienischen Exil. Auch hier entfaltet sich die großbürgerliche Welt noch einmal vor uns, diesmal durch die Augen eines Dienstmädchens, wodurch Charaktere und Lebensart eine weitere literarische Facette erfahren.

Und so lesen wir hier nicht nur aus drei Perspektiven hervorragend geschilderte Wandlungen einer Ehe und deren Folgen, sondern erfahren auch ein literarisches Denkmal an die Bürgerlichkeit, die zu Beginn des Buches leicht bröckelt und dann am Ende in einem riesigen Trümmerhaufen versinkt.

Veröffentlicht am 16.06.2019

Detailverliebte fundierte Darstellung

Deutsche Geschichte 1800-1866
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Das hier von Thomas Nipperdey verfaßte Werk kann man schon fast monumental nennen. Auf über 800 Seiten beleuchtet der Autor 66 Jahre deutsche Geschichte. Dies geschieht in einem erfreulichen Miteinander ...

Das hier von Thomas Nipperdey verfaßte Werk kann man schon fast monumental nennen. Auf über 800 Seiten beleuchtet der Autor 66 Jahre deutsche Geschichte. Dies geschieht in einem erfreulichen Miteinander der "großen" Geschichte der Politik und Kriege und der "kleinen" Alltagsgeschichte. Die ausführliche Berücksichtigung der Alltagswelt bietet durchaus nicht jedes geschichtliche Werk.

Ausführlichkeit ist ohnehin ein Charakteristikum des Buches, sowohl im positiven wie auch in negativen Sinn. Eine derart detaillierte geschichtliche Betrachtung habe ich selten gelesen. Sehr genau, manchmal minutiös zeichnet Nipperdey Geschehnisse auf, beschreibt die verschiedenen Positionen und Motive der involvierten Parteien. An Hintergrundinformationen mangelt es keineswegs, es gibt auch spezielle Kapitel, die über Parteienentwicklungen, wichtige Bewegungen genau informieren. Allerdings geht diese Detailfreudigkeit häufiger zu Lasten einer effizienten Informationsvermittlung. Man verliert sich beim Lesen manchmal zu sehr in Details an für mich wäre oft weniger mehr gewesen. Auch gibt Nipperdey gerne dem in Deutschland so beliebten Drang der Wissenschaftler nach, vieles nach Möglichkeit gleich mehrfach hintereinander zu schreiben. Ich fand es enervierend, immer wieder eine Seite lang die gleiche Äußerung in diversen Formulierungen zu lesen.

Ein Grundverständnis für Geschichte sollte bereits bestehen, ebenso sollte bereits Wissen über die damaligen Verhältnisse und wichtigsten Personen vorhanden sein. Als Einführung ist dieses Buch nicht geeignet und sicher auch nicht gedacht. Es vermittelt ein tieferes Verständnis von Hintergründen und Zusammenhängen. Gerade die Zusammenhänge kann Nipperdey gut aufzeigen. Beim Lesen dieses Buches kann man gut verstehen, welch weitreichende Konsequenzen manche Entscheidungen haben, wie lange sie sich auswirken können. Die wacklige Balance der europäischen Mächte, die internationalen Implikationen und notwendigen Rücksichtnahmen sind hier ebenfalls hervorragend dargestellt. So fundiert habe ich diese Themen bislang selten beschrieben erlebt.

Wenig erfreulich fand ich die Tendenz, zu sehr in Philosophisches abzugleiten. Die ausgesprochen detaillierten Abhandlungen zu philosophischen Hintergründen und Meinungen, die Darstellungen verschiedener philosophischer Strömungen waren mir viel zu viel und haben mich oft geärgert, weil sie mich vom eigentlichen Thema wegführten. Dies wird gerade in dem Kapitel über "Die ästhetische Kultur: Musik, Kunst, Literatur" übertrieben. Auch brachen hier die stilistischen Schwächen sehr durch. Bandwurmaufzählungen des Gleichen, wie "Tendenz zum Idyll, zu optimistischen Gefühlen, zur glättenden Harmonisierung, zu etwas penetrantem Frohsinn, zur Verharmlosung" oder "Tendenz zum Humoristischen, zum Skurrilen, Kauzigen, Ironischen und Karikierenden". Adjektive und Subjekte erscheinen fast nur noch in Paaren oder Gruppen: "Versuch zu Gelassenheit und Beruhigung, zur Stille und Einfalt", "gegen das Große und Laute, gegen Prinzipien und Theorien, hin zum Kleinen, Bescheidenen" oder "zur Bändigung und Dämpfung der Leidenschaften, des Elementaren und des Unheimlichen". Das ist ungemein anstrengend zu lesen und enthält gemessen an den verwendeten Worten recht wenig Inhalt. – Auch Zahlenvergleiche und Statistiken werden oft im Text herunterrezitiert, obwohl sie in einer tabellarischen Übersicht wesentlich besser aufgehoben werden. Einige solche Übersichten werden auch verwendet und sind durchaus informativ.

Nun steht der Stil bei einem solchen Buch nicht im Vordergrund, einen derart geschriebenen Roman hätte ich wesentlich schlechter bewertet. Die Kapitel über die "große" Geschichte sind auch weitestgehend zugänglicher verfaßt. Trotzdem ist es schade, daß sich ein Buch voller guter Informationen teilweise so sperrig liest. Im Ganzen ist es als geschichtliches Werk aber voller interessanter Informationen, gut dargestellter Zusammenhänge und erfreulicher Themenvielfalt. Lernen kann man hier eine ganze Menge.

Veröffentlicht am 16.06.2019

Gemächliches Sittengemälde

Der Fall Hildegard von Bingen
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In "Der Fall Hildegard von Bingen" nimmt Edgar Noske die Ereignisse um die Gründung des Klosters Ruprechtsberg durch Hildegard von Bingen und webt sie in eine Mischung aus historischen Fakten und Fiktion ...

In "Der Fall Hildegard von Bingen" nimmt Edgar Noske die Ereignisse um die Gründung des Klosters Ruprechtsberg durch Hildegard von Bingen und webt sie in eine Mischung aus historischen Fakten und Fiktion ein. Klappentext, Titel und Untertitel ("Ein Krimi aus dem Mittelalter") sind irreführend und unpassend. Es ist alles andere als ein Krimi (was auch völlig in Ordnung ist), sondern ein Sittengemälde der geistlichen Welt des 12. Jahrhunderts und ein Roman, der uns Hildegard von Bingen als Mensch nahebringt.

Viel Spannung sollte der Leser deshalb nicht erwarten. Die im Klappentext erwähnten gefundenen sterblichen Überreste sind zwar der Aufhänger für Hildegard von Bingen, aus ihrem Leben zu berichten, aber das "Geheimnis" ist keineswegs so "düster", wie es uns der Klappentext weismachen will. Eine in diesem Zusammenhang gemachte Aussage aus dem Buch faßt es gut zusammen: "Ich muss gestehen, ich war auf ein schlimmeres Geständnis gefasst." Ich auch. Mich hat es zwar nicht gestört, daß der Fokus des Buches ein anderer war, aber solch irreführende Vermarktung ist immer wieder ärgerlich.

Letztlich geht es in der ersten Hälfte des Buches um die Schwierigkeiten, die Hildegard von Bingen hatte, um Erlaubnis und Mittel für ihr eigenes Kloster zu erlangen. Die zweite Hälfte beleuchtet Bau und erste Zeit des Klosters. Die Rahmenbedingungen und der Großteil der Charaktere sind historisch belegt, die Details und diverse Charaktereigenschaften entspringen der dichterischen Freiheit. Edgar Noske hat die historischen Fakten mit einem farbigen, detailfreudig ausgearbeiteten Bild gefüllt, Namen mit Persönlichkeit versehen und so diese Zeit recht gut aufleben lassen. In manchen Fällen (wie bei der Dämonisierung des Abtes Kuno) gerät das Ganze ein wenig zur Karikatur; gelungene humorvolle Einschübe wechseln mit einigen platten Albernheiten. Die Detailfreude ist oft erfreulich, weil sie Geschehen und Umgebung greifbar macht, an anderen Stellen zieht sie die Geschichte zu sehr in die Länge.

Das Erzähltempo bleibt im ganzen Buch insgesamt gemächlich. Der erste Teil ist handlungsreicher und auch spannender. Im zweiten Teil häufen sich leider zu viele irrelevante Alltagsbegebenheiten, langatmige Dialoge, es gibt einige Wiederholungen. Der letzte Teil wirkte mir zu krampfhaft darauf bedacht, noch ein aufregenderes Ende hinzulegen.

Interessant war der Blick in die farbig geschilderte Klosterwelt jener Zeit und die gelungene Einflechtung historischer Gegebenheiten und der Probleme, denen Hildegard von Bingen sich stellen mußte. Auch Hildegard von Bingen hier als Menschen nahegebracht zu bekommen war eine lohnende Leseerfahrung. Hätte das Buch sich auf diese Stärken konzentriert und die Spannung durch straffere Erzählweise, nicht durch künstlich wirkende "Krimi"-Elemente geschaffen, hätte es mir noch wesentlich besser gefallen.

Veröffentlicht am 14.06.2019

Tolstois Zeigefinger

Auferstehung
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Tolstois "Die Auferstehung" unterscheidet sich sehr von seinen anderen bekannten Romanen und das ist vom Autor auch durchaus so beabsichtigt. Er wollte mit diesem Buch nicht unterhalten, sondern seine ...

Tolstois "Die Auferstehung" unterscheidet sich sehr von seinen anderen bekannten Romanen und das ist vom Autor auch durchaus so beabsichtigt. Er wollte mit diesem Buch nicht unterhalten, sondern seine Gesellschaftskritik, seine Lehre verkünden. Das tut er auch und zwar leider mit schwer erträglicher Penetranz. Der erhobene Zeigefinger fuchtelt dem Leser die ganze Zeit vor den Augen herum und läßt diesen die Geschichte kaum noch erkennen.

Die Grundgeschichte – inspiriert von einem tatsächlichen Gerichtsfall – ist interessant und berührend. Der Adlige Nechljudow wird als Geschworener mit einer für ihn schon fast vergessenen Jugendsünde konfrontiert und erkennt, welche gravierenden Auswirkungen diese für die junge Katjuscha Maslowa hatte. Er hat sie Jahre zuvor verführt, dann sein komfortables Leben weitergeführt. Katjuscha wurde schwanger, von der Gesellschaft verstoßen, stürzt ab, wird zur Protituierten und steht nun wegen eines vermeintlichen Tötungsdeliktes vor Gericht. Die Geschichte dieser beiden, die unterschiedlichen Gefühle, Lebenswelten und Auswirkungen einer Nacht werden berührend geschildert, Katjuscha ist dem Leser sehr nahe, ist eine beeindruckende Persönlichkeit, deren Seelenleben einen kaum kalt lassen kann. Auch Nechljudows Wandlung vom unschuldigen, ehrlich verliebten Jüngling zu einem jungen Mann, der sich zu leicht von seinem gesellschaftlichen Umfeld korrumpieren läßt und gar nicht richtig versteht, was er Katjuscha antut, liest sich gut, wenn seine Motivationen auch ab und an etwas zu ausführlich erklärt werden.

Beeindruckend ist, wie farbig das Gerichtsverfahren beschrieben wird, mit welch guter und spitzer Beobachtungsgabe Tolstoi seine Charaktere darstellt. Der Einblick ins Justizsystem des zaristischen Russland ist aufschlußreich, umfaßt im weiteren Verlauf des Buches noch Beschreibungen vom Gefängnisalltag, Gefangenentransporten nach Sibirien, Einblicke in die Organisation des Strafvollzuges. Sehr schön aufgezeigt ist ebenfalls, wie sehr menschliche Schwächen juristische Entscheidungen beeinflussen können und wie viel man erreichen konnte, wenn man nur die richtigen Leute kannte. Soweit die Stärken des Buches.

Wie anfangs erwähnt, ging es Tolstoi nicht um das Unterhalten, sondern um seine Botschaft. Er nutzt hier Nechljudow, der durch das Schicksal Katjuschas nicht nur sein eigenes Fehlverhalten erkennt und gutmachen möchte, sondern eine radikale abrupte (und dadurch unglaubwürdige) 180-Grad-Wendung vom gedankenlosen Adligen zum Social Justice Warrior macht. Man bekommt den Eindruck, Nechljudow möchte im Alleingang das Justizsystem verändern, er erinnerte mich ein wenig an die ???-Bücher meiner Kindheit. ("Wir übernehmen jeden Fall!") Uns werden nun zahlreiche, kaum noch auseinanderhaltende Schicksale präsentiert, und Nechljudow will ihnen allen helfen, denn natürlich sind sie alle unschuldig. Der zweite Teil des Buches besteht aus sich sehr ähnlichen Beschreibungen von Nechljudow, der einflußreiche Menschen aufsucht und sie um Intervention zugunsten von Strafgefangenen ersucht. Das ist für den Leser, der mit Namen, äußerlichen Beschreibungen und Fallgeschichten geradezu überschwemmt wird, viel zu viel.

Hinzu kommt, daß Tolstoi, eigentlich ein begnadeter Erzähler, sich hier in plumper schwarz-weiß-Malerei ergeht und dies auch noch mit ungeschickten Erzählmitteln. Das vermittelte Weltbild ist von schmerzhafter Schlichtheit: alle Reichen sind böse, hartherzig, unehrlich und etwas beschränkt. Alle Inhaftierten sind unschuldig. Die Armen sind ehrlich, gutherzig und edel. Etwas Differenzierung hätte Tolstois Botschaft, die im Grunde ja gut und sinnvoll ist, stärker gemacht. So tut er das, was er den Reichen im Buch vorwirft: er ergeht sich in Pauschalurteilen. Das ist anstrengend, verkauft den Leser für dumm und schwächt die Botschaft.

Im dritten Teil widmet sich das Buch wieder etwas mehr der Kerngeschichte zwischen Nechljudow und Katjuscha, wird auch an vereinzelten Stellen ein (klein) wenig differenzierter. Das Ende dieser Geschichte ist gut konzipiert. Das Ende des Buches ist leider zum politisch-religiösen Flugblatt (inklusiver extensiver Bibelzitierung) geworden.

Hätte Tolstoi sich auf seine Kerngeschichte konzentriert, eventuell noch ein oder zwei weitere Nebenschicksale eingebaut, hätte er seine Aussage differenzierter und weniger platt vorgebracht, wäre dies ein bemerkenswertes Buch mit wichtigen Überlegungen zu Justiz, Menschlichkeit, Macht und Gerechtigkeit geworden. So ging es einem leider zum Großteil auf die Nerven.