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Veröffentlicht am 29.03.2020

Verstrickt in faschistische Spionage

Der Empfänger
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Als Josef Klein in den 20ern des letzten Jahrhunderts nach New York auswanderte, ahnte er sicher nicht, dass er vor Beginn des zweiten Weltkriegs als Funker in die Machenschaften einer deutschen faschistischen ...

Als Josef Klein in den 20ern des letzten Jahrhunderts nach New York auswanderte, ahnte er sicher nicht, dass er vor Beginn des zweiten Weltkriegs als Funker in die Machenschaften einer deutschen faschistischen Gruppierung gerät.
Ulla Lenze hat zu großen Teilen den Lebensweg ihres Großonkels verarbeitet und mit einer möglichen biographischen Variante verwoben. In durchbrochener Chronologie begegnen wir ihm in seiner Heimatstadt Düsseldorf, bei der Ankunft in New York, in Gefangenschaft auf Ellis Island, bei der Rückkehr zu seinem Bruder nach Neuss, in Argentinien und Costa Rica.
Der Schreibstil ist, obgleich oder vielmehr weil sehr nüchtern und scheinbar objektiv erzählt wird, hochgradig poetisch. Immerzu kann das Erwähnte interpretiert und beinahe sinnlich erfahren werden, die Erwähnungen einzelner Details geben Informationen über die Beschreibung hinaus (S. 278: „So musste sie ihn nicht in gestreifter Gefängniskleidung sehen, er von Kopf bis Fuß durchgestrichen, die Gitterstäbe noch auf seinem Körper“). Ein weiterer Gewinn sind die tiefen Dialoge. Hier besteht die Chance, zu den Menschen vorzustoßen.
Die wunderbare Sprache ist es, die durch den Roman trägt. Josef Klein wird nicht zum Helden. Niemand wird es. Schwächen dominieren, ob es um ihn geht, seinen Bruder, Freunde. Die Personen distanzieren sich vom Lesenden, somit auch die Geschichte, die seltsam fern wirkt.
Immer wieder wird Klein mit nationalsozialistischem Gedankengut konfrontiert. Der Amerikadeutsche Bund, der Hitlers Ideen in den USA lebt und verbreitet, benutzt ihn für Spionagetätigkeiten. Es ist erschreckend zu lesen, mit welchem Selbstverständnis die verbrecherischen Strukturen aufgebaut und funktional gestaltet waren. Der historische Blick, den der Roman auf dieses so relativ unbeleuchtete Phänomen gewährt, ist so verstörend wie informativ.
Letztendlich muss man sich damit zufriedengeben, nicht wirklich zu Klein vorgedrungen, ihn nicht grundsätzlich verstanden zu haben.
Doch wer sich dem Themenfeld von literarischer Seite annähern möchte, kann hier eine Perle entdecken.

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Veröffentlicht am 12.03.2020

So trostlos wie berauschend, so bedrückend wie überwältigend

Ich erwarte die Ankunft des Teufels
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Im Jahr 1901 schreibt die erst neunzehnjährige Mary MacLane ihre „Darstellung“, die damals für eine literarische Sensation sorgte. In Tagebuchform zelebriert sie ihr unsägliches Leiden: als Genie und Philosophin ...

Im Jahr 1901 schreibt die erst neunzehnjährige Mary MacLane ihre „Darstellung“, die damals für eine literarische Sensation sorgte. In Tagebuchform zelebriert sie ihr unsägliches Leiden: als Genie und Philosophin dazu verdammt zu sein, nichts weiter zu tun zu haben als zu warten. Also wartet sie. Nämlich auf die Ankunft des Teufels.
Die Gegend, die sie denkend und wahrnehmend durchstreift, ist öde und sandig. Das ist dem Kupferabbau geschuldet, der die Region um die Stadt Butte in Montana verbraucht und vergiftet hat. Beinahe macht es den Eindruck, als spiegele sich diese durch skrupellose Ausbeutung entstandene Landschaft in MacLanes Seele.
Provokant kokettiert sie mit dem Bösen in ihrem Charakter, bezeichnet sich als Lügnerin und Diebin, bekennt sich zu einer lesbischen Liebe und offenbart ihre mannigfachen Formen der Verachtung in Bezug auf beinahe alle übrigen Menschen. Bedingungslos möchte sie sich dem Teufel unterwerfen.
Dieses Anklagen, Jammern, Hadern über das Nichts, das sie umgibt, verbunden mit einer pathetischen Selbsterhöhung, beides in selten durchbrochenen Wiederholungen, könnte die Lektüre ziemlich unerfreulich gestalten. Wären da nicht die Originalität, der Mut, die kraftvolle Sprache und die faszinierenden Bilder. Immer geht es dabei um sie: ihre Spaziergänge, ihre Art, eine Olive zu essen, ihren jungen Frauenkörper, ihre Verliebtsein in die Anemonendame, ihr Verliebtsein in Napoleon. Ihre unendliche Müdigkeit, die Kälte ihrer Mutter, ihre Einsamkeit, ihre Sehnsucht nach Liebe. Sehnsucht nach Leidenschaft, die dem Streifen roten Himmels bei Sonnenuntergang entspricht.
So trostlos wie berauschend, so bedrückend wie überwältigend erscheint Marys Welt.
Das Nachwort der Lektorin Ann Cotten und ein Beitrag von Juliane Liebert mit informativen und wissenswerten Fakten zu Autorin und ihrem Kontext schenken diesem bedeutsamen, etwas anstrengenden Buch eine adäquate Bereicherung.

