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Veröffentlicht am 02.02.2020

Zu depressiv, zu einseitig, zu distanzlos und unnötig explizit

Three Women – Drei Frauen
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Bestsellerlisten, breite Rezeption von fulminanter Begeisterung bis zum totalen Verriss, Preise, Diskussionen und zahlreiche Übersetzungen - Lisa Taddeo hat mit ihrem Debüt "Three Women" in den USA für ...

Bestsellerlisten, breite Rezeption von fulminanter Begeisterung bis zum totalen Verriss, Preise, Diskussionen und zahlreiche Übersetzungen - Lisa Taddeo hat mit ihrem Debüt "Three Women" in den USA für Aufsehen gesorgt. Der Hype hat mich neugierig gemacht genau wie all die wundervollen Blogger-Bilder auf Instagram und als der Piper-Verlag dann damit warb, es sei "das Buch der Stunde über weibliche Sexualität zwischen Lust und Macht", habe ich mit großer Neugier ein Rezensionsexemplar angefragt. Leider muss ich mich jetzt - 416 Seiten später - dreierlei fragen: Geht es hier wirklich vordergründig um die weibliche Sexualität oder nicht eher um Leid in Abhängigkeit und Selbstaufgabe? Ist der Blick wirklich weit genug gewählt um als "Buch der Stunde" betitelt werden zu können? Und vor allem: was will das Buch sein? Sachliche Reportage oder spannender Roman?

Es beginnt schon bei Cover und Genrebezeichnung. Während das Originalcover stilsicher aber zurückhalten Obst zeigt, hat sich der Piper Verlag für ein alternatives Motiv mit einer dunkelhaarigen Frau in Spitzenbustier entschieden, wodurch ich leider in Zusammenhang mit dem schwarzen Hintergrund und dem gelben Titel an einen Unterwäschekatalog erinnert wurde. Während der Originalverlag das Werk als "Sachbuch" verkaufte, ist "Three Women - Drei Frauen" in Deutschland als "Roman" klassifiziert. Genau diese Trennung ist wohl der Hauptgrund, weshalb ich lange nicht wusste, wie ich dieses Buch bewerten soll und eben diese Bewertung nach längerem Nachdenken nicht so positiv ausfällt, wie ich es vielleicht anfangs gehofft hatte. Denn im Endeffekt scheitert das "Three Women - Drei Frauen" an den Ansprüchen beider Genres: für einen Roman sind Schreibstil, Aufbau und Erzählweise sind nicht trickreich genug, um als Reportage oder Sachbuch durchzugehen sind aber hingegen die Grenzen zwischen Autorin und Erzählerinnen viel zu verwischt.


Erster Satz: "Als meine Mutter jung war, folgte ihr jeden Morgen ein Mann zur Arbeit, der nur wenige Meter hinter ihr masturbierte."


Um zu erklären, was ich mit "nicht trickreich genug" meine, schauen wir uns doch zuerst einmal an, wie sich das Buch als Roman schlägt. Lisa Taddeo erzählt episodenartig die Geschichte dreier Frauen jeweils aus deren Perspektive und springt dabei in der Zeit vor und zurück, sodass wir ihre drei Protagonistinnen immer wieder aus einer anderen Perspektive kennenlernen und gegen Ende einen umfassenden Eindruck ihres Lebens, ihrer Persönlichkeit und ihrer aktuellen Erlebnisse erhalten haben. Dabei ist es wichtig klarzustellen, dass wir hier keine rasante, stringent erzählte Liebes-/ oder Erotikgeschichte lesen. Stattdessen versucht sich Lisa Taddeo an einer Psychografie und gewährt dem Leser einen tiefen Einblick in die Gedanken- und Gefühlswelt der Protagonistinnen. Positiv daran ist, dass wir so Mitgefühl, Verständnis und Wut über die Nöte und die Bedürfnisse der Frauen entwickeln können und die eindrücklichen Geschehnisse mit dem Wissen, dass es sich hier um echte Geschichten handelt, noch mehr unter die Haut gehen. Die negative Kehrseite an der Intensität und Authentizität ist, dass die Autorin uns so schonungslos tief in die Köpfe von Sloane, Maggie und Lina blicken lässt, dass die düsteren, negativen Gefühle, die wir dort vorfinden, kaum zu ertragen sind. Es gab mehrere Stellen, an denen ich das Buch zur Seite legen und etwas anderes tun musste, weil mich das Geschilderte so mitgenommen und deprimiert hat. Dazu beigetragen hat auch die oft explizite, teilweise fast schon ekelhafte Darstellung von Sex-Szenen, in denen die Autorin oft abstoßende, tierische Vergleiche benutzt.


"Solange ihr nicht dieselben Schmerzen habt wie ich, solltet ihr mich nicht verurteilen. Frauen sollten sich nicht gegenseitig verurteilen, solange sie nicht durch das Feuer der anderen gegangen sind."


Ich empfand es von Beginn an als sehr schwierig, das Buch zu lesen, da es im Großen und Ganzen weder amüsant, noch schön, noch spannend ist, sondern einfach nur... intensiv. Die Autorin schreibt im Nachwort, die seit acht Jahre lang den Geschichten der drei Frauen gefolgt, habe Gespräche mit ihnen geführt, war teilweise selbst bei Geschehnissen anwesend und ist in die Städte gezogen, in denen die Frauen lebten, weil nur so Intensität möglich sei. Ich für meinen Teil hätte mir aber stattdessen eher ein wenig mehr Distanz zu den Dreien gewünscht und die Intensität liebend gerne gegen ein wenig Struktur und Spannung eingetauscht. Denn mich stieß die Geschichte an manchen Stellen nicht nur ab, triggerte oder überforderte mich - sie langweilte mich leider auch an einigen Stellen da viele ähnliche Szenen, Wiederholungen, Vorgriffe und Spoiler die Spannung zerstören. Ein weiteres Problem mit dem Selbstverständnis als Roman ist, dass die Geschichte nicht konsequent zu Ende erzählt ist. Das ist in Anbetracht der Tatsache, dass die Geschichten der drei echten Frauen ja auch nach der erzählten Zeit noch weitergingen, selbstverständlich. Aber dennoch frustriert es als Leser sehr und wirklich herunterziehen wenn wir keine wirkliche Entwicklung beobachten, keinen Ausweg entdecken können und die Frauen am Ende einfach mit ihren Problemen alleine lassen müssen.


"Wir geben vor, Dinge zu wollen, die wir nicht wollen, damit niemand sieht, dass wir nicht bekommen, was wir brauchen.“


Auch wenn man einräumt, die Geschichte eher als Reportage verstehen zu wollen, wodurch die stilistischen Mängel weniger ins Gewicht fallen würden, ergeben sich einige Probleme. Mir persönlich war die Geschichte in Zeiten, in denen die weibliche Sexualität hitzig und kontrovers diskutiert wird, zu einseitig, zu deprimierend und zu unsachlich. Zuerst stellt sich natürlich die Frage, ob die drei Frauen und ihre Geschichten als wirklich repräsentativ für das Frausein im 21. Jahrhundert betrachtet werden können, wo doch zwei von ihnen katholisch, alle weiß und mittelständische Amerikanerinnen sind. An zweiter Stelle gibt es häufiger Stellen, an denen ich mich fragte, wer da gerade spricht: ist es die Autorin oder ist es ihre Protagonistin? Ist es die Erzählende oder das erzählte Medium? Durch die auktoriale Erzählperspektive und den häufigen plötzlichen Wechsel ins innere "Du" verschwimmen die Grenzen zwischen der Autorin und ihren Protagonistinnen ständig. Das ist insofern verständlich dass sie über acht Jahre hinweg mit vielen persönlichen Begegnungen für diesen Roman recherchiert hat und deshalb eine gewisse Distanz schwierig zu halten ist. Ich habe großen Respekt vor der Leistung, dem Einfühlungsvermögen und der umfangreichen Recherchearbeit der Autorin, doch wenn sie aber wie beispielsweise im Prolog und im Epilog eigene Erfahrungen in der Ich-Perspektive mit einfließen lässt, bleibt offen, als wie sachlich und reliabel die nacherzählten Perspektiven der Frauen nun wirklich betrachtet werden können.


"Selbst wenn Frauen Gehör finden, müssen es die richtigen Frauen sein, damit man ihnen zuhört. Weiße Frauen. Reiche Frauen. Schöne Frauen. Junge Frauen. Am besten all das in einem."


