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Veröffentlicht am 02.12.2025

Was ich wollte an Liebe, Wärme, Bildern, Erinnerungen, Fantasien, Sonaten

Luft zum Leben
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Helga Schubert hatte mich mit ihren Büchern „Vom Aufstehen“ und auch „Der heutige Tag“ sehr berührt und begeistert. Daher war ich sehr erfreut über ihre Neuveröffentlichung „Luft zum Leben“. In dieser ...

Helga Schubert hatte mich mit ihren Büchern „Vom Aufstehen“ und auch „Der heutige Tag“ sehr berührt und begeistert. Daher war ich sehr erfreut über ihre Neuveröffentlichung „Luft zum Leben“. In dieser Kurzgeschichtensammlung sind 29 verschiedene alte und neue Texte enthalten, die ihr ganzes Leben umfassen; manche der Geschichten sind bisher unveröffentlicht.

„Denn ich habe mir in meinem langen Leben alles einverleibt, was ich wollte an Liebe, Wärme, Bildern, Erinnerungen, Fantasien, Sonaten. Es ist alles in diesem Moment in mir. Und wenn ich ganz alt bin, vielleicht gelähmt und vielleicht blind, und vielleicht sehr hilfsbedürftig, dann wird das alles auch noch immer in mir sein. Das ist nämlich mein Schatz.“

Besonders beeindruckt haben mich in dieser Sammlung vor allem die bisher unveröffentlichte Geschichte „Das fast weggeworfene Kind“, der 1991 bereits erschienene Text „Als 51-jähriges eigentlich ungewolltes Kind“ sowie die Kurzgeschichte „Frauenwürde“ (ebenfalls bisher unveröffentlicht); hier zeigt sich ganz besonders Helga Schuberts großes Talent zum Schreiben!

„Das fast weggeworfene Kind
[...]
Er sammelt alles, wirft kaum etwas weg. Will alles retten und reparieren.
[...]
Einmal gab er mir die Lebenserinnerungen seiner Mutter zum Lesen. Sie hatte unter der Überschrift »In wie viel Not hat nicht der gnädige Gott über Dir Flügel bereitet« besonders die beschwerliche Flucht mit ihren Kindern im Zweiten Weltkrieg beschrieben.
Mit ihm war sie nach dem Krieg schwanger. Aber sie wusste nicht, dass sie Zwillinge in sich trug.
Als sie seinen Bruder geboren hatte, fühlte die Hebamme noch einen Rest im Bauch, und tatsächlich war da noch ein zweites Kind: er.
Die Hebamme holte diesen unvermuteten zusätzlichen Menschen in die Welt und schlug der Mutter vor, ihn wegzuwerfen. Es sei etwas nicht zusammengewachsen. Aber die Mutter, die schon ein Kind zu Hause hatte, sagte: Nein, ich will ihn sehen, mit nach Hause nehmen.

So überlebte er schon von Anfang an.
Und sieht in allem fast Weggeworfenen das Heile.“

Helga Schubert lässt uns teilhaben an ihrem schon langen Leben, nimmt uns mit in ihre persönlichen Gedanken und Erlebnisse, neuere und ältere aus der ehemaligen DDR:
„Ich habe für mein Geschriebenes weder im Gefängnis gesessen noch eine Geldstrafe zahlen müssen.
Ich wollte dieses System nämlich nicht ändern, sondern ich wollte es überhaupt nicht haben.
Ich glaube, das hat mich geschützt.“

Sprachlich ist das Buch eindeutig herausragend, wie von Helga Schubert gewohnt. Aber inhaltlich hatte ich hier wohl etwas anderes erwartet. Mich konnte das Buch leider emotional nicht so stark berühren wie z.B. „Vom Aufstehen“, vielleicht war meine Erwartungshaltung so gesehen zu hoch.
Ich konnte bis auf ein paar Highlights also leider nicht so viel wie erhofft mitnehmen aus dieser Geschichtensammlung, weshalb ich schweren Herzens leider nur 3 Sterne vergebe.
Dennoch hoffe ich, bald wieder etwas von Helga Schubert lesen zu dürfen!

Herzlichen Dank an den dtv Verlag und Netgalley für das Rezensionsexemplar!

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Veröffentlicht am 01.12.2025

Wer könnte vergessen, schon einmal selbst über sich bestimmt zu haben?

Was vor uns liegt
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Rom im Jahr 1934. Acht junge Frauen leben und studieren gemeinsam am Grimaldi-Konvikt. Die Regeln der Nonnen sind streng. Obwohl alle Frauen aus unterschiedlichen Verhältnissen kommen, haben sie eines ...

Rom im Jahr 1934. Acht junge Frauen leben und studieren gemeinsam am Grimaldi-Konvikt. Die Regeln der Nonnen sind streng. Obwohl alle Frauen aus unterschiedlichen Verhältnissen kommen, haben sie eines gemeinsam: Den Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben und nach Freiheit.

"Wer einmal die Freiheit gekostet hat, kehrt nicht mehr nach Hause zurück, und sei es nur die harmlose Freiheit, mit den Kommilitoninnen auszugehen, Vorlesungen zu besuchen und das züchtige und sorglose Leben des Grimaldi zu führen. Auch um jung zu sein und zu lachen, musste man frei sein."

Anna, Augusta, Emanuela, Milly, Silvia, Vantina, Vinca und Xenia: Jede der Frauen hat eine eingene Geschichte, oftmals auch ein Geheimnis. Eine von ihnen hat ein Kind aus einer früheren Liebesaffäre, das sie geheimhalten muss. Eine andere besteht ihre Prüfung nicht. Jede hat ihre eigenen Sorgen und Nöte. Doch sie alle wissen, dass es ein Privileg ist, hier studieren zu dürfen; und dass ihre Freiheit ein Ende haben wird, wenn sie heiraten werden - dieser Weg schien für Frauen in den damaligen Zeiten für alle schon vorbestimmt zu sein. Manche von ihnen wollten heiraten, doch andere schienen die traditionellen Erwartungen zu hinterfragen:

".... du freust dich auf deine Hochzeit. Du heiratest. Aber hast du je daran gedacht, dass du danach nicht mehr Herrin über dich selbst sein wirst? Selbst wenn du allein bist, ist da immer ein anderer Mensch, ein fremder Wille, eine Macht, die über dich bestimmt. Du darfst nicht Eigenes behalten, nicht einmal deinen Namen, du wirst einzig und allein Signor Lanzianis Frau sein; der wiederum ein Anrecht darauf hat, alles über dich zu wissen: was du tust und was du denkst, und wenn du ihm etwas verheimlichst, ist das Betrug. Selbst deine Kinder werden ihm gehören. Du bringst sie zwar zur Welt, doch laut Gesetz darf er nach Belieben über sie verfügen.“

Die Zeiten sind nicht einfach für Frauen, die ein selbstbestimmtes Leben führen wollen:
"Selbst wenn wir zurückkehren, werden wir doch immer schlechte Töchter und schlechte Ehefrauen sein. Wer könnte vergessen, schon einmal selbst über sich bestimmt zu haben? Und für die Leute auf dem Land ist doch eine Frau, die allein gelebt hat, eine verlorene Frau."

Alba de Céspedes Roman „Was vor uns liegt“ wurde 1940, zwei Jahre nach seiner Veröffentlichung, von den faschistischen Behörden zensiert – noch ein Grund, weshalb ich mich über diese Neuübersetzung von Esther Hansen gefreut hatte.

„Was vor uns liegt“ ist ein leiser, langsamer Roman, der mir stellenweise etwas zu langatmig war; einige Charaktere blieben mir zu oberflächlich. Dennoch hat mir dieser feministische Klassiker insgesamt gut gefallen & ich vergebe 4 Sterne.

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Veröffentlicht am 29.11.2025

Berühmtheit hat einen Preis, und den zahlt man jeden Tag aufs Neue - 4,5 ⭐️

Der Rache Glanz
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„Der Rache Glanz“ von Maud Ventura erzählt die Geschichte von Cléo Louvant. Schon als Kind wollte sie nur eines: Berümht sein. Um jeden Preis.

„Es ist viel vom Impostersyndrom die Rede. Man bildet sich ...

„Der Rache Glanz“ von Maud Ventura erzählt die Geschichte von Cléo Louvant. Schon als Kind wollte sie nur eines: Berümht sein. Um jeden Preis.

„Es ist viel vom Impostersyndrom die Rede. Man bildet sich ein, seinen Erfolg nicht verdient zu haben, einfach nur Glück gehabt, sich durchgewurschtelt zu haben und einer Person, die kompetenter ist als man selbst, den Platz zu stehlen. Ich meinerseits leide unter der gegensätzlichen, nicht einzugestehenden Angst: Ich bin der Meinung, dass ich ein wahnsinniges Talent habe, und frage mich, wann das endlich die ganze Welt merkt. Für mich wäre es der Gipfel der Ungerechtigkeit, sollte mein Genie unbemerkt bleiben. Ich bin außergewöhnlich, aber ich fürchte, dass es mir nie vergönnt sein wird, es eindrucksvoll unter Beweis zu stellen.“

Cléo setzt alles daran, den durchschnittlichen Verhältnissen ihrer Pariser Kindheit zu entkommen. Sie arbeitet hart daran, um eine berühmte Sängerin zu sein, formt ihren Körper, arbeitet an ihren Songs und ihrer Stimme, perfektioniert ihren Karriereplan. In New York kommt dann der große Durchbruch

Hautnah erlebt man mit, was es bedeutet, berühmt zu sein: Den Ruhm, aber auch die Schattenseiten davon: „Öffentlich würde ich es niemals zugeben, aber ich bin erschöpft. Ich war bereit, alle Schlachten zu schlagen, um berühmt zu werden, habe mir aber nicht vorstellen können, was ich alles tun müsste, um es auch zu bleiben.“

Maud Ventura zeigt auf bissige und unterhaltsame Weise, wie das Musikbusiness funktioniert, wie die Musiker*innen möglichst gewinnbringend vermarktet werden, wie die Inszenierung auf den sozialen Medien läuft und wie hoch der Preis der Berühmtheit ist.
„Ein Bild kommt mir immer wieder in den Kopf: das einer Orange, die man auspresst. Ich werde bald nichts mehr zu geben haben. Sie zahlen mir viel, aber sie nehmen mir alles.“

„Ich habe mich wieder in die Hölle manövriert, habe alles geopfert, um wieder ins Zentrum einer Maschinerie zu gelangen, die ich unerträglich finde. Ich bin natürlich nicht der erste Mensch, der in die Falle eines zweischneidigen Traumes tappt. Viele Eltern wünschen sich aus ganzem Herzen ein Kind; am Ende schütteln genau diese Eltern ihr Baby so heftig, dass sie seinem Gehirn irreversible Schäden zufügen, weil sie es leid sind, sich selbst so weit entfremdet zu sein, und für so lange Zeit. Ich verstehe sie nur zu gut. Schauen Sie, bei mir ist es nicht bloß ein kleines einzelnes Wesen, sondern es sind Millionen, die die Arme nach mir ausstrecken, die um meine Liebe und jedes Fitzelchen meiner Aufmerksamkeit betteln.“

Die Protagonistin ist narzistisch, arrogant und alles andere als sympathisch. Sie ist besessen vom Ruhm, will immer mehr, nichts ist mehr genug: „Meine größten Siege bereiten mir nur noch eine flüchtige Freude. Sie haben schon bald keinen Effekt mehr. Ich brauche immer mehr davon, um dieselbe Wirkung zu spüren. Das Hochgefühl hält nicht an, niemals.“

„Der enorme Ruhm hat die Bestie in mir befreit, erbarmungslos und grausam. Ich kann es auch gleich offen sagen: Ich habe mir die Hände schmutzig gemacht. Auf meinem Level haben alle Leichen im Keller. Wer das Gegenteil behauptet, lügt. Der Ruhm ist eine Kriegsbeute – niemand ist je bereit, ihm den Rücken zu kehren.“

Das Buch ist wirklich ein Highlight, spannend und unterhaltsam. Maud Venturas Schreibstil ist herrlich bissig und pointiert, ein echtes Lesevergnügen - und das Ende ist ein Knaller!

Ich vergebe 4,5 Sterne ⭐️ und bedanke mich beim Hoffmann und Campe Verlag und an NetGalley für das Rezensionsexemplar! 📚💚

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Veröffentlicht am 28.11.2025

Liebe lässt sich nicht planen

This isn't happiness
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"This isn't happiness" von Mary Newnham ist wieder mal eine interessante Neuerscheinung des pola-Verlags. Erzählt wird Aus Amys Perspektive ihre Liebesgeschichte mit Josh. Seit 10 Jahren sind sie ein Paar, ...

"This isn't happiness" von Mary Newnham ist wieder mal eine interessante Neuerscheinung des pola-Verlags. Erzählt wird Aus Amys Perspektive ihre Liebesgeschichte mit Josh. Seit 10 Jahren sind sie ein Paar, schon seit einiger Zeit sind sie verlobt. Es gibt jedoch immer wieder Gründe, die Hochzeit noch zu verschieben. Erstmal wollen sie Geld sparen, für eine angemessene Feier bzw. fürs Eigenheim auf dem Land.
Doch irgendwann hat Josh’s Mutter genug und sie legt ungefragt einen Termin für die Trauung fest. Amy gerät in Panik: Nicht nur, dass sie jetzt innerhalb von 7 Wochen ein Brautkleid, eine Hochzeitstorte und vieles anderes organisieren muss – sie kann die Tatsache nicht länger verdrängen, dass ihr Liebesleben mit Josh komplett eingeschlafen ist.
Während die Strichliste der „aktlosen“ Nächte immer länger wird, überschlagen sich auch die Ereignisse an Amys Schule, an der Josh und sie beide als Lehrer*in arbeiten.

Ich muss sagen, dass ich das Buch etwa bis zur Hälfte so lala fand – ganz nett, aber mehr nicht. Doch dann bekam die Geschichte etwas mehr Schwung; zum einen durch das Auftauchen der charismatischen Lace und auch durch die Ereignisse an Amys Schule. Amy wurde mir immer sympathischer, aber auch Lace hat mich sehr begeistert.

Insgesamt fand ich Amy und Lace unheimlich stark als Charaktere. Der Schreibstil der Autorin hat mir sehr gut gefallen, und vor allem gegen Ende hin konnte mich die Geschichte immer mehr begeistern.
Ich vergebe 4/5 Sterne. ⭐️

Vielen Dank an den pola Verlag und an NetGalley für dieses Rezensionsexemplar! 📚💚

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Veröffentlicht am 27.11.2025

Ein Rädchen im System: Menschenwürde vs. Bemühungspflicht

Bemühungspflicht
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Manfred Gruber, der Protagonist in Sandra Weihs Roman "Bemühungspflicht", ist eine gescheiterte Existenz: Geschieden, nach einem Unfall nur sehr eingeschränkt arbeitsfähig, nach mehreren Aushilfsarbeiten ...

Manfred Gruber, der Protagonist in Sandra Weihs Roman "Bemühungspflicht", ist eine gescheiterte Existenz: Geschieden, nach einem Unfall nur sehr eingeschränkt arbeitsfähig, nach mehreren Aushilfsarbeiten und der Pflege seiner Mutter bis zu deren Tod lebt er von Sozialhilfe. Nur das Haus der Mutter ist ihm geblieben; die Kosten für Heizung und Strom muss er sich mühsam zusammensparen.
Gruber ist kein wirklich sympathischer Charakter, aber er kommt sehr ehrlich und authentisch rüber; eine der Stärken des Romans. Man kann sich sehr gut in seine Gedanken- und Gefühlswelt hineinversetzen.

„Von einem Vollzeitjob muss man leben können, steht unter ihrem übergroßen Gesicht. Du denkst, auch ohne Job müsste man leben können. Du weißt, solche Gedanken machen dich unbeliebt. Deine Gedanken zu denken, ist nicht immer leicht. Du würdest jedoch von jedem Menschen erwarten, solche Gedanken denken zu können. Du selbst kannst sie denken, du hast dich nicht vollständig manipulieren lassen vom System. Die Dummheit greift um sich, aber du hast dich nicht einlullen lassen, lässt dich nicht einlullen. Du kannst gegen den Mainstream denken, wie das heute heißt. Zum Beispiel kannst du dir die Frage stellen, warum Leben-Können und Arbeiten-Müssen gekoppelt sind. Auf die Welt kommst du doch als Mensch, nicht als zweckbestimmtes Arbeitstier oder als Automat, mit Ein- und Ausschaltknopf. Rein philosophisch fragst du dich, warum der Mensch in die Arbeit gehen muss, und du kennst die Antwort: Weil das System so funktioniert. Aber es hat dich keiner gefragt, ob du zu diesem System dazugehören willst. Du hast nichts unterschrieben, auch nicht diesen Gesellschaftsvertrag, den die immer anführen, um dir ein schlechtes Gewissen zu machen.“

Zu Beginn des Romans steht Gruber an der Supermarkt kasse und muss feststellen, dass die Sozialhilfe nicht rechtzeitig überwiesen wurde. Also macht er sich im strömenden Regen auf den Weg zum Amt, um die Lage zu klären. Immerhin hat er doch alle Auflagen erfüllt, Bewerbungen geschrieben, unbezahlte Probearbeitstermine absolviert, Bewerbungstrainings gemacht; er ist sicsh keiner Schuld bewusst. Doch die Worte seiner neuen Sachbearbeiterin sind der nächste Schock: „‘Außerdem zweifelt die Behörde an Ihrem Bemühen, die soziale Notlage überwinden zu wollen.‘ – ‚Wie bitte?‘ – ‚Wir glauben, Sie halten sich nicht an die Bemühungspflicht.‘“

Wer oberflächlich liest, könnte den Eindruck gewinnen, dass Gruber einfach nicht arbeiten will. ABER: Möchten wir uns so ausbeuten lassen beim kostenlosen Probearbeiten - in dem Wissen, dass wir den Job sowieso nicht bekommen? Möchten wir uns auf diese Art und Weise vom Sozialamt behandeln lassen? Möchten wir gezwugen sein, JEDEN Job annehmen zu müssen, ob wir wollen oder nicht?

„Dank Ihnen könnte ich zum anerkannten Menschen innerhalb unseres Gesellschaftsvertrags werden. Ich könnte kein Durchschummler mehr sein. Dass ich zu Ihnen komme, obwohl wir wissen, was wir wissen, das verlangt das Gesetz. Es verlangt Bemühen. Bemühungspflicht: so tun, als ob man Interesse hätte, einen Job zu bekommen, den man keinesfalls ausüben möchte.“

Durch die verschiedenen Perspektiven, aus Grubers Sicht sowie der seiner Sachbearbeiterin, seiner Nachbarn und seiner Bekannten Kristina ist der Roman sehr vielschichtig und vermittelt ein gutes gesamtgesellschaftliches Bild.

„Du liest dir das Dokument noch einmal durch. Dabei wird dir schlecht. Die Personalerin liest den Wisch sicher nicht durch. Sie sieht dein Foto auf dem Lebenslauf und legt die Bewerbung beiseite, weil du Falten hast und graues Haar. Du wirst schon wieder wütend. Diese ganze Scheißwelt macht dich wütend. Dir steht es bis zum Hals. Man sollte mal ehrlich sein. Die ganze Menschheit sollte ehrlicher sein. Sollen die Beamten dir die Wahrheit sagen: Du bist es nicht wert, wir wollen dich hier nicht, verschwinde von unserem Gebiet. Wir brauchen Leistungsträger, keine Leistungsempfänger, schleich dich! Und die Beraterinnen sollten sagen: Du bist zu dumm für diese Arbeit und zu behindert für die andere, am besten schließt du dich in deinem Haus ein und schaust, dass dich keiner dabei erwischt. Und die Personaler sollten sagen: Du bist zu alt und zu schwach, und niemand braucht dich, deine Arbeit macht eine Maschine besser, du hast in unserer Firma nichts zu suchen. Und du solltest auch endlich mal ehrlich sein. Aber damit würdest du dir nur selbst Steine in den Weg legen.“

Das Buch ist keine bequeme Lektüre, bietet aber definitiv sehr viel Stoff zum Nachdenken.
Die Gedanken und Ängste von Sozialhilfeempfänger*innen sind authentisch dargestellt, ebenso wie die fehlende Menschlichkeit in der Maschinerie der Sozialämter. Wie passen die Bemühungspflicht und die Würde des Menschen zusammen?

„Du unterscheidest dich nicht von anderen Langzeitarbeitslosen. Mit jedem Monat ohne Arbeit wird die Hoffnung, eine zu finden, geringer. Mit jedem Monat ohne Arbeit stellt sich langsam der Selbstschutz ein, indem sich die Leute einreden, sie wollten gar nicht arbeiten, um der ständigen Ablehnung etwas entgegensetzen zu können. Eine Art Restwürde ist dieses Trotzgefühl, das sie an den Tag legen. Und mit jedem Jahr mehr in diesem Gefangensein zwischen Trotz und Ablehnung am Arbeitsmarkt wird der Antrieb weniger, einen Job zu suchen. Der Alltag wird zum Trotz, es gibt keinen Veränderungswunsch mehr, denn jeder Wunsch wird enttäuscht. Arbeitslosigkeit und Armut sind zwei Faktoren, die Menschen umbringen können.“

„... bis sie glaubt, Erwerbsarbeit ist ihre Daseinsberechtigung, anstatt Mensch zu sein.“

Ein bissiger, vielschichtiger Roman, dem ich 4 Sterne vergebe.

Vielen Dank an die Frankfurter Verlagsanstalt und an NetGalley für das Rezensionsexemplar! 📚💚

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