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Veröffentlicht am 09.03.2020

Gnadenlos witzig und bitterböse!

Ruhet in Friedberg
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In dem kleinen österreichischen Ort Friedberg wundern sich die Bestatter: Der Sarg wiegt deutlich mehr, als der darin liegende Verstorbene vermuten lässt. Andi, einer von ihnen, möchte wissen, was dahinter ...

In dem kleinen österreichischen Ort Friedberg wundern sich die Bestatter: Der Sarg wiegt deutlich mehr, als der darin liegende Verstorbene vermuten lässt. Andi, einer von ihnen, möchte wissen, was dahinter steckt, und entdeckt eine Ungeheuerlichkeit.
Autor Rudolf Ruschel ist nichts heilig. Absolut gnadenlos verteilt er in diesem ungewöhnlichen Kriminalroman Hiebe reihum und bricht mit diebischer Freude jedes Tabu. Das trifft die jugoslawische Mafia genauso wie die Geistlichkeit, die Schwulen wie die Politik, Alt wie Jung. Alles ist so überwältigend unkorrekt, dass man mitunter nach Luft schnappen muss.
Getränkt ist das Ganze mit rabenschwarzem Humor. Der behält anfangs die Oberhand. Schlag auf Schlag gibt es neue Pointen, die präzise vorbereitet und treffsicher ausgearbeitet werden, mit dem Ergebnis maximaler Wirkung auf die Lachmuskeln.
Unterstützt wird das durch die Verwendung einer stark österreichisch gefärbten Umgangssprache, die geprägt ist von Satzverstümmelungen und gelegentlichen Ansprachen an die Lesenden. Dabei entsteht ein Effekt, als würde die Geschichte im Wirtshaus von jemandem erzählt, der wirklich dabei gewesen ist.
Die Personen im Stück sind allesamt etwas Besonderes und liefern schon in ihren Anlagen Steilvorlagen für all die schrägen Gags, für die sie schließlich herhalten müssen.
Im Laufe des Geschehens wird es immer makabrer. Konnte man zu Beginn noch einen leichten Kuschelfaktor verspüren, die ein oder andere wahnwitzige Idee als Dumme-Jungen-Streich einordnen, zu einigen Protagonisten eine Vertrautheit, sogar Sympathie aufbauen, lässt die Handlung das später nicht mehr zu. Abstrus, bitterböse, voller ungeahnter Haken und Wendungen, steuert sie unaufhaltsam auf das große Desaster zu.
Die Anzahl der Protagonisten wird, um es vorsichtig zu formulieren, überschaubarer. Schneller und gründlicher vielleicht, als so mancher es gut verdauen kann. Die Schabernackleichtigkeit des Beginns wird von den Ereignissen überrollt.
Was bleibt, sind die zahllosen Überraschungen. Von der ersten bis zur letzten Seite!

Veröffentlicht am 05.03.2020

Mord und Holland - ein toller Auftakt!

Mord auf Vlieland
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Auf der niederländischen Insel Vlieland verfängt sich ein Toter in den Spanten eines Schiffswracks. Es handelt sich um einen wichtigen, ortsbekannten Geschäftsmann, der vorhatte, ein neues, durchaus umstrittenes ...

Auf der niederländischen Insel Vlieland verfängt sich ein Toter in den Spanten eines Schiffswracks. Es handelt sich um einen wichtigen, ortsbekannten Geschäftsmann, der vorhatte, ein neues, durchaus umstrittenes Hotelprojekt zu realisieren.
Jan Jacobs gelingt es in diesem ersten Band seiner holländischen Krimireihe hervorragend, die besondere Atmosphäre der Insel und seiner Bewohner zu transportieren. Als besonderen Kniff streut er eine Menge holländischer Begriffe ein. Hilfreich sind auch die stimmungsvollen Landschafts- und Wetterbeschreibungen, sowie die regionale Verbundenheit, die einige Charaktere ausstrahlen.
Commissaris Griet Gerritsen ist neu auf Vlieland. Nach längerer Pause steigt sie von neuem in die Polizeiarbeit ein, wird sogleich mit einem Mord konfrontiert, einem unangenehmen Vorgesetzten, der ihr klar macht, dass er sie am liebsten gleich wieder los wäre, und ihren beiden etwas speziellen Mitarbeitern. Zum einen ist das die unerfahrene, übereifrige Noemi, zum anderen Pieter, behäbig, essbegeistert und wesentlich scharfsinniger, als man anfangs vermutet.
Während die Ermittlungen voranschreiten, erfährt man einiges von Griets Hintergrund. Ihrem Partner, den sie bei einem Einsatz verlor, der Tochter, die bei ihrem Exmann lebt, dem Vater, der ihr ein Plattbodenschiff vererbt hat, auf dem sie nun wohnt. Das ist dezent eingebettet in die eigentliche Geschichte und verleiht ihr Tiefe und Authentizität.
Der Fall erweist sich als komplex und vielschichtig und führt möglicherweise weit in die Vergangenheit zurück. Die Verhältnisse der Familie des Opfers müssen genau erforscht, sämtliche Verbindungen und mögliche Motive durchleuchtet werden. Eine Herausforderung für ein Team, das sich gerade erst aus so unterschiedlichen Persönlichkeiten zusammen gesetzt hat.
An manchen Stellen gerät der ansonsten flott und unterhaltsam geschriebene Krimi etwas ins Stocken. Etwa wenn die Erklärungen der Polzeistruktur zu ausführlich werden. Auch die gelegentliche Unprofessionalität von Griet und co. nagen ein wenig an der Lesefreude. Darüber hinaus erscheint die Moral der Ermittler am Ende doch leicht fragwürdig.
Alles in allem kommen hier aber besonders Hollandfans und Bewunderer gelungener Konstruktionen auf ihre Kosten und dürfen sich schon einmal auf die Fortsetzung freuen.

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Veröffentlicht am 01.03.2020

Acht Mal Mattias

Nach Mattias
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Acht Personen kommen zu Wort. Sie sprechen über sich, ihre Lebenssituationen, über Mattias, die Lücke, die er hinterlässt, nun, da er nicht mehr bei ihnen ist.

Wer war Mattias? Wie war er? Was geschah? ...

Acht Personen kommen zu Wort. Sie sprechen über sich, ihre Lebenssituationen, über Mattias, die Lücke, die er hinterlässt, nun, da er nicht mehr bei ihnen ist.

Wer war Mattias? Wie war er? Was geschah? Den Antworten auf diese und andere Fragen nähert man sich stückchenweise an. Noch ist er sehr präsent, genau seine Abwesenheit rückt ihn in den Fokus.
Jeder der acht, Partnerin, Mutter, Freund und andere, stand in einem anderen Verhältnis zu ihm, jeder erzählt auf seine Weise, meistens, nicht immer, in Ichform. Von früher, von jetzt, zwischen Alltägliches mischen sich auf eigenartig verhaltene Weise Trauer, Wut, Trotz, manchmal Dankbarkeit. Und immer wieder das Gefühl von Verlust.
Doch Peter Zantingh geht es in erster Linie nicht um Darstellung von Verlustschmerz oder gar um Hilfe zur Bewältigung. Vielmehr will er aufzeigen, wo der Mangel hinführen, welche Veränderung er in Gang setzen kann. Und vor allem will er all die Puzzleteile, die manchmal wie beiläufig abgelegt werden, zusammenführen zu einem Bild, einem sehr unvollständigen Bild, das dennoch einen Eindruck zu vermitteln vermag von dem Menschen, der nun fehlt.
Dabei benutzt er eine Sprache, die gleichermaßen sachlich wie poetisch ist, durch diese Sachlichkeit beinahe unterkühlt wirkt und starke Emotionen gut zwischen den Zeilen verbirgt. Das erfordert aufmerksames Lesen, die Worte wollen bewusst wahrgenommen, die Essenz sorgsam ausgesiebt werden. Über einzelne Sätze kann sinniert werden, wenn sie so viel mehr ausdrücken, als eigentlich in einen einzelnen Satz passt.
Trotz dieser Genialität - oder gerade wegen? - bleibt der Roman seltsam fern. Die Gefühle erscheinen selten direkt, sondern gefiltert durch einen hohen Anspruch: über die deskriptive Wahrnehmung seiner Personen eine innere Welt zu bauen, zu der Mattias nun geworden ist.

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