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Veröffentlicht am 18.11.2019

Emanzipation im Paris der 30er

Die Zeit des Lichts
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Whitney Scharer erzählt in ihrem Roman vom künstlerischen Leben im Paris der 30er Jahre. Sie berichtet zum einen von den Geldsorgen, die die Künstler seinerzeit plagten, gleichzeitig von ihrem aus heutiger ...

Whitney Scharer erzählt in ihrem Roman vom künstlerischen Leben im Paris der 30er Jahre. Sie berichtet zum einen von den Geldsorgen, die die Künstler seinerzeit plagten, gleichzeitig von ihrem aus heutiger Sicht verschwenderischen Lebensstil in Kaffeehäusern, Bistros, Bars und Theatern. Ihre Aufmerksamkeit gilt dabei hauptsächlich Elizabeth „Lee“ Miller, einer US-amerikanischen Fotografin, Fotojournalistin und surrealistischen Fotokünstlerin. Ihre Entwicklung vom Fotomodell zur Fotografin, sowie ihre gemeinsame Zeit mit Man Ray, stellen den Hauptanteil des Romans dar. Aus der Lifestyle-Perspektive heraus ergänzt der Roman sehr gut Agnès Poirier’s „An den Ufern der Seine“, betrachtet man das Frauenbild dieser Zeit, sehe ich Parallelen zu Pierre Lemaitre‘s „Die Farben des Feuers“.
Unterbrochen wird diese Haupthandlung von Einzelereignissen, die Lee Miller in ihrem späteren Leben als Kriegsfotografin porträtieren. In der ersten Buchhälfte habe ich diese Unterbrechungen als störend empfunden, da ich mich mehrfach orientieren musste, in welcher Zeitebene es nun weitergeht. Im Verlauf konnte ich mich daran gewöhnen. Trotzdem hat mir diese zeitlich spätere, unabhängig vom Hauptstrang erzählbare, aber im Stil einer Dokumentation immer wieder eingeschobene Geschichte nicht so gut gefallen. Die beiden Zeitebenen laufen weder aufeinander zu, noch gibt es einen deutlich genug ausgearbeiteten Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zwischen ihnen.
Wenn ich diesen einen Kritikpunkt ausblende, war die Lektüre über die mir bisher unbekannte Lee Miller sehr aufschlussreich und anregend. Der Roman hat mich zu weiterer Recherche animiert. Schön in diesem Zusammenhang ist, dass Whitney Scharer ihre Quellen in einem Literaturverzeichnis preisgibt, womit dem geneigten Leser weitere Vertiefungsmöglichkeiten eröffnet werden.
Fazit: Insgesamt ließ sich „Die Zeit des Lichts“ mit seiner schönen Sprache gut lesen. Besonders mochte ich die im Lesevergnügen automatisch erzeugte Horizonterweiterung, den Wissenszuwachs ohne Mühe. Um den Gesamtzusammenhang nicht aus den Augen zu verlieren, würde ich das Lesen in eher großen Abschnitten empfehlen.

Veröffentlicht am 03.11.2019

Emanzipation auf Jiddisch

Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse
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Motti Wolkenbruch ist ein junger Mann, der sich sein gesamtes Leben von seiner gluckenden mame hat bevormunden lassen. Durch Tradition und Glaube sind nicht nur Kleidungsstil und Ernährungsregeln für Motti ...

Motti Wolkenbruch ist ein junger Mann, der sich sein gesamtes Leben von seiner gluckenden mame hat bevormunden lassen. Durch Tradition und Glaube sind nicht nur Kleidungsstil und Ernährungsregeln für Motti festgelegt. Durch die Mutter scheint auch seine weitere Entwicklung streng nach Plan verlaufen zu sollen. Die vorgezeichnete Zukunft lässt sich bereits am schweigsamen tate ablesen, der sich andauernd hinter einer Zeitung versteckt. Als die mame nun Motti mit einem Ebenbild von sich selbst verheiraten möchte, entwickelt dieser Störgefühle.

So beginnt Motti sich von seiner mame, aber auch von seiner Kultur zu emanzipieren. Unkoscheres Essen gehört nun genauso zu ihm wie ein urbanes Outfit. Als Leser hat man den Eindruck, Motti mag all das besonders gern, was goisch ist. Vermutlich macht das Verbotene den Reiz aus. Mottis Entwicklungsprozess endet schließlich, wie es der Buchtitel verspricht.

Die aufbegehrenden Gedanken unseres Protagonisten und sein rebellisches Verhalten wirken auf mich wie eine verspätete Pubertät. Dadurch entsteht eine skurrile, ein Dauerschmunzeln verursachende Komödie. Durch den Gegenpol der übertriebenen strengen mame, die teilweise aus der Zeit gefallen scheint und in ihrer eigenen Erwartungshaltung längst nicht fehlerfrei ist, wird die Situationskomik auf die Spitze getrieben.

Gefallen hat mir zudem die von Thomas Meyer verwendete Sprache. Er spielt mit jüdischen und goischen Klischees, ist dabei niemals anmaßend oder unangenehm. Der Text ist gespickt mit ganz vielen jiddischen Worten. Aber keine Angst, wer ein bisschen Platt versteht kommt gut damit zurecht. Außerdem gibt es ein entsprechendes Glossar am Ende des Buches. Die drei Teile des Buches gliedern sich in kurze Kapitel mit witzigen Titeln. Die Titel lassen sich dann auch im Kapiteltext wiederfinden, was ich ziemlich charmant finde.

Eine erfrischende Lektüre, die ich gern weiterempfehle.

Veröffentlicht am 17.10.2019

Mir geht das Herz auf

Das Stundenbuch des Jacominus Gainsborough
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Jacominus Gainsborough, unser Protagonist, dessen Lebensgeschichte hier erzählt wird, ist ein Träumer. Er redet nicht viel, hängt eher seinen Gedanken nach. So werden beginnend mit Jacominus‘ Geburt einzelne ...

Jacominus Gainsborough, unser Protagonist, dessen Lebensgeschichte hier erzählt wird, ist ein Träumer. Er redet nicht viel, hängt eher seinen Gedanken nach. So werden beginnend mit Jacominus‘ Geburt einzelne Stationen seines Lebens thematisiert. Dabei wird über besonders herausfordernde Situationen, beispielsweise als er ein großes Schiff besteigt, und über Alltägliches wie das Herumtollen mit seinen Kindern berichtet. Bis auf eine Besonderheit, die Jacominus Gainsborough seit einem Unfall in seiner Kindheit prägt, führt er ein ganz normales, erfülltes Leben.

Dieses wunderschöne Buch ist aus meiner Sicht sowohl für Kinder als auch für Erwachsene gemacht. Textpassagen wechseln sich mit doppelseitigen Bildgeschichten ab. Während Kinder innerhalb der wunderschönen, großformatigen Illustrationen auf Entdeckungsreise gehen können, lesen Erwachsene vielleicht intensiver diesen berührenden, philosophischen Text. Die Gesamtstimmung des Buches habe ich, als Erwachsene, ganz schön traurig und etwas trüb empfunden. Erst die „Lebensabrechnung“ hat mir die Augen für die positive Gesamtbilanz in Jacominus‘ Leben geöffnet. Diese Erkenntnis lässt mich nachdenklich auf mein eigenes Leben und meine Zufriedenheit damit blicken.

Sprachlich ist die Lektüre ein Hochgenuss. Neben dem hohen Niveau in Rébecca Dautremer’s Ausdrucksweise, hat mir auch der Wechsel ins Englische sehr gut gefallen. Das ganze Buch erhält dadurch einen noch edleren, fast schon königlichen Touch. Ich freue mich schon darauf, diese Stellen gemeinsam mit meinem 10 Jährigen Kind zu lesen.

Schön dürfte es auch sein mit kleineren Kindern, die im Text genannten Figuren auf den Bildern ausfindig zu machen. Dafür lassen sich die Zeichnungen auf den Vorsatzblättern prima nutzen, vorn für die jungen Charaktere, hinten für die Charaktere im Alter. Herausragend aus der Masse der bebilderten (Kinder-) Bücher ist die vielleicht etwas altmodisch erscheinende, weniger übertrieben bunte Art der Zeichnungen. Sie wirken dadurch natürlicher, ruhiger und sind damit auch thematisch optimal. Sie gehen mir so richtig ans Herz.

Insgesamt brillant, ein Kunstwerk sozusagen, ich kann es nur empfehlen.

Veröffentlicht am 17.10.2019

Zeitgenössische Utopie

Wolkenbruchs waghalsiges Stelldichein mit der Spionin
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Für mich war die Rückkehr von Motti Wolkenbruch das erste Buch von Thomas Meyer. Das Ergebnis vorwegnehmend wird es nicht mein letztes Buch von ihm sein. Thomas Meyer schreibt gesellschaftskritisch, ist ...

Für mich war die Rückkehr von Motti Wolkenbruch das erste Buch von Thomas Meyer. Das Ergebnis vorwegnehmend wird es nicht mein letztes Buch von ihm sein. Thomas Meyer schreibt gesellschaftskritisch, ist dabei satirisch und bissig. Obwohl ich als Leser ständig amüsiert war, behandelt "Wolkenbruchs waghalsiges Stelldichein mit der Spionin" ernste Themen wie die Meinungsmache und die Verrohung der Gesellschaft durch soziale Medien. Seine eigentlich utopische Geschichte über Motti Wolkenbruch ist dabei so eng mit dem aktuellen Tagesgeschehen verknüpft, dass manche Katastrophe, die Thomas Meyer zeichnet, durchaus möglich, ja sogar realistisch erscheint.

Zunächst erschien mir Motti als Mitglied der einen von zwei rivalisierenden Gruppen ziemlich antriebs- und hilflos und auch recht naiv. Er war von seiner Familie verstoßen worden, weil er im ersten Band „Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse“ ein Verhältnis mit einer Nicht-Jüdin hatte. Doch als man aufhört, ihn zu gängeln und zu kontrollieren, ist Motti scheinbar ohne große Anstrengung sehr wohl in der Lage wichtige und auch richtige Entscheidungen für seine Gruppe zu treffen und umzusetzen. Die so entstandene Mischung in seiner Persönlichkeit aus Muttersöhnchen und Anführer war mir wegen des extremen Widerspruchs, sowie der darin liegenden Komik sehr sympathisch.

So erreichen die zwei Gruppen, namentlich Motti‘s „Verlorene Söhne Israels“ und die Bewohner der Alpenfestung, mal geplant wirkend, mal per zufälliger, spontaner Eingebung eines Einzelnen stetig höhere Entwicklungsstufen. Zwischenzeitliche Rückschläge hatten für mich den belustigenden Charme von Ausrutschen oder Stolpern. In zwei Handlungssträngen bewegen sich nun die beiden Gruppen mit ihren konträren Zielen aufeinander zu. Eine apokalyptische Konfrontation ist vorprogrammiert und deren Ausgang ganz schön bedenklich. Trotzdem ist die gesamte Story urkomisch und witzig, hat mir ganz viel Spaß gebracht, aber auch ein schlechtes Gewissen, weil teilweise ich über böse Dinge so ausgiebig lachen musste.

In seiner Sprache bedient sich Thomas Meyer so manchem Klischee, ohne dass man es ihm übel nehmen kann, weil er sie so wunderbar einsetzt. Seine Wortwahl und der Habitus seiner Protagonisten ist typisch für den reellen Menschenschlag, den sie repräsentieren. Das war einfach nur köstlich. Als I-Tüpfelchen zu seinem ansteckenden Humor liefert uns Thomas Meyer neben kreativen Namens- und Wortschöpfungen eine Reihe an ernst zu nehmenden Zitaten, wie dieses hier (S. 161): „Wer braucht schon Panzer und Flugzeuge, wenn es Angst und Wut gibt? Sie kosten nichts, sind jederzeit verfügbar und bringen das Übelste in den Menschen hervor.“

Seine Satire auf das aktuelle Zeitgeschehen war für mich sensationell. Es gab nicht eine Sekunde Pause in dieser High-Level-Unterhaltung. Für den empfänglichen Leser folgt eine Pointe auf die Nächste. Thomas Meyer widmet sogar den großen merkwürdig kauzigen Charakteren unserer Zeit, die mit ihrem befremdlichen Gehabe für Unruhe sorgen, eigene Kapitel. So mutig und spitz muss Satire sein. Besser kann man es nicht machen.

Veröffentlicht am 16.10.2019

Mein erster Poetry Slam

Poet X
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Xiomara lebt mit ihrem Zwillingsbruder und ihren Eltern in New York unter schwierigen Bedingungen. Die aus der Dominikanischen Republik stammende Mutter ist dem katholischen Glauben verfallen, erwartet ...

Xiomara lebt mit ihrem Zwillingsbruder und ihren Eltern in New York unter schwierigen Bedingungen. Die aus der Dominikanischen Republik stammende Mutter ist dem katholischen Glauben verfallen, erwartet auch von Xiomara strenge Gläubigkeit. Gleichzeitig muss sich Xiomara mit ihrer Wertigkeit als Frau auseinander setzen. Nur ihr Bruder darf eine „gute“ Schule besuchen. Zudem muss Xiomara ständig sexistische Anmachen über sich ergehen lassen. Als sie sich dann in ihren Klassenkameraden Aman verliebt, nimmt ihr problembehaftetes Leben schwer zu ordnende Züge an.

Elizabeth Acevedo schreibt so eindringlich, dass ich blitzschnell und intensiv in die Geschichte hineingezogen wurde. Es fühlte sich an, als würde mir das alles gerade passieren. Trotzdem hatte ich stets eine jüngere Version der Autorin vor Augen. Vermutlich hat das Cover mit der kraushaarigen Schönheit dieses Bild in mir erzeugt. Ich mochte die gedichtartige Aufteilung, auch die manchmal überraschende Anordnung des Textes sehr. Es entstand ein für mich ganz neues Lese-Feeling. Es war ein bisschen wie ein Wettrennen, aber ich konnte nicht anders, als immer nur weiter zu lesen.

Xiomara, später Poet X, ist mir sehr ans Herz gewachsen. Sie geht den unbequemen Weg, bleibt sich selbst dabei immer treu, auch wenn sie dafür ihre Mutter zutiefst verletzen muss. Ihre Entwicklung von der schweigsamen, sich ihrer Fäuste bedienenden Xiomara, hin zu Poet X, die ihre Gefühle zunächst in einer Art Tagebuch niederschreibt, dann der Einladung ihrer überaus engagierten Lehrerin in den Slam-Poetry-Club folgt und letztlich öffentlich mit ihren Gedichten auftritt, fand ich wunderbar.

Fazit: „Poet X“ ist ein Buch über das Erwachsenwerden, über das Zu-sich-selbst-Finden, über eine Glaubenskrise und über die erste Liebe. Obwohl durchaus ernste Themen wie Gewalt und Sexismus behandelt werden, kommt dieser slammende Poetry-Roman mit einer mitreißenden Leichtigkeit daher. Das hat mir mehr als nur gefallen. Ich empfehle Elizabeth Acevedo‘s Debüt gern weiter. Versucht einzelne Abschnitte (oder auch Alles) laut, also mit Stimme. Das kommt dann richtig cool.