Etwas verwirrt war ich auch, dass es gar nicht wirklich in erster Linie um die weibliche Sexualität geht, sondern die gesellschaftliche Unterdrückung von Frauen im Vordergrund steht. Die Autorin setzt sich hier mit den immer noch existierenden Rollenbildern der Frau, mit sexueller Gewalt, weiblicher Solidarität, toxischer Männlichkeit, Machtmissbrauch, Depression und Abhängigkeitsverhältnissen kritisch auseinander. Statt wie erhofft ermutigend feministisch über Selbstbestimmung und Selbstbefreiung zu schreiben, zeichnet sie hier drei tragische Geschichten, in denen Frauen aus Liebe, Begehren oder dem Bedürfnis gewollt zu werden, sich selbst aufgeben und unter ihrer Unterwerfung leiden. Ob diese pessimistische Sicht der reinen Objektivierung von Frauen wirklich gerechtfertigt ist, sei man offen gelassen. Ich hätte mir aber auf jeden Fall gewünscht, hier eine starke, weibliche Perspektive erkennen zu können und nicht nur durch Leiden und den Druck der Gesellschaft wieder nur einen männlichen Blick. Wir wissen nun relativ genau, was Frauen nicht wollen, was immer noch falsch läuft und was gesellschaftlich noch geändert werden muss. Aber was weibliches Begehren nun wirklich ausmacht... Keine Ahnung.


"Männer haben die Frauen schon immer auf eine ganz bestimmte Art und Weise gebrochen. Sie lieben sie oder lieben sie so halb und fühlen sich irgendwann ausgelaugt und ziehen sich innerlich über Wochen und Monate zurück, verschanzen sich in ihrer Höhle, verdrücken eine letzte Träne und rufen dann nie wieder an. Die Frauen aber warten."


Und genau dieses "keine Ahnung" bringt meine Erfahrung mit dem Buch ziemlich genau auf den Punkt. Hat es mir gefallen? Nein, um Gottes willen. Fand ich es spannend? Naja. Fand ich es aufschlussreich? Hm, geht so. Fand ich es wichtig? Ja, schon. War es tiefgründig und gut recherchiert. Oh ja, keine Frage. Wie also bewerte ich es?
Keine Ahnung


Fazit:


"Three Women - Drei Frauen" weiß nicht so genau, ob es Roman oder Reportage sein will und scheitert schlussendlich an den Ansprüchen beider Genres. Auch wenn die Intensität und Einfühlungsvermögen wirklich beeindrucken, kann ich mich dem Hype nicht anschließen - zu depressiv, zu einseitig, zu distanzlos und unnötig explizit empfand ich den Umgang mit der Thematik.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 26.01.2020

Charmant, humorvoll, besonders!

Love Challenge
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Der erste Teil der Reihe - Kissing Lessons - stürzte mich in einen typischen Herz-Kopf Widerspruch. Mein Leseherz war verliebt und wollte eindeutig mehr, während mein kritischer Verstand nicht über einige ...

Der erste Teil der Reihe - Kissing Lessons - stürzte mich in einen typischen Herz-Kopf Widerspruch. Mein Leseherz war verliebt und wollte eindeutig mehr, während mein kritischer Verstand nicht über einige Mängel hinwegsehen wollte. Dieser zweite Teil, auf den ich mich jetzt schon seit Wochen gefreut habe, nimmt dieselben Zutaten wie Band 1 - zwei liebenswerte Protagonisten, ein kulturelles Durcheinander, Anziehungskraft und Autismus und ein gesellschaftliches Gefälle als Hindernis - macht aber definitiv mehr daraus als eine amüsante, unterhaltsame Liebesgeschichte. Die Autorin schreibt in ihrem Nachwort, dass die Protagonistin Esme an ihre eigene Mutter angelehnt ist, die sich aus dem Nichts nach der Einwanderung von Vietnam in die USA mit mehreren Kindern vier erfolgreiche Restaurants aufgebaut hat und es nur durch Arbeit und ihre eigene Willenskraft zu etwas gebracht hat. Und in jeder Seite der Geschichte spürt man den Respekt der Autorin für diese unglaubliche Leistung und so scheinen beide Komponenten der Geschichte direkt aus dem Herzen der Autorin zu kommen: sie erzählt zum einen von den Irrungen und Wirrungen der Liebe wenn man (wie sie selbst) Autist ist, ist aber gleichzeitig auf einer tieferen Ebene eine Liebeserklärung an ihre Mutter, an die Stärke und den Mut von Immigranten, die in einem fremden Land ihren eigenen Amerikanischen Traum schaffen.


"Sie war auf keine Weise beeindruckend, die man sehen oder messen konnte, aber sie hatte dieses Feuer. Sie spürte es. Das war ihr Wert. Sie würde für ihre Familie kämpfen. Und sie würde für sich selbst kämpfen. Weil sie zählte."


Das Cover ist wie Band 1 ein wirklicher Hingucker! Diesmal ist der Hintergrund nicht grau sondern apricot und die kunstvollen Blumen und Ranken heben sich in Weiß-, Orange-, Grün- und warmen Gelbtönen ab. Der Titel glänzt in Türkis und der Autorentitel ist verschnörkelt. Besonders nett ist auch, dass in den Leselaschen der Broschierten Ausgabe wieder ein Interview mit der Autorin abgedruckt ist und die Blüten der Gestaltung auch innerhalb des Buches die Kapitelanfänge zieren. Mit der Gestaltung passt der zweite Teil der "Kiss, Love & Heart"-Reihe wunderbar zu seinem Vorgänger, hat aber durch die andere Farbgebung eine eigene, tropischere, fruchtigere Note, die gut zu Esme und Khai passt.

Wieder ist die Geschichte abwechselnd aus der personalen Er-Perspektive der beiden Protagonisten erzählt, wodurch der Leser wieder von Beginn an in alle Geheimnisse und verborgenen Gefühle der beiden eingeweiht ist. Man weiß also genau, was man zu erwarten hat, sobald man die ersten Seiten umblättert. Man weiß, worauf die Geschichte hinauslaufen wird, man kennt das altbekannte Schema und durchschaut die Protagonisten schnell. Aber das ist vollkommen in Ordnung, denn nichtsdestotrotz eroberte die Geschichte mein Herz. Es gibt hier kein Rätselraten, keine unvorhergesehenen Wendungen, keine großen Überraschungen sondern einfach nur eine prickelnde, unterhaltsame, etwas andere Liebesgeschichte, die mich von der ersten Seite an gefesselt hat.


Erster Satz: "Khai sollte eigentlich weinen."


Als erstes lernen wir im kurzen Prolog Khai kennen, den wir ja im ersten Teil schon flüchtig getroffen haben, da er mit Michael befreundet ist. Er befindet sich gerade auf einer Beerdigung, der Beerdigung seines besten Freundes um genau zu sein, und findet heraus, dass er nicht lieben kann. Denn wenn er nicht so trauert wie die anderen Gäste, muss doch sein Herz aus Stein sein, oder nicht? Um diese Meinung zu ändern und ihren Jungen endlich zu verheiraten hat sich seine Mutter auf den Weg gemacht um in Vietnam eine geeignete Braut für ihn zu suchen. Fündig wird sie ausgerechnet auf einer Toilette eines Hotels in Ho-Chi-Minh und wir lernen unsere Protagonistin Esme kennen. Als mittellose Putzkraft, die zusammen mit ihrer kleinen Tochter, ihrer Mutter und ihrer Großmutter in einem Ein-Zimmer-Apartment wohnt und auf dem Boden schläft erscheint sie auf den ersten Blick sehr anders und rief in mir eine Art kleinen Kulturschock hervor. Ihren Wunsch, nach einer Chance, einer Perspektive, etwas auf ihrem Leben zu machen, der sie antreibt dem Deal, den Khais Großmutter ihr vorschlägt, zuzustimmen, erscheint hingegen sehr nachvollziehbar und so begleiten wir unsere Protagonistin auf dem Weg in ein neues Land, ein neues Leben, eine neue Liebe...


"Sein Name, Khải, bedeutete Sieg, aber so wie er es sagte, flach, ohne Betonung, bedeutete es öffnen. Das war genau das, was sie tun musste. Er war verschlossen, und sie musste ihn öffnen. Ihrer Erfahrung nach machte man das, was man öffnen wollte, erst sauber, damit man sehen konnte, womit man es zu tun hatte, und danach bearbeitete man es wirklich hart. Esme war nicht in vielen Dingen gut, aber sie war gut im Saubemachen und Hartarbeiten. Sie konnte es schaffen. Vielleicht war sie dafür gemacht."


Auch wenn auf der reinen Handlungsebene häufig nicht besonders viel passiert - die beiden leben zusammen, arbeiten und gehen ab und zu auf eine Hochzeit - sorgt Helen Hoangs lockerer, packender Schreibstil dafür, dass es keine Sekunde langweilig wird und man es kaum schafft, sich loszureißen. So habe ich die Geschichte an einem einzigen Nachmittag gelesen und mich komplett in der Handlung und den Gefühlen der Protagonisten verloren. Dabei schafft die Autorin immer eine angenehme Balance zwischen düsteren Gedanken und lustigen, sarkastischen Dialogen, sodass ich - ständig schniefend, schmachtend oder grinsend - von meinem Umfeld etwas schräg angesehen wurde (vielen Dank dafür, Helen). Ebenfalls litt ich durch das Suchtpotential der Geschichte leider an einem typischem In-einem-Rutsch-durchlesen-und-danach-ärgern-dass-man-es-so-schnell-gelesen-hat-Dilemma (ebenfalls vielen Dank dafür, Helen ^^). Die Sensibilität, mit der sie dem Leser einen Blick ins Innere ihrer Protagonisten gewährt, die Grausamkeit, mit der sie uns und ihre Geschöpfe konfrontiert und die viele Liebe, mit der sie ihre und unsere Herzen heilt, sind wirklich erstaunlich. So schafft sie den Spagat zwischen zuckersüßem Märchen-Flair und Bitterkeit der Realität, sodass die Geschichte locker und leicht daherkommt.


"Sie war erneut gekommen, um ihn zu suchen. Niemand suchte nach ihm. Alle wussten, dass er allein sein wollte. Nur dass es nicht immer so war. Manchmal war er aus Gewohnheit alleine. Manchmal kostete es Mühe, sich von der wachsenden Leere in seinem Inneren abzulenken."


Besonders toll ist die Dynamik zwischen den beiden Protagonistin dargestellt, die beide auf ihre Art im Umgang mit dem anderen gehandicapt sind. Während Khai durch seinen Autismus eine andere Sicht auf die Welt und Menschen hat und ihm deshalb viele Dinge entgehen und er andere ohne Absicht verletzt, ist Esme in einer ganz anderen Kultur aufgewachsen und muss sich deshalb an eine neue Sprache, eine andere Art zu Leben und Khais besondere Eigenarten gewöhnen. Wie die Beiden immer wieder aneinander vorbeireden und sich in seltsame Situationen und Missverständnisse manövrieren ist zugleich witzig und liebenswert. Auch wenn von Anfang an klar ist, dass die beiden wunderbar zusammenpassen und sich am Ende auch finden werden, ist es sehr spannend zu verfolgen, wie Khai seine Befürchtung, er könne niemanden lieben und Esme ihre Komplexe, nicht schlau, gebildet, reich oder schön genug für ihn zu sein, überwindet. Etwas gestört hat mich, dass Khai von Anfang an einen total sexualisierten Blick auf Esme hat und sie das gar nicht zu kümmern scheint (ja gut, es ist vielleicht scheinheilig das zu sagen weil es bei dieser Art von Büchern normalerweise immer andersrum ist und der männliche Love-Interest nur als Objekt der Begierde dargestellt ist) aber das hat für mich nicht wirklich gepasst, vor allem weil sich Esme als unabhängige Frau versteht und Khai eigentlich nicht oberflächlich angelegt ist.


"Sie lag in seinen Armen, wandte sich an ihn, vertraute ihm, genau wie damals, als sie den Albtraum gehabt hatte. Es war furchteinflößend. Es war wundervoll. (…) Innerhalb eines Augenblicks veränderte sich alles. Der Wind wurde zu Samt, und die einzigen Geräusche waren das Pochen seines Herzens und das Rauschen seines Bluts. Die Farben wurden strahlender und tanzten. Das Grün ihrer Augen, das Gelb ihres Shirts, das Blau des Sommerhimmels, all das ließ das Rosa ihres Mundes aufleuchten."


Davon abgesehen hatte ich das Gefühl, zwei sehr runde Charaktere kennengelernt zu haben. Besonders genial ist, dass die Protagonistin hier nicht "verwestlicht" angelegt ist, wie die meisten anderen Protagonistinnen des Genres. Stattdessen ist sie jemand, auf den ich (und das ist wirklich traurig, falsch und ich schäme mich, dass erkennen zu müssen) wahrscheinlich im echten Leben herabgeschaut hätte: schlechte Schulbildung, alleinerziehende Mutter und keinerlei Selbstachtung. Dennoch schleicht sie sich mit ihrer strahlenden, direkten Art sofort ins Herz des Lesers und zwingt einen dazu, die Vorbehalte gegenüber ihr fallen zu lassen. Denn wie sie trotz ihrer fehlenden Bildung, der Sprachbarriere, der kulturellen Hürden und der Verantwortung für ihre Familie ein eigenes Ziel, Träume, den Wunsch nach Unabhängigkeit und eine tiefe Stärke in sich selbst entdeckt, ist wirklich beeindruckend. Sie arbeitet hart und kämpft zielstrebig für ihre Zukunft, hat aber gleichzeitig Prinzipien und geht unglaublich liebevoll mit den Menschen um, die ihr am Herzen liegen. Dabei ist sie erstaunlich modern und auf eine unaufdringliche Art und Weise clever, sodass sie bald zu einer der natürlichsten Power-Frauen wird, von der ich jemals gelesen habe.

Und Khai… Khai ist toll, auch wenn man ihm wegen seiner Unwissenheit, seiner Tollpatschigkeit und seiner Unbeholfenheit im Umgang mit anderen oftmals gerne etwas an den Kopf geworfen hätte. Er ist nicht so perfekt wie sein Romanvorgänger Michael, glaubt selbst ein Herz aus Stein zu haben, ist manchmal sehr unsensibel, verletzt Esme alle Nase lang und hält seine Gefühle für sie für eine "Sucht" aber genau das macht ihn so natürlich. Er ist nicht der strahlende Held der Geschichte (diesen Part übernimmt Esme für ihn) sondern die unsichere, süße Identifikationsfigur, die sich an jedem Klischee vorbei in unser Herz schleicht. Apropos Michael: als kleiner schöner Bonus dürfen wir hier seine und Stellas Hochzeit miterleben


"Liebst du mich auch? Vielleicht nur ein bisschen." Ihm wurde kalt. Nicht diese Frage. Warum hatte sie diese Frage gestellt? Er konnte ihr alle Dinge geben, die sie wollte, eine Green Card, echte Diamanten, seinen Körper, aber Liebe? Herzen aus Stein liebten nicht."


Das Ende hat dann leider ein bisschen etwas von einer romantischen Komödie (ihr wisst schon, die üblichen "Flughafen-Renn"- und "Hochzeit-auf-den-letzten-Drücker-Verhinderungs"-Szenen...) und war mir definitiv zu überstürzt. Dennoch will ich noch ein kurzes Hoch auf die Autorin aussprechen, dass sie von einem typischen Prä-Happy-End-Breakdown abgesehen und die Lösung einer durchgängigen Problematik vorgezogen hat. So wird die Geschichte trotz Kitsch am Ende sehr schön abgerundet und ich kann mich auf Band 3 freuen!



Fazit:


Dieser zweite Teil verarbeitet dieselben Zutaten wie "Kissing Lessons" - zwei liebenswerte Protagonisten, ein kulturelles Durcheinander, Anziehungskraft und Autismus und ein gesellschaftliches Gefälle als Hindernis - macht aber definitiv mehr daraus als nur eine amüsante, unterhaltsame Liebesgeschichte. Helen Hoang erzählt hier zum einen von den Irrungen und Wirrungen der Liebe wenn man (wie sie selbst) Autist ist, hat hier aber gleichzeitig auch eine Liebeserklärung an ihre Mutter geschrieben, an die Stärke und den Mut von Immigranten, die in einem fremden Land ihren eigenen Amerikanischen Traum schaffen.

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  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 26.01.2020

Charmant, humorvoll, besonders!

Love Challenge
0

Der erste Teil der Reihe - Kissing Lessons - stürzte mich in einen typischen Herz-Kopf Widerspruch. Mein Leseherz war verliebt und wollte eindeutig mehr, während mein kritischer Verstand nicht über einige ...

Der erste Teil der Reihe - Kissing Lessons - stürzte mich in einen typischen Herz-Kopf Widerspruch. Mein Leseherz war verliebt und wollte eindeutig mehr, während mein kritischer Verstand nicht über einige Mängel hinwegsehen wollte. Dieser zweite Teil, auf den ich mich jetzt schon seit Wochen gefreut habe, nimmt dieselben Zutaten wie Band 1 - zwei liebenswerte Protagonisten, ein kulturelles Durcheinander, Anziehungskraft und Autismus und ein gesellschaftliches Gefälle als Hindernis - macht aber definitiv mehr daraus als eine amüsante, unterhaltsame Liebesgeschichte. Die Autorin schreibt in ihrem Nachwort, dass die Protagonistin Esme an ihre eigene Mutter angelehnt ist, die sich aus dem Nichts nach der Einwanderung von Vietnam in die USA mit mehreren Kindern vier erfolgreiche Restaurants aufgebaut hat und es nur durch Arbeit und ihre eigene Willenskraft zu etwas gebracht hat. Und in jeder Seite der Geschichte spürt man den Respekt der Autorin für diese unglaubliche Leistung und so scheinen beide Komponenten der Geschichte direkt aus dem Herzen der Autorin zu kommen: sie erzählt zum einen von den Irrungen und Wirrungen der Liebe wenn man (wie sie selbst) Autist ist, ist aber gleichzeitig auf einer tieferen Ebene eine Liebeserklärung an ihre Mutter, an die Stärke und den Mut von Immigranten, die in einem fremden Land ihren eigenen Amerikanischen Traum schaffen.


"Sie war auf keine Weise beeindruckend, die man sehen oder messen konnte, aber sie hatte dieses Feuer. Sie spürte es. Das war ihr Wert. Sie würde für ihre Familie kämpfen. Und sie würde für sich selbst kämpfen. Weil sie zählte."


Das Cover ist wie Band 1 ein wirklicher Hingucker! Diesmal ist der Hintergrund nicht grau sondern apricot und die kunstvollen Blumen und Ranken heben sich in Weiß-, Orange-, Grün- und warmen Gelbtönen ab. Der Titel glänzt in Türkis und der Autorentitel ist verschnörkelt. Besonders nett ist auch, dass in den Leselaschen der Broschierten Ausgabe wieder ein Interview mit der Autorin abgedruckt ist und die Blüten der Gestaltung auch innerhalb des Buches die Kapitelanfänge zieren. Mit der Gestaltung passt der zweite Teil der "Kiss, Love & Heart"-Reihe wunderbar zu seinem Vorgänger, hat aber durch die andere Farbgebung eine eigene, tropischere, fruchtigere Note, die gut zu Esme und Khai passt.

Wieder ist die Geschichte abwechselnd aus der personalen Er-Perspektive der beiden Protagonisten erzählt, wodurch der Leser wieder von Beginn an in alle Geheimnisse und verborgenen Gefühle der beiden eingeweiht ist. Man weiß also genau, was man zu erwarten hat, sobald man die ersten Seiten umblättert. Man weiß, worauf die Geschichte hinauslaufen wird, man kennt das altbekannte Schema und durchschaut die Protagonisten schnell. Aber das ist vollkommen in Ordnung, denn nichtsdestotrotz eroberte die Geschichte mein Herz. Es gibt hier kein Rätselraten, keine unvorhergesehenen Wendungen, keine großen Überraschungen sondern einfach nur eine prickelnde, unterhaltsame, etwas andere Liebesgeschichte, die mich von der ersten Seite an gefesselt hat.


Erster Satz: "Khai sollte eigentlich weinen."


Als erstes lernen wir im kurzen Prolog Khai kennen, den wir ja im ersten Teil schon flüchtig getroffen haben, da er mit Michael befreundet ist. Er befindet sich gerade auf einer Beerdigung, der Beerdigung seines besten Freundes um genau zu sein, und findet heraus, dass er nicht lieben kann. Denn wenn er nicht so trauert wie die anderen Gäste, muss doch sein Herz aus Stein sein, oder nicht? Um diese Meinung zu ändern und ihren Jungen endlich zu verheiraten hat sich seine Mutter auf den Weg gemacht um in Vietnam eine geeignete Braut für ihn zu suchen. Fündig wird sie ausgerechnet auf einer Toilette eines Hotels in Ho-Chi-Minh und wir lernen unsere Protagonistin Esme kennen. Als mittellose Putzkraft, die zusammen mit ihrer kleinen Tochter, ihrer Mutter und ihrer Großmutter in einem Ein-Zimmer-Apartment wohnt und auf dem Boden schläft erscheint sie auf den ersten Blick sehr anders und rief in mir eine Art kleinen Kulturschock hervor. Ihren Wunsch, nach einer Chance, einer Perspektive, etwas auf ihrem Leben zu machen, der sie antreibt dem Deal, den Khais Großmutter ihr vorschlägt, zuzustimmen, erscheint hingegen sehr nachvollziehbar und so begleiten wir unsere Protagonistin auf dem Weg in ein neues Land, ein neues Leben, eine neue Liebe...


"Sein Name, Khải, bedeutete Sieg, aber so wie er es sagte, flach, ohne Betonung, bedeutete es öffnen. Das war genau das, was sie tun musste. Er war verschlossen, und sie musste ihn öffnen. Ihrer Erfahrung nach machte man das, was man öffnen wollte, erst sauber, damit man sehen konnte, womit man es zu tun hatte, und danach bearbeitete man es wirklich hart. Esme war nicht in vielen Dingen gut, aber sie war gut im Saubemachen und Hartarbeiten. Sie konnte es schaffen. Vielleicht war sie dafür gemacht."


Auch wenn auf der reinen Handlungsebene häufig nicht besonders viel passiert - die beiden leben zusammen, arbeiten und gehen ab und zu auf eine Hochzeit - sorgt Helen Hoangs lockerer, packender Schreibstil dafür, dass es keine Sekunde langweilig wird und man es kaum schafft, sich loszureißen. So habe ich die Geschichte an einem einzigen Nachmittag gelesen und mich komplett in der Handlung und den Gefühlen der Protagonisten verloren. Dabei schafft die Autorin immer eine angenehme Balance zwischen düsteren Gedanken und lustigen, sarkastischen Dialogen, sodass ich - ständig schniefend, schmachtend oder grinsend - von meinem Umfeld etwas schräg angesehen wurde (vielen Dank dafür, Helen). Ebenfalls litt ich durch das Suchtpotential der Geschichte leider an einem typischem In-einem-Rutsch-durchlesen-und-danach-ärgern-dass-man-es-so-schnell-gelesen-hat-Dilemma (ebenfalls vielen Dank dafür, Helen ^^). Die Sensibilität, mit der sie dem Leser einen Blick ins Innere ihrer Protagonisten gewährt, die Grausamkeit, mit der sie uns und ihre Geschöpfe konfrontiert und die viele Liebe, mit der sie ihre und unsere Herzen heilt, sind wirklich erstaunlich. So schafft sie den Spagat zwischen zuckersüßem Märchen-Flair und Bitterkeit der Realität, sodass die Geschichte locker und leicht daherkommt.


"Sie war erneut gekommen, um ihn zu suchen. Niemand suchte nach ihm. Alle wussten, dass er allein sein wollte. Nur dass es nicht immer so war. Manchmal war er aus Gewohnheit alleine. Manchmal kostete es Mühe, sich von der wachsenden Leere in seinem Inneren abzulenken."


Besonders toll ist die Dynamik zwischen den beiden Protagonistin dargestellt, die beide auf ihre Art im Umgang mit dem anderen gehandicapt sind. Während Khai durch seinen Autismus eine andere Sicht auf die Welt und Menschen hat und ihm deshalb viele Dinge entgehen und er andere ohne Absicht verletzt, ist Esme in einer ganz anderen Kultur aufgewachsen und muss sich deshalb an eine neue Sprache, eine andere Art zu Leben und Khais besondere Eigenarten gewöhnen. Wie die Beiden immer wieder aneinander vorbeireden und sich in seltsame Situationen und Missverständnisse manövrieren ist zugleich witzig und liebenswert. Auch wenn von Anfang an klar ist, dass die beiden wunderbar zusammenpassen und sich am Ende auch finden werden, ist es sehr spannend zu verfolgen, wie Khai seine Befürchtung, er könne niemanden lieben und Esme ihre Komplexe, nicht schlau, gebildet, reich oder schön genug für ihn zu sein, überwindet. Etwas gestört hat mich, dass Khai von Anfang an einen total sexualisierten Blick auf Esme hat und sie das gar nicht zu kümmern scheint (ja gut, es ist vielleicht scheinheilig das zu sagen weil es bei dieser Art von Büchern normalerweise immer andersrum ist und der männliche Love-Interest nur als Objekt der Begierde dargestellt ist) aber das hat für mich nicht wirklich gepasst, vor allem weil sich Esme als unabhängige Frau versteht und Khai eigentlich nicht oberflächlich angelegt ist.


"Sie lag in seinen Armen, wandte sich an ihn, vertraute ihm, genau wie damals, als sie den Albtraum gehabt hatte. Es war furchteinflößend. Es war wundervoll. (…) Innerhalb eines Augenblicks veränderte sich alles. Der Wind wurde zu Samt, und die einzigen Geräusche waren das Pochen seines Herzens und das Rauschen seines Bluts. Die Farben wurden strahlender und tanzten. Das Grün ihrer Augen, das Gelb ihres Shirts, das Blau des Sommerhimmels, all das ließ das Rosa ihres Mundes aufleuchten."


Davon abgesehen hatte ich das Gefühl, zwei sehr runde Charaktere kennengelernt zu haben. Besonders genial ist, dass die Protagonistin hier nicht "verwestlicht" angelegt ist, wie die meisten anderen Protagonistinnen des Genres. Stattdessen ist sie jemand, auf den ich (und das ist wirklich traurig, falsch und ich schäme mich, dass erkennen zu müssen) wahrscheinlich im echten Leben herabgeschaut hätte: schlechte Schulbildung, alleinerziehende Mutter und keinerlei Selbstachtung. Dennoch schleicht sie sich mit ihrer strahlenden, direkten Art sofort ins Herz des Lesers und zwingt einen dazu, die Vorbehalte gegenüber ihr fallen zu lassen. Denn wie sie trotz ihrer fehlenden Bildung, der Sprachbarriere, der kulturellen Hürden und der Verantwortung für ihre Familie ein eigenes Ziel, Träume, den Wunsch nach Unabhängigkeit und eine tiefe Stärke in sich selbst entdeckt, ist wirklich beeindruckend. Sie arbeitet hart und kämpft zielstrebig für ihre Zukunft, hat aber gleichzeitig Prinzipien und geht unglaublich liebevoll mit den Menschen um, die ihr am Herzen liegen. Dabei ist sie erstaunlich modern und auf eine unaufdringliche Art und Weise clever, sodass sie bald zu einer der natürlichsten Power-Frauen wird, von der ich jemals gelesen habe.

Und Khai… Khai ist toll, auch wenn man ihm wegen seiner Unwissenheit, seiner Tollpatschigkeit und seiner Unbeholfenheit im Umgang mit anderen oftmals gerne etwas an den Kopf geworfen hätte. Er ist nicht so perfekt wie sein Romanvorgänger Michael, glaubt selbst ein Herz aus Stein zu haben, ist manchmal sehr unsensibel, verletzt Esme alle Nase lang und hält seine Gefühle für sie für eine "Sucht" aber genau das macht ihn so natürlich. Er ist nicht der strahlende Held der Geschichte (diesen Part übernimmt Esme für ihn) sondern die unsichere, süße Identifikationsfigur, die sich an jedem Klischee vorbei in unser Herz schleicht. Apropos Michael: als kleiner schöner Bonus dürfen wir hier seine und Stellas Hochzeit miterleben


"Liebst du mich auch? Vielleicht nur ein bisschen." Ihm wurde kalt. Nicht diese Frage. Warum hatte sie diese Frage gestellt? Er konnte ihr alle Dinge geben, die sie wollte, eine Green Card, echte Diamanten, seinen Körper, aber Liebe? Herzen aus Stein liebten nicht."


Das Ende hat dann leider ein bisschen etwas von einer romantischen Komödie (ihr wisst schon, die üblichen "Flughafen-Renn"- und "Hochzeit-auf-den-letzten-Drücker-Verhinderungs"-Szenen...) und war mir definitiv zu überstürzt. Dennoch will ich noch ein kurzes Hoch auf die Autorin aussprechen, dass sie von einem typischen Prä-Happy-End-Breakdown abgesehen und die Lösung einer durchgängigen Problematik vorgezogen hat. So wird die Geschichte trotz Kitsch am Ende sehr schön abgerundet und ich kann mich auf Band 3 freuen!



Fazit:


Dieser zweite Teil verarbeitet dieselben Zutaten wie "Kissing Lessons" - zwei liebenswerte Protagonisten, ein kulturelles Durcheinander, Anziehungskraft und Autismus und ein gesellschaftliches Gefälle als Hindernis - macht aber definitiv mehr daraus als nur eine amüsante, unterhaltsame Liebesgeschichte. Helen Hoang erzählt hier zum einen von den Irrungen und Wirrungen der Liebe wenn man (wie sie selbst) Autist ist, hat hier aber gleichzeitig auch eine Liebeserklärung an ihre Mutter geschrieben, an die Stärke und den Mut von Immigranten, die in einem fremden Land ihren eigenen Amerikanischen Traum schaffen.

Charmant, humorvoll, besonders!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 26.01.2020

Charmant, humorvoll, besonders!

Love Challenge
0

Der erste Teil der Reihe - Kissing Lessons - stürzte mich in einen typischen Herz-Kopf Widerspruch. Mein Leseherz war verliebt und wollte eindeutig mehr, während mein kritischer Verstand nicht über einige ...

Der erste Teil der Reihe - Kissing Lessons - stürzte mich in einen typischen Herz-Kopf Widerspruch. Mein Leseherz war verliebt und wollte eindeutig mehr, während mein kritischer Verstand nicht über einige Mängel hinwegsehen wollte. Dieser zweite Teil, auf den ich mich jetzt schon seit Wochen gefreut habe, nimmt dieselben Zutaten wie Band 1 - zwei liebenswerte Protagonisten, ein kulturelles Durcheinander, Anziehungskraft und Autismus und ein gesellschaftliches Gefälle als Hindernis - macht aber definitiv mehr daraus als eine amüsante, unterhaltsame Liebesgeschichte. Die Autorin schreibt in ihrem Nachwort, dass die Protagonistin Esme an ihre eigene Mutter angelehnt ist, die sich aus dem Nichts nach der Einwanderung von Vietnam in die USA mit mehreren Kindern vier erfolgreiche Restaurants aufgebaut hat und es nur durch Arbeit und ihre eigene Willenskraft zu etwas gebracht hat. Und in jeder Seite der Geschichte spürt man den Respekt der Autorin für diese unglaubliche Leistung und so scheinen beide Komponenten der Geschichte direkt aus dem Herzen der Autorin zu kommen: sie erzählt zum einen von den Irrungen und Wirrungen der Liebe wenn man (wie sie selbst) Autist ist, ist aber gleichzeitig auf einer tieferen Ebene eine Liebeserklärung an ihre Mutter, an die Stärke und den Mut von Immigranten, die in einem fremden Land ihren eigenen Amerikanischen Traum schaffen.


"Sie war auf keine Weise beeindruckend, die man sehen oder messen konnte, aber sie hatte dieses Feuer. Sie spürte es. Das war ihr Wert. Sie würde für ihre Familie kämpfen. Und sie würde für sich selbst kämpfen. Weil sie zählte."


Das Cover ist wie Band 1 ein wirklicher Hingucker! Diesmal ist der Hintergrund nicht grau sondern apricot und die kunstvollen Blumen und Ranken heben sich in Weiß-, Orange-, Grün- und warmen Gelbtönen ab. Der Titel glänzt in Türkis und der Autorentitel ist verschnörkelt. Besonders nett ist auch, dass in den Leselaschen der Broschierten Ausgabe wieder ein Interview mit der Autorin abgedruckt ist und die Blüten der Gestaltung auch innerhalb des Buches die Kapitelanfänge zieren. Mit der Gestaltung passt der zweite Teil der "Kiss, Love & Heart"-Reihe wunderbar zu seinem Vorgänger, hat aber durch die andere Farbgebung eine eigene, tropischere, fruchtigere Note, die gut zu Esme und Khai passt.

Wieder ist die Geschichte abwechselnd aus der personalen Er-Perspektive der beiden Protagonisten erzählt, wodurch der Leser wieder von Beginn an in alle Geheimnisse und verborgenen Gefühle der beiden eingeweiht ist. Man weiß also genau, was man zu erwarten hat, sobald man die ersten Seiten umblättert. Man weiß, worauf die Geschichte hinauslaufen wird, man kennt das altbekannte Schema und durchschaut die Protagonisten schnell. Aber das ist vollkommen in Ordnung, denn nichtsdestotrotz eroberte die Geschichte mein Herz. Es gibt hier kein Rätselraten, keine unvorhergesehenen Wendungen, keine großen Überraschungen sondern einfach nur eine prickelnde, unterhaltsame, etwas andere Liebesgeschichte, die mich von der ersten Seite an gefesselt hat.


Erster Satz: "Khai sollte eigentlich weinen."


Als erstes lernen wir im kurzen Prolog Khai kennen, den wir ja im ersten Teil schon flüchtig getroffen haben, da er mit Michael befreundet ist. Er befindet sich gerade auf einer Beerdigung, der Beerdigung seines besten Freundes um genau zu sein, und findet heraus, dass er nicht lieben kann. Denn wenn er nicht so trauert wie die anderen Gäste, muss doch sein Herz aus Stein sein, oder nicht? Um diese Meinung zu ändern und ihren Jungen endlich zu verheiraten hat sich seine Mutter auf den Weg gemacht um in Vietnam eine geeignete Braut für ihn zu suchen. Fündig wird sie ausgerechnet auf einer Toilette eines Hotels in Ho-Chi-Minh und wir lernen unsere Protagonistin Esme kennen. Als mittellose Putzkraft, die zusammen mit ihrer kleinen Tochter, ihrer Mutter und ihrer Großmutter in einem Ein-Zimmer-Apartment wohnt und auf dem Boden schläft erscheint sie auf den ersten Blick sehr anders und rief in mir eine Art kleinen Kulturschock hervor. Ihren Wunsch, nach einer Chance, einer Perspektive, etwas auf ihrem Leben zu machen, der sie antreibt dem Deal, den Khais Großmutter ihr vorschlägt, zuzustimmen, erscheint hingegen sehr nachvollziehbar und so begleiten wir unsere Protagonistin auf dem Weg in ein neues Land, ein neues Leben, eine neue Liebe...


"Sein Name, Khải, bedeutete Sieg, aber so wie er es sagte, flach, ohne Betonung, bedeutete es öffnen. Das war genau das, was sie tun musste. Er war verschlossen, und sie musste ihn öffnen. Ihrer Erfahrung nach machte man das, was man öffnen wollte, erst sauber, damit man sehen konnte, womit man es zu tun hatte, und danach bearbeitete man es wirklich hart. Esme war nicht in vielen Dingen gut, aber sie war gut im Saubemachen und Hartarbeiten. Sie konnte es schaffen. Vielleicht war sie dafür gemacht."


Auch wenn auf der reinen Handlungsebene häufig nicht besonders viel passiert - die beiden leben zusammen, arbeiten und gehen ab und zu auf eine Hochzeit - sorgt Helen Hoangs lockerer, packender Schreibstil dafür, dass es keine Sekunde langweilig wird und man es kaum schafft, sich loszureißen. So habe ich die Geschichte an einem einzigen Nachmittag gelesen und mich komplett in der Handlung und den Gefühlen der Protagonisten verloren. Dabei schafft die Autorin immer eine angenehme Balance zwischen düsteren Gedanken und lustigen, sarkastischen Dialogen, sodass ich - ständig schniefend, schmachtend oder grinsend - von meinem Umfeld etwas schräg angesehen wurde (vielen Dank dafür, Helen). Ebenfalls litt ich durch das Suchtpotential der Geschichte leider an einem typischem In-einem-Rutsch-durchlesen-und-danach-ärgern-dass-man-es-so-schnell-gelesen-hat-Dilemma (ebenfalls vielen Dank dafür, Helen ^^). Die Sensibilität, mit der sie dem Leser einen Blick ins Innere ihrer Protagonisten gewährt, die Grausamkeit, mit der sie uns und ihre Geschöpfe konfrontiert und die viele Liebe, mit der sie ihre und unsere Herzen heilt, sind wirklich erstaunlich. So schafft sie den Spagat zwischen zuckersüßem Märchen-Flair und Bitterkeit der Realität, sodass die Geschichte locker und leicht daherkommt.


"Sie war erneut gekommen, um ihn zu suchen. Niemand suchte nach ihm. Alle wussten, dass er allein sein wollte. Nur dass es nicht immer so war. Manchmal war er aus Gewohnheit alleine. Manchmal kostete es Mühe, sich von der wachsenden Leere in seinem Inneren abzulenken."


Besonders toll ist die Dynamik zwischen den beiden Protagonistin dargestellt, die beide auf ihre Art im Umgang mit dem anderen gehandicapt sind. Während Khai durch seinen Autismus eine andere Sicht auf die Welt und Menschen hat und ihm deshalb viele Dinge entgehen und er andere ohne Absicht verletzt, ist Esme in einer ganz anderen Kultur aufgewachsen und muss sich deshalb an eine neue Sprache, eine andere Art zu Leben und Khais besondere Eigenarten gewöhnen. Wie die Beiden immer wieder aneinander vorbeireden und sich in seltsame Situationen und Missverständnisse manövrieren ist zugleich witzig und liebenswert. Auch wenn von Anfang an klar ist, dass die beiden wunderbar zusammenpassen und sich am Ende auch finden werden, ist es sehr spannend zu verfolgen, wie Khai seine Befürchtung, er könne niemanden lieben und Esme ihre Komplexe, nicht schlau, gebildet, reich oder schön genug für ihn zu sein, überwindet. Etwas gestört hat mich, dass Khai von Anfang an einen total sexualisierten Blick auf Esme hat und sie das gar nicht zu kümmern scheint (ja gut, es ist vielleicht scheinheilig das zu sagen weil es bei dieser Art von Büchern normalerweise immer andersrum ist und der männliche Love-Interest nur als Objekt der Begierde dargestellt ist) aber das hat für mich nicht wirklich gepasst, vor allem weil sich Esme als unabhängige Frau versteht und Khai eigentlich nicht oberflächlich angelegt ist.


"Sie lag in seinen Armen, wandte sich an ihn, vertraute ihm, genau wie damals, als sie den Albtraum gehabt hatte. Es war furchteinflößend. Es war wundervoll. (…) Innerhalb eines Augenblicks veränderte sich alles. Der Wind wurde zu Samt, und die einzigen Geräusche waren das Pochen seines Herzens und das Rauschen seines Bluts. Die Farben wurden strahlender und tanzten. Das Grün ihrer Augen, das Gelb ihres Shirts, das Blau des Sommerhimmels, all das ließ das Rosa ihres Mundes aufleuchten."


Davon abgesehen hatte ich das Gefühl, zwei sehr runde Charaktere kennengelernt zu haben. Besonders genial ist, dass die Protagonistin hier nicht "verwestlicht" angelegt ist, wie die meisten anderen Protagonistinnen des Genres. Stattdessen ist sie jemand, auf den ich (und das ist wirklich traurig, falsch und ich schäme mich, dass erkennen zu müssen) wahrscheinlich im echten Leben herabgeschaut hätte: schlechte Schulbildung, alleinerziehende Mutter und keinerlei Selbstachtung. Dennoch schleicht sie sich mit ihrer strahlenden, direkten Art sofort ins Herz des Lesers und zwingt einen dazu, die Vorbehalte gegenüber ihr fallen zu lassen. Denn wie sie trotz ihrer fehlenden Bildung, der Sprachbarriere, der kulturellen Hürden und der Verantwortung für ihre Familie ein eigenes Ziel, Träume, den Wunsch nach Unabhängigkeit und eine tiefe Stärke in sich selbst entdeckt, ist wirklich beeindruckend. Sie arbeitet hart und kämpft zielstrebig für ihre Zukunft, hat aber gleichzeitig Prinzipien und geht unglaublich liebevoll mit den Menschen um, die ihr am Herzen liegen. Dabei ist sie erstaunlich modern und auf eine unaufdringliche Art und Weise clever, sodass sie bald zu einer der natürlichsten Power-Frauen wird, von der ich jemals gelesen habe.

Und Khai… Khai ist toll, auch wenn man ihm wegen seiner Unwissenheit, seiner Tollpatschigkeit und seiner Unbeholfenheit im Umgang mit anderen oftmals gerne etwas an den Kopf geworfen hätte. Er ist nicht so perfekt wie sein Romanvorgänger Michael, glaubt selbst ein Herz aus Stein zu haben, ist manchmal sehr unsensibel, verletzt Esme alle Nase lang und hält seine Gefühle für sie für eine "Sucht" aber genau das macht ihn so natürlich. Er ist nicht der strahlende Held der Geschichte (diesen Part übernimmt Esme für ihn) sondern die unsichere, süße Identifikationsfigur, die sich an jedem Klischee vorbei in unser Herz schleicht. Apropos Michael: als kleiner schöner Bonus dürfen wir hier seine und Stellas Hochzeit miterleben


"Liebst du mich auch? Vielleicht nur ein bisschen." Ihm wurde kalt. Nicht diese Frage. Warum hatte sie diese Frage gestellt? Er konnte ihr alle Dinge geben, die sie wollte, eine Green Card, echte Diamanten, seinen Körper, aber Liebe? Herzen aus Stein liebten nicht."


Das Ende hat dann leider ein bisschen etwas von einer romantischen Komödie (ihr wisst schon, die üblichen "Flughafen-Renn"- und "Hochzeit-auf-den-letzten-Drücker-Verhinderungs"-Szenen...) und war mir definitiv zu überstürzt. Dennoch will ich noch ein kurzes Hoch auf die Autorin aussprechen, dass sie von einem typischen Prä-Happy-End-Breakdown abgesehen und die Lösung einer durchgängigen Problematik vorgezogen hat. So wird die Geschichte trotz Kitsch am Ende sehr schön abgerundet und ich kann mich auf Band 3 freuen!



Fazit:


Dieser zweite Teil verarbeitet dieselben Zutaten wie "Kissing Lessons" - zwei liebenswerte Protagonisten, ein kulturelles Durcheinander, Anziehungskraft und Autismus und ein gesellschaftliches Gefälle als Hindernis - macht aber definitiv mehr daraus als nur eine amüsante, unterhaltsame Liebesgeschichte. Helen Hoang erzählt hier zum einen von den Irrungen und Wirrungen der Liebe wenn man (wie sie selbst) Autist ist, hat hier aber gleichzeitig auch eine Liebeserklärung an ihre Mutter geschrieben, an die Stärke und den Mut von Immigranten, die in einem fremden Land ihren eigenen Amerikanischen Traum schaffen.

Charmant, humorvoll, besonders!

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Veröffentlicht am 25.01.2020

Aufrüttelnd, berührend, mitreißend!

You are (not) safe here
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Die Autorin schreibt in ihrer Anmerkung am Ende, dies sei eine "Survival-Story" - die Protagonisten kämpfen hier zwar nicht auf einer einsamen Insel, in der Wüste oder im Eis um ihr Überleben sondern retten ...

Die Autorin schreibt in ihrer Anmerkung am Ende, dies sei eine "Survival-Story" - die Protagonisten kämpfen hier zwar nicht auf einer einsamen Insel, in der Wüste oder im Eis um ihr Überleben sondern retten sich dort von Tag zu Tag, wo sie sich eigentlich am sichersten fühlen sollten: zuhause. Doch was Kyrie McCauley hier geschrieben hat ist nicht nur eine spannende Survival-Story, sondern auch ein hoffnungsvoller Coming-of-Age-Roman, ein schonungslose Gesellschaftskritik und ein düsterer Fantasy-Thriller. Was nach einer absurden Mischung klingt, entwickelt sich aber zu einem der beeindruckendsten Jugendromanen, die ich jemals gelesen habe.


"Ich rieche die Rosen und denke an Frauen, die von anderen Frauen im Stich gelassen werden. Frauen, denen gesagt wird, dass ihr Gehorsam wichtiger ist als ihr Leben- und das nicht von ihren Männern, sondern von ihren Müttern und ihren Freundinnen. Von Frauen, die bereit sind, einander zuzusehen, wie sie aufgrund von Traditionen und überkommenen Vorstellungen verletzt werden."


"You are (not) safe here" - die 17-Jährige Leighton und ihre beiden jüngeren Schwestern fühlen sich in ihrem eigenen Haus nicht sicher und das schon eine ganze Weile nicht mehr. Schuld ist ER, ihr Vater, der seine brodelnde Wut nicht unter Kontrolle hat. Warum also finde ich den Titel trotzdem nicht so gut wie das Original? Weil "If these Wings could fly" den Kern der Geschichte besser trifft. Es geht hier zwar um Angst, fehlende Sicherheit und Gewalt - es geht aber auch um den Gegensatz zwischen Liebe und Hass, Fesseln und Flügel, Angst und Hoffnung, welcher sich im englischen Titel meiner Meinung nach besser zeigt. Warum man - wenn man schon einen englischen Titel wählt - nicht einfach beim Original bleiben kann, habe ich noch nie verstanden.


"Die Welt dreht sich um uns herum. Und die Worte steigen von selbst in mir hoch, schnell und ohne Mühe, wie Luft. Worte, die unsichtbar an dem Ding in meiner Brust vorbeijagen, bevor es sie erwischen kann, taumeln aus mir heraus, bevor ich zum Nachdenken komme: "Ich liebe dich."


Auch das deutsche Cover - auch wenn dieses wirklich schön gemacht ist mit der dominanten Schrift, dem schmutzig-weißen Hintergrund, dem rot durchgestrichenen "not" und den schwarzen, rau hervorgehobenen Federn - ist nichts im Vergleich zum Original, welches blaue Silhouetten von Krähen, die im Herzen ein kleines, rotes Haus tragen, zeigt. Sehr schön an der Ausgabe sind jedoch die Einfügungen nach den kurzen Kapiteln, die Datum, Ort und den aktuellen Krähenbestand Auburns anzeigen. Ebenfalls eine gute wie wichtige Idee finde ich die Nennung von Hilfe- und Anlaufstellen ganz am Ende der Geschichte. Denn wie die Autorin in ihrer Widmung schreibt ist das vor allem eine Geschichte für die Überlebenden von häuslicher Gewalt und für alle Nachbarn, Freunde, Mitmenschen, die einfach wegschauen und nicht wissen, was sie tun sollen.


Erster Satz: "Es passiert in der Ausdehnung der Stille, dass ich mich frage, ob sie ganz einfach tot ist."


Mit diesem Gänsehaut-bereitenden Satz steigen wir in die Geschichte von Leighton ein, die Schule, ihre erste Liebe, ihre Zukunftspläne und ihre Träume gegen die Verantwortung ihren Schwestern gegenüber und ihr gemeinsames Überleben in einem Spukhaus abwägen muss. Sich in den charmanten Liam zu verlieben, fühlt sich wie eine Rebellion an, wenn man Zuhause nur Hass gewohnt ist. Von einem Studium in New York zu träumen, fühlt sich wie Verrat an, wenn man dann seine Schwestern mit IHM alleine lässt. Doch soll sie deshalb einfach dableiben und nichts tun, wenn sich jeder weitere Tag wie sterben anfühlt? Jetzt, da ihr nur noch ein einziges Jahr Schule bleibt, läuft ihre Zeit langsam ab und sie muss sich entscheiden, ob sie ihre Flügel ausbreiten und wegfliegen oder dableiben und weiter vor Angst starr ausharren soll. Ob sie endlich ihre Stimme erheben und die unvermeidliche Eskalation in Kauf nehmen oder passiv auf die Explosion warten soll...


"Wie groß ist dein Mut?", überlege ich. Nicht sehr groß. Eher klein. Und er schrumpft immer mehr. Was wird es kosten, diese Stadt zu verlassen? Mut oder Feigheit?"


Ich denke es wird schon im Klapptext sofort klar, worum es hier im Kern geht: häusliche Gewalt. Dennoch hat mich die Autorin überrascht, in dem sie das schwierige Thema mal etwas anders angepackt hat. Hier gibt es keine Schläge, kein Missbrauch, keine bei der Einlieferung ins Krankenhaus vorgetäuschte "Unfälle" sondern die Gewalt, die Leighton, ihren Schwestern und ihrer Mutter zugefügt wird, spielt sich mehr auf psychischer Ebene ab. Besonders beeindruckt hat mich aber, dass es die Autorin nicht bei der Täter-Opfer-Dimension und teilnahmslosen Zuschauern belässt sondern das komplexe Thema weiter aufrollt. Sie schreibt von Machtverhältnissen, Abhängigkeit, Selbstwertproblemen und dem großen Schaden des Kleinredens des Problems und prangert ganz nebenbei die gesellschaftliche Rolle von Frauen allgemein an. Wie geschickt und natürlich sie dabei vielfältige Aspekte und Denkanstöße miteinfließen lässt und beispielsweise durch die Diskussion des Klassikers "Tess von den d'Urbervilles: Eine reine Frau" oder die Recherche von Krähen-Mythen auf Themen wie Rassismus, Perspektivlosigkeit und toxische Normen kommt und eine kleine feministische Debatte auslöst, hat mich nur staunen lassen. Es stecken unfassbar viele tolle und wichtige Gedanken in dieser besonderen Geschichte, die ich wirklich jedem ans Herz legen kann!


"Hier nennen sie Ignoranz Tradition und machen weiter, als ob sie das Recht erworben hätten, grausam zu sein."


Ein weiterer Punkt, der die Problematik so eindrücklich wirken lässt ist, dass das Familienleben sehr authentisch dargestellt ist und gerade deshalb so unter die Haut geht. Es wechseln sich intaktes Familienleben und albtraumhafte Ausbrüche, grausame Wut und einsichtige Reue, einfache Normalität und unleugbare Gewalt ab und gerade dieser Wechsel macht die Bedrohung für Leighton und ihre Schwestern so schrecklich. Diese Ungewissheit, ob heute ein guter oder ein schlechter Tag ist, die ständige Nervosität, etwas Falsches zu sagen oder zu tun und die Angst, dass es DIE Nacht sein wird, in dem er nicht zu einer Tasse oder einer Vase greift sondern seine Pistole oder ein Messer zur Hand nimmt. Die Autorin zeichnet das Bild einer Familie zwischen Hass und Liebe, Wut und Vergebung, Erniedrigung und Stärke, Hoffnung und Angst, welches aufrüttelt und tief berührt. Ganz besonders schön ist dabei, dass man bald feststellt, dass Leighton trotz der vielen Wut, der Angst und des Leids, das sie durchstehen muss, so viel Liebe um sich herum hat. Ihre Schwestern, ihre Mutter, ihre beste Freundin, ihre Oma, ihr Freund und dessen Familie - alle versuchen für sie da zu sein und geben ihr Bestes für sie. Und genau aus diesem Grund ist dieses Buch, so hässlich und tragisch es an manchen Stellen erscheint im Kern doch wunderschön!


"All die Worte, die ich nicht sage. Stattdessen schlucke ich sie herunter und die Buchstaben sind spitz an den Ecken und scharf an den Kanten. Es schmerzt, wenn sie ich runterschlucke. Und sie bleiben in mir und machen mir Bauchschmerzen. Manchmal denke ich, wenn man mich aufschneiden würde, wären all die Worte tatsächlich sichtbar. Wie bei einem Wal, der zu viel Müll gefressen hat, bis der Körper nur noch eine Zeitkapsel ist für all das, was Menschen wegwerfen."


Passend dazu sind die Charaktere sehr feinfühlig gezeichnet. Da wäre Hauptprotagonistin, die die Geschichte aus der Ich-Perspektive erzählt und zwischen Isolation und Mitteilungsbedürfnis, zwischen Kämpfen und Weglaufen, Beschützen und sich selbst retten gefangen ist. Mit ihrer stoischen, mutigen aber realistischer Weise auch ein wenig gebrochenen Art wächst sie dem Leser sofort ans Herz und man wünscht ihr, dass ihre Flügel wirklich fliegen können. Besonders berührend sind aber auch die Nebencharaktere wie die süße, unschuldige Juniper, die mit ihrer Verletzlichkeit und Angst immer wieder unter die Haut geht; die nachdenkliche, direkte Campbell, die tagsüber wie ein Wirbelwind durch Auburn saust und wilde Schneeballschlachten führt und sich nachts wie versteinert von Leightons Schattenfiguren ablenken lässt; die offenherzige Sofia, die Leighton in der Schule den Rücken freihält und in stillem Einvernehmen nicht in der Wunde bohrt; der sensible Liam, der Leighton durch ihre ehrliche, zarte Beziehung die Hoffnung auf eine eigene Zukunft und neue Kraft schenkt; die liebevolle Mutter, die nach allem was vorgefallen ist, in ihrem Mann immer noch ihr Zuhause sieht und nicht aus Schwäche sondern aus Liebe immer wieder zu ihm zurückkehrt und der Vater, der durch seine eigene Kindheit ein Vermächtnis von Wut gelehrt wurde und seinen Lebensfrust an seiner Familie auslässt und dennoch mehr ist als ein Monster. Diese wundervollen Protagonisten tragen dazu bei, dass diese Geschichte hässlich und schön, unheimlich und alltäglich, brutal und zärtlich, düster und hoffnungsvoll zugleich wirkt und wir hier ein differenziertes, facettenreiches Bild erhalten.


"Es hockt in meiner Brust - dieses Ding. Es ist Angst. Und ich habe sie weggesperrt wie ein gefährliches Wesen, das sie ja auch ist. Denn Angst lässt mich unbedacht handeln. Angst macht mich schwach. Ich würde ja weglaufen, möchte ich dem flatternden Ding in meinem Inneren sagen, wenn ich nur einen Ort wüsste, wohin. Es gibt einen Ort. EsgibtaufderWeltkeinenOrtwoichhinkann."


So kam es wie es kommen musste und ich war trotz des eher langsamen Erzähltempos, den vielen Wiederholungen und einiger Schwächen im Aufbau absolut gebannt von der Geschichte. Kyrie McCauley fesselt uns mit vielen kurzen Szenen, bildhafter Sprache und atmosphärischer Spannung schleichend an die Geschichte. Bevor man es sich versieht, wird man von dem bedrückenden Szenario verschlungen, das sich weniger rasant, eher wie ein zäher aber stetiger Fluss vorwärts bewegt - auf eine unvermeidliche Eskalation zu.


"Was ist das Gewicht eines Worts? Vielleicht wird es in Tinte und Papier gemessen. Vielleicht aber auch daran, wie viel Schmerz es verursacht."


Auch wenn die Geschichte vergleichsweise viele "normale", gewöhnliche Szenen enthält, spürt man von Anfang an, dass etwas in der Luft liegt. Das wird nicht nur durch die ernste Problematik sondern auch durch einen genialen Kunstgriff der Autorin verursacht. Sie hat der realen Handlungsebene auf einer Metaebene eine magische, surreale Komponente hinzugefügt, die vor allem für die grandiose Atmosphäre des Buches sorgt. Zwar war ich teilweise verwirrt, was magische Elemente wie ein böses Haus, das die Spuren von Gewalt tilgt und die Schuld zusammen mit Glassplittern und Putzbröckchen verschwinden lässt, sodass außer verletzten Gefühlen keine Hinweise mehr zurückbleiben, in dieser Geschichte verloren haben. Die teilweise merkwürdigen Ereignisse, die das Haus wie eine Art verfluchtes Paralleluniversum erscheinen lassen, passen aber wirklich gut zur Thematik und tragen auch maßgeblich zur Darstellung und Pointierung des Konflikts bei.


"Die meisten Spukhäuser werden von Toten heimgesucht, nicht von Lebenden. Außer dieses. Dieses ist von uns allen besessen, sogar wenn wir nicht da sind. Als wenn es kleine Teile von uns nimmt und sie in seinem Fundament, seinen Nägeln und seinem Holz ablegt, da wo es nachgibt.
Lauf. Ich bleibe auf der Treppe stehen.
Lauf weg, schreit etwas tief in meinem Inneren."


Die sich langsam aufbauenden atmosphärische Spannung der Geschichte geht einher mit dem wachsenden Krähenbestand in Auburn. Waren es zu Beginn noch gerade mal 212 Krähen, sind es gegen Ende fast 100 000 der schwarzen Vögel, die die Bäume, Straßen und Häuser der Kleinstadt besetzen. Was der Ornithologe, den Leighton für ihre Zeitungskolumne kontaktiert für ein spannendes Zugphänomen hält und die Stadtbewohner als Bedrohung wahrnehmen, empfindet Leighton als alles andere als beunruhigend. Wie sollte sie auch vor ein paar Krähen Angst haben, wenn sie Nacht für Nacht mit ihren Schwestern im alten Schrank ihrer Großmutter ausharrt und zittern darauf wartet, dass die Schreie von unten aufhören. Nein, sie fühlt sich eher beschützt von tausenden Augenpaaren, die endlich hinsehen, von schwarzen Flügeln, die tröstlichen Schatten werfen, von klugen Köpfen, die ihr immer wieder kleine Geschenke bringen. Die Autorin setzt die Krähen auf Hitchcock-Weise als Stilmittel um eine düstere, unheilschwangere Stimmung zu schaffen, ein, gibt dem Schwarm aber auch eine weitere Bedeutung: Hoffnung. Denn Krähen können nicht nur für Tod sondern auch für Veränderung oder Neuanfang stehen - und den hat die Familie definitiv notwendig.

Wie genau die Lösung für das verzwickte, komplizierte Problem aussehen soll, ist natürlich nicht klar und es würde dem Thema auch nicht gerecht werden, einen einfachen Ausweg anzubieten. Wie die Lösung der Autorin aussieht, was dann am Ende passiert, will ich natürlich nicht verraten. Nur so viel: es schnell, überstürzt und anders als man denkt - dennoch hat Kyrie McCauley das perfekte Ende gefunden!


"In Auburn geboren. Stolz auf Auburn.
Hier ist, was ich über Stolz weiß. Ich weiß, dass er die Geheimnisse grausamer Männer bewahrt. Ich weiß, dass er uns im Schatten hält, weil wir zu stolz sind zuzugeben, dass wir Hilfe brauchen. Ich weiß, dass Stolz den Ruf eines Mannes über das leben einer Frau stellt. Stolz nennt Frauen egoistisch, wenn sie den Mund aufmachen, selbst wenn sie die Wahrheit sagen. Gerade dann.
Und hier ist, was ich über Auburn weiß. Ich weiß von panischem Klopfen nachts an Türen, das ignoriert wird. Ich weiß von Männern, die wegschauen, wenn ihr Freund das Problem ist. Denn Auburn ist eine Stadt, in der Menschen nur sehen, was sie sehen wollen. (...)
Es sind nicht die Krähen, die Auburn hässlich machen."




Fazit:


Eine spannende Survival-Story, die gleichzeitig auch ein hoffnungsvoller Coming-of-Age-Roman, ein schonungslose Gesellschaftskritik und ein düsterer Fantasy-Thriller ist. Kyrie McCauley zeichnet feinfühlig aber schonungslos das Bild einer Familie zwischen Hass und Liebe, Wut und Vergebung, Erniedrigung und Stärke, Hoffnung und Angst, welches aufrüttelt und tief berührt.

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