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Veröffentlicht am 29.04.2025

Zurück nach Deutschland, zwei Generationen später

Deutschstunden
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Vielleicht hätte sich Pippa Goldschmidt ohne den Brexit nicht zu diesem Schritt entschlossen - die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen, zusammen mit ihrem Vater, der - wie sie später in ihrem Buch ...

Vielleicht hätte sich Pippa Goldschmidt ohne den Brexit nicht zu diesem Schritt entschlossen - die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen, zusammen mit ihrem Vater, der - wie sie später in ihrem Buch "Deutschstunden" andeutet - davon zunächst gar nicht begeistert war. Ein Recht auf einen deutschen Pass, ohne Einbürgerungstest und Sprachnachweis, hatte sie aufgrund ihrer Familiengeschichte: Großvater Ernst war als junger Mann in den 1930-er Jahren aus seiner Heimatstadt Frankfurt nach Großbritannien emigriert. Der Jurist, der im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft hatte, wusste, dass er als Jude im nationalsozialistischen Deutschland nicht mehr sicher war. Seine Mutter würde ihm später folgen, gerade noch rechtzeitig.

Pippa Goldschmidt hatte ihren Großvater nie kennengelernt, er war vor ihrer Geburt gestorben. Ihre Großmutter, die aus ihrer Geburtsstadt Wien vor den Nazis nach Großbritannien geflüchtet war, hatte nie von ihren Erfahrungen und dem Schicksal ihrer Familie berichtet. Goldschmidt macht sich zwei Generationen nach der Flucht ihrer Großeltern auf Spurensuche in Frankfurt und Offenbach. Es ist eine vorsichtige Annäherung, mit Besuchen in Archiven und an den alten Wohnorten. Über das Archiv von Yad Vashem erhält sie Aufschluss über das Schicksal ihrer Wiener Urgroßeltern: Ermordet in Auschwitz. Nicht die besten Voraussetzungen, um in der neuen Heimat heimisch zu werden.

Es ist die Zeit der Pandemie, des Lockdowns in einer winzigen Wohnung, in der Goldschmidt und ihr Partner in den ersten Monaten leben. Das trägt vermutlich zum Gefühl der Beklemmung noch weiter bei. Goldschmidt ist Astronomin, und sie nähert sich ihrem Thema mit der sachlichen Suche und präzisen Sprache einer Naturwissenschaftlerin. Zugleich ist es eine zutiefst persönliche Geschichte, die sie erzählt - ihre eigene, aber auch die ihrer Großeltern. Dabei nähert sie sich dem nie gekannten Großvater an, versucht, sich seine Gedanken und Gefühle vorzustellen.

Zugleich zeichnet "Deutschstunden" den Bogen von der individuellen Familiengeschichte zu Antisemitismus auch vor dem Dritten Reich, zur Verdrängung und den Lügen der deutschen Nachkriegsgesellschaft, etwa über die 1938 "arisierten" jüdischen Geschäfte und Unternehmen. Gleichzeitig beobachtet sie die Versuche von Aufarbeitung und Erinnerung, etwa durch Stolpersteine.

"Deutschstunden" macht nachdenklich und öffnet den Blick für eine andere Perspektive und Erfahrung deutscher Geschichte. Goldschmidt nachdenkliche und reflektierte Annäherung an den unbekannten Großvater berührt.

Veröffentlicht am 28.04.2025

Spionin in der Landkommune

See der Schöpfung
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Sadie Smith, die Protagonistin in Rachel Kushners ungewöhnlichem Spionageroman "See der Schöpfung", heißt eigentlich ganz anders - aber Namen sind für die Ich-Erzählerin so eine Sache. Sie schlüpft scheinbar ...

Sadie Smith, die Protagonistin in Rachel Kushners ungewöhnlichem Spionageroman "See der Schöpfung", heißt eigentlich ganz anders - aber Namen sind für die Ich-Erzählerin so eine Sache. Sie schlüpft scheinbar mühelos in neue Identitäten, die sie über Monate aufrechterhält, in ein erfundenes Leben eintaucht. Früher für die CIA, mittlerweile für private Auftraggeber. Anders als James Bond hat sie keine Lizenz zum Töten, sondern verlässt sich eher auf die Waffen einer Frau, insbesondere ihre beachtlichen, wenn auch nicht ganz echten Brüste. Und statt Martini bevorzugt sie französische Weine.

Ihr neuer Auftrag führt Sadie auch nicht in den internationalen Jet-Set, in dem sich 007 bewegt, sondern in eine französische Landkommune. Die Annäherung war lang und konspirativ, auch etwas, was in einem James Bond-Film nie vorkommt: Die angebliche Langzeit-Literaturstudentin hat ein Verhältnis mit Lucien begonnen, einem Regisseur aus großbürgerlicher Pariser Familie. Lucien glaubt selbstverständlich, dass die Initiative von ihm ausging und er eine schüchterne US-Studentin erfolgreich verführt hat. Dabei ist er nur Mittel zum Zweck, denn sein Kindheitsfreund Pascal in der Anführer einer Aussteigerkommune auf dem Land. Sadies Auftraggeber glauben. die Mitglieder radikalisierten sich zunehmends, unter Einfluss des Ex-Revolutionärs Bruno, der mit den Kommunarden per Email kommuniziert, ansonsten aber eine buchstäblich verborgene Gestalt ist.

Klar, dass Sadie bei dem Austausch schon lange mitliest. Sie weiß, Bruno lebt in einer Höhle. Er verwundert und fasziniert sie mit seinen langen Erörterungen über die Neanderthaler, in denen er die besseren Menschen sieht. Zurück in die Höhle als Lebensmotto? Und was hat das alles mit dem - möglicherweise gewalttätigen - Widerstand gegen die Agrarindustrie zu tun, die die herkömmliche Lebensweise der Kleinbauern mit Monokultur und dem Bau von Megawasserbecken zu zerstören droht?

Es sind vor allem Sadies Beobachtungen und geistige Monologe - scharfsinnig, zynisch und nicht ohne Humor, die Kushners Roman so lesenswert machen. Sadie mag zwar keine ausgewiesene Feministin sein, seziert aber gnadenlos Geschlechterrollen und Dynamiken toxischer Männlichkeit, die in Aussteigerkreisen ebenso funktionieren wie bei großbürgerlichen Alphamännchen.

Als Agentin Provokateur soll Sadie für Eskalation sorgen und zugleich eine Enttarnung als Spitzel vermeiden - eine durchaus herausfordernde Aufgabe. Vor allem, da Brunos Zivilisationskritik auch sie zum Nachdenken anregt. Der Spagat zwischen skrupelloser Spionin und reflektierter Beobachterin sind gepaart mit einer oft ziselierten Sprache. Dabei kommt auch die Spannung nicht zu kurz. Kein klassischer Spionageroman, sondern deutlich faszinierender. "See der Schöpfung" wurde verdient für den Booker-Preis nominiert.

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Veröffentlicht am 24.04.2025

Exzentrische Südstaaten-Ladies auf der Spur von Autodieben

Vollgas und Verbrechen
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Nachdem ich im vergangenen Jahr eher zufällig auf den ersten Band der "Miss Fortune"-Reihe von Jana de Leon gestoßen bin, war mir klar, dass "Vollgas und Verbrechen" als einer der Folgebände ein Lese-Muss ...

Nachdem ich im vergangenen Jahr eher zufällig auf den ersten Band der "Miss Fortune"-Reihe von Jana de Leon gestoßen bin, war mir klar, dass "Vollgas und Verbrechen" als einer der Folgebände ein Lese-Muss ist. Man muss die Vorgeschichte der schrägen Reihe aus einer Kleinstadt in Louisiana nicht kennen, um in die Handlung reinzukommen. CIA-Agentin Fortune musste abtauchen, solange ein von ihr enttarnter Waffenhändler weiter auf freiem Fuß ist und mit Auftragskillern nach ihr suchen lässt. Dass sie dazu die Rolle einer Ex-Schönheitskönigin und Bibliothekarin in einer Kleinstadt annehmen muss, in der die Zeit in den 1950-er Jahren stehen geblieben ist - damit haderte die toughe Agentin im ersten Band gewaltig.

"Vollgas und Verbrechen" ist bereits Abenteuer Nummer zehn von Fortune und ihren Freundinnen Ida Belle und Gertie, die einerseits dem Klischee alter Südstaaten-Ladies entsprechen, andererseits aber eine abenteuerliche Vergangenheit und mancherlei geheime Talente haben. Der neue Fall des schrägen Trios ist persönlich, denn jemand hat versucht, Hot Rod umzubringen. Der Name klingt zwar nach Porno-Darsteller mit entsprechender Ausstattung, es handelt sich jedoch um einen Autohändler und -mechaniker mit gewissermaßen magischen Händen, der auch Ida Belles schwarzen SUV so getunt hat, dass sie im Geschwindigkeitsrausch durch den Bayou rasen kann.

Auf schwarze SUVs scheinen es auch der oder die Täter abgesehen zu haben. Ist Ida Belle in Gefahr? Und warum sind nur schwarze SUVs im Visier der Täter? Mit Hilfe eines befreundeten Mobsters gehen die drei Hobby-Ermittlerinnen Hinweisen nach und stoßen auf eine Spur, die sie mit gewohnt unorthodoxen Mitteln verfolgen.

"Vollgas und Verbrechen" ist ein ebenso rasanter wie amüsanter Cozy-Krimi, der vor allem durch die Exzentrik der Protagonistinnen besticht. Herrlich überzogen und daher gar nicht erst den Anspruch erhebend, irgendwelche Realitäten abbilden zu wollen, ist "Vollgas und Verbrechen" unterhaltend und dabei durchaus auch spannend.

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Veröffentlicht am 23.04.2025

Frühlingsgefühle und tödlicher Hass

Weit draußen in Alaska
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Schnee und Eis zum Trotz macht sich der Frühling in Alaska bemerkbar - und zumindest Kate Shugaks Wolfshündin Mutt ist voller Frühlingsgefühle, während sie vor der Blockhütte von einem Timberwolf sehnsuchtsvoll ...

Schnee und Eis zum Trotz macht sich der Frühling in Alaska bemerkbar - und zumindest Kate Shugaks Wolfshündin Mutt ist voller Frühlingsgefühle, während sie vor der Blockhütte von einem Timberwolf sehnsuchtsvoll umworben wird. Da Kate sich besseres vorstellen kann als einen Wurf quirliger Welpen, versucht sie, die tierische Romanze konsequent zu unterbinden. Wobei Kate, die toughe Teilzeitermittlerin im hohen Norden Alaskas, bei aller Bindungsscheu männlicher Aufmerksamkeit durchaus aufgeschlossen gegenübersteht.

In "Weit draußen in Alaska" von Dana Stabenow ist für Romantik allerdings wenig Raum, denn gleich zu Beginn des Arktis-Krimis kommt es zu einem Blutbad, als ein Amokläufer im Örtchen Niniltna auf Menschenjagd geht. Über den Täter muss nicht lange gerätselt werden, seine Taten sind nur der dramatische Auftakt des Buches. Das eigentliche Rätsel, dem Kate im Auftrag der örtlichen Staatsanwalt nachgehen soll, ist der Tod einer jungen Frau, die zunächst ebenfalls als Opfer des Amokläufers galt. Bis die Obduktion dann den Beweis liefert, dass sie aus einer anderen Waffe erschossen wurde.

Kates Ermittlungen werden nicht zuletzt dadurch erschwert, dass es ein regelrechtes Überangebot an Menschen mit Tatmotiv gibt. Die Tote betrieb, wie sich herausstellt, einen schwunghaften Rauschgifthandel und wilderte, was ihr vