Profilbild von dr_y_schauch

dr_y_schauch

Lesejury Profi
offline

dr_y_schauch ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit dr_y_schauch über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 22.12.2022

Zwischen Utopie und Dystopie

Die Markierung
0

„Stell dir eine Zukunft vor, in fünf Jahren, in zehn Jahren. […] Dann haben wir uns an ein Gesellschaftsbild gewöhnt, in dem Menschen wie Autos sind. Sie müssen einmal im Jahr zur Inspektion, damit man ...

„Stell dir eine Zukunft vor, in fünf Jahren, in zehn Jahren. […] Dann haben wir uns an ein Gesellschaftsbild gewöhnt, in dem Menschen wie Autos sind. Sie müssen einmal im Jahr zur Inspektion, damit man sie wieder gefahrlos in den Verkehr lassen kann. Wenn etwas kaputt geht, muss es repariert werden. So einfach ist das.“

Stell dir vor, du könntest den Charakter eines Menschen, seine moralische Integrität, kurz: ob er nach den gängigen gesellschaftlichen Maßstäben als „gut“ oder „böse“ zu gelten hat, einwandfrei auf den ersten Blick feststellen. Würde das den Umgang miteinander nicht vereinfachen, gar verbessern? Würde es deine gefühlte wie tatsächliche Sicherheit nicht maximieren? Würde es dich nicht vor unliebsamen Überraschungen, vor menschlichen Enttäuschungen und letztlich vor gewalttätigen Übergriffen, seien sie physisch oder psychisch, schützen? Wäre das nicht die ideale Lösung für ein friedfertiges, respektvolles Miteinander? Wäre das nicht der Schlüssel zu einer besseren Gesellschaft und damit, ja: zu einer besseren Welt? Vielleicht sogar der besten aller Welten?

Island in nicht allzu ferner Zukunft: Der so genannte Empathie-Test ermöglicht es frühzeitig, die charakterliche Festigkeit und moralische Vertrauenswürdigkeit einer Person festzustellen. „Frühzeitig“: Das heißt, bevor sich die potenziell negativen Eigenschaften manifestieren. Das heißt, im Kindesalter. Wer den Test besteht, erhält eine entsprechende „Markierung“, dessen soziales Fit-in ist über jeden Zweifel erhaben. Schon entstehen die ersten Wohnhäuser, Blocks, Siedlungen und Viertel, die nur nachweislich Markierten zugänglich sind. Wer durchfällt, wird in einem engmaschigen therapeutischen Netz aufgefangen, es soll ja grundsätzlich niemand zurückgelassen werden, nicht wahr. Ob in Schulen oder Unternehmen, allerorts greift die Aufforderung, sich markieren zu lassen, um sich.

Nun stehen Wahlen an, und das alles beherrschende Thema ist die Frage, ob die Markierungspflicht gesetzlich festgelegt werden sollte. Im Dienste der öffentlichen Sicherheit und damit zum Wohle der Bevölkerung. Wer sich widersetzt, kann nur etwas zu verbergen haben, … oder?

„Die Markierung“, der erste Roman der isländischen Lyrikerin Fríða Ísberg (aus dem Isländischen von Tina Flecken), hat mich von der ersten Zeile an in seinen Bann gezogen. Sprachlich ebenso gewandt wie leichtfüßig entwirft die Autorin eine Gesellschaft, die scheinbar das Patentrezept für alle sozialen Probleme gefunden hat, indem sie sich „rechtzeitig“ deren Wurzeln annimmt: der Menschen. Dabei verzichtet sie dankenswerterweise auf einen plakativen Richtig-oder-falsch-Kontrast, sondern wägt subtil das persönliche wie gemeinschaftliche Bedürfnis nach Sicherheit und Absicherung gegen den individuellen Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung ab: eine literarische Kosten-Nutzen-Analyse des menschlichen Kollektivs, in der die Grenze zwischen Utopie und Dystopie erschreckend durchlässig ist. Große Leseempfehlung!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 22.12.2022

Ein gelungenes Thrillerdebüt

Die Assistentin
0

Nein, so hatte Florence sich ihre „Karriere“ nicht vorgestellt. Eigentlich wollte sie in New York als Autorin groß rauskommen, also so richtig groß. Und der Einstiegsjob als Lektoratsassistentin bei einem ...

Nein, so hatte Florence sich ihre „Karriere“ nicht vorgestellt. Eigentlich wollte sie in New York als Autorin groß rauskommen, also so richtig groß. Und der Einstiegsjob als Lektoratsassistentin bei einem renommierten Verlag schien zumindest nicht der schlechteste Einstieg zu sein: erst berühmte Autor*innen betreuen und anschließend – bald, ganz bald – mit ihrem Erstlingsroman selbst in die Riege der Literaturstars aufsteigen.
Stattdessen ist ihr Berufsalltag denkbar öde und unbefriedigend, die poetische Kreativität stockt und irgendwie scheinen alle um sie herum so viel weltläufiger, belesener, gebildeter als sie selbst zu sein.
Gerade als Florence meint, den Tiefpunkt erreicht zu haben, erhält sie ein unverhofftes Angebot: Sie soll als persönliche Assistentin die geheimnisumwitterte Autorin Maud Dixon unterstützen. Außer deren Lektorin hat kein Mensch sie je zu Gesicht bekommen, niemand weiß, wie sie aussieht, wo sie lebt und welche Person sich hinter dem Pseudonym verbirgt. Für Florence ist klar: Das ist ihre große Chance!
Als Maud, deren Leben so anders ist als ihr eigenes – so stilvoll! So erstrebenswert! –, sie auch noch auffordert, sie auf eine Recherchereise nach Marokko zu begleiten, wähnt Florence sich im Paradies auf Erden. Doch dann erwacht Florence mit Erinnerungslücken an die vergangene Nacht allein im Krankenhaus, von Maud keine Spur. Zurück in ihrer Unterkunft, findet sie Mauds angefangenes Manuskript. Und das stellt alles, was sie zuvor mit Maud erlebt zu haben glaubt, in einem völlig anderen – und vor allem gefährlichen – Licht dar. Und in Florence reift ein ungeheuerlicher Plan, wie sie ihr eigenes Leben radikal zu ihrem Vorteil ändern kann …
Ich kann es nicht anders sagen: Mit „Die Assistentin“ (aus dem Amerikanischen von Regina Rawlinson) hat Alexandra Andrews ein fulminantes Thrillerdebüt vorgelegt. Mit Florence und Maud entwirft die Autorin zwei weibliche Hauptfiguren, die sich auf bemerkenswerte Weise der genretypischen klaren Klassifizierung in Protagonistin und Antagonistin entziehen. (Mal ehrlich: Je besser man die beiden kennenlernt, umso weniger würde man mit ihnen zu tun haben wollen.) Ebenso genreuntypisch und deswegen unbedingt erwähnenswert sind der ausnehmend fesselnde Schreibstil und die stellenweise beinahe philosophische Tiefe, mit der sich die Autorin der jeweiligen Identität, deren Formung und Entwicklung, der beiden unterschiedlichen (?) Frauen widmet.

Dazu faszinierende Schauplätze, überraschende Wendungen und eine verblüffende Auflösung – mehr kann man von einem gelungenen Psychothriller kaum erwarten. Große Leseempfehlung vor allem (aber nicht nur) für buchbegeisterte Thrillerfans.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 18.11.2022

Zwischen Empfindsamkeit und Düsternis

Die Spur der Luchse
0

Ein bezaubernder Spätsommer in Småland: Die Temperaturen sind außergewöhnlich mild, die Bäume leuchten in den prächtigsten Farben, die Idylle könnte größer nicht sein, wenn – ja, wenn der verzaubert anmutende ...

Ein bezaubernder Spätsommer in Småland: Die Temperaturen sind außergewöhnlich mild, die Bäume leuchten in den prächtigsten Farben, die Idylle könnte größer nicht sein, wenn – ja, wenn der verzaubert anmutende Wald nicht Schauplatz einer großangelegten Protestaktion wäre. Junge Aktivisten protestieren gegen die mögliche Rodung des Naturschutzgebiets, die Lage ist nicht nur angespannt, sondern geradezu explosiv.

In dieser politisch aufgeladenen Situation erreicht die Polizei Växjö ein dramatischer Notruf: Eine Lehrerin des nahegelegenen exklusiven Internats meldet einen Kollegen und vier Schüler*innen als vermisst; alle verschwanden spurlos während einer Exkursion in eben diesem Wald. Bei der fieberhaften Suche stößt man auf eine der Schülerinnen, nicht ansprechbar und offenbar schwer traumatisiert. Bei diesem einen Fund soll es nicht bleiben …
Vor genau einem Jahr habe ich den Vorgängerband „Roter Raum“ der Schwedenkrimi-Reihe um die Kommissarinnen Ingrid Nyström und Stina Forss gelesen. Schon da faszinierten mich die bestrickende Atmosphäre und die Vielschichtigkeit des Romans. Dieser Band steht seinem Vorgänger in nichts nach: Der Fall nimmt sowohl in menschlicher als auch in gesellschaftlich-politischer Hinsicht ungeahnte Dimensionen an; desgleichen wird den beiden Protagonistinnen erneut der nötige Raum für ihre unterschiedlichen Charaktere, ihre Stärken und vor allem auch Schwächen geboten, was den Hauptfiguren eine unverwechselbare Tiefe verleiht. Überdies gelingt dem Autorenduo erneut der fragile Spagat zwischen Empfindsamkeit und Düsternis.

Kurzum: Nicht nur dieser Band, sondern die gesamte Reihe gehören für mich zu den gelungensten Skandinavienkrimis, die der deutsche Buchmarkt derzeit bereithält. Große Leseempfehlung!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 18.11.2022

Eine insgesamt gelungene Fortsetzung der Reihe

Was ich euch verschweige
0

So hat Detective Chief Inspector Jonah Sheens sich seinen Nachmittag wahrlich nicht vorgestellt: Als er mit seiner kleinen Tochter die ungewöhnlich warme Septembersonne in einem Biergarten genießt, wird ...

So hat Detective Chief Inspector Jonah Sheens sich seinen Nachmittag wahrlich nicht vorgestellt: Als er mit seiner kleinen Tochter die ungewöhnlich warme Septembersonne in einem Biergarten genießt, wird er unvermutet zum Protagonisten einer höchst besorgniserregenden Szene: Eine junge Frau taumelt ihm entgegen, langes, leuchtend rotes Haar, blasses Gesicht, Hände, Arme und T-Shirt über und über mit Blut verschmiert. Doch irritierenderweise wirkt Keely Lennox, so stellt sie sich vor, desungeachtet ziemlich gelassen, wenn nicht sogar amüsiert. Ihre Schwester Nina sei verschwunden, teilt sie ihm mit. Sheens ist beunruhigt – und stellt sich gleichzeitig die Frage, inwieweit Keely an diesem „Verschwunden“ beteiligt sein mag. Ist sie eine Zeugin? Selbst ein Opfer? Oder gar – die Täterin?

Keely erklärt sich bereit, alle seine Fragen zu beantworten. Aber erst, nachdem sie ihre Geschichte erzählt. Nach und nach enthüllt sie Sheene immer verstörender werdende Details ihrer Vergangenheit. Doch sagt sie auch die Wahrheit? Derweil bleiben Ninas Aufenthaltsort und Zustand trotz der fieberhaften Ermittlungen seines Teams ungewiss. Und die Zeit verrinnt …

„Was ich euch verschweige“ (aus dem Englischen von Kristian Lutze) ist der nunmehr vierte Band der „Detective Chief Inspector Sheens ermittelt“-Reihe (allerdings lassen sich die Bände relativ problemlos unabhängig voneinander lesen). Wieder gelingt es Gytha Lodge, die Spannung kontinuierlich aufzubauen und die Story mit immer neuen Wendungen in eine unvermutete Richtung zu lenken. Das ist vor allem der Figur der Keely zu verdanken, deren Undurchsichtigkeit und Widersprüchlichkeit die gesamte Handlung trägt.

Mein einziger Wermutstropfen war die für mich etwas verworrene Auflösung in Verbindung mit einem letztlich doch recht banalen Ende. Nichtsdestotrotz bietet „Was ich euch verschweige“ über den Großteil der Lektüre hinweg spannende und kurzweilige Krimiunterhaltung!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 04.11.2022

Wie eine literarisch gelungene "Royals"-Sonderbeilage

Sisi
0

Zum Frühstück eine Brühe aus Rindfleisch, Huhn, Reh und Rebhuhn – ohne einen einzigen Fetzen Fleisch, nur die klare Brühe! – und danach zwei Gläser Wein. Zum Diner, wenn es sich denn partout nicht vermeiden ...

Zum Frühstück eine Brühe aus Rindfleisch, Huhn, Reh und Rebhuhn – ohne einen einzigen Fetzen Fleisch, nur die klare Brühe! – und danach zwei Gläser Wein. Zum Diner, wenn es sich denn partout nicht vermeiden lässt, etwas kleine Blutiges, etwas knirschendes Grünes, nicht mehr, als auf zwei Gabeln passt. Wenn während der Coiffure auch nur ein einziges Haar zu viel ausgekämmt wird, setzt es Ohrfeigen. Für die Friseurmeisterin, verabreicht von Ihro Majestät höchstpersönlich. Ansonsten: reisen, Geld ausgeben, sich huldigen lassen und immer wieder jagen, jagen, jagen, je wilder, desto besser.

Nein, diese Sisi hat wahrlich nichts von der Zuckrigkeit eines Ernst-Marischka-Films und dem Liebreiz einer Romy Schneider. Stattdessen wird hier eine einzig um sich selbst kreisende, von ihrem Haar und ihrer Schönheit besessene Egomanin porträtiert, in deren Herz allenfalls ihre Lieblingstochter Valerie noch einen Platz findet. Oder …? Oder präsentiert Karen Duve einen rebellischen Freigeist, eine Libertine, die das lähmende Korsett des rigorosen spanischen Hofzeremoniells am Wiener Hof abwirft (wenngleich nicht jenes, das ihre Taille zu legendärer Schmalheit zusammenschnürt) und tut, was ihr beliebt? Eine Frau, die unbeirrt ihren Weg geht und sich nimmt, was sie will und was sie braucht?

Wie auch immer man diese Sisi nach der Lektüre betrachtet, es ist mit großer Sicherheit ein neuer Blick, den man auf dieses ätherisch anmutende Geschöpf von einer Monarchin gewinnt. Ich habe das Buch mit großem – und ein wenig schuldbewusstem – Genuss gelesen (auch wenn die zahlreichen und ausführlichen Jagdpassagen nach meinem Geschmack gerne hätten gekürzt werden dürfen): als läse man eine umfangreiche, ausführliche Sonderbeilage eines Boulevardmagazins –gleichwohl eine sprachlich elegante und penibel recherchierte. Ein literarisch überzeugendes und gleichzeitig unterhaltsames guilty pleasure.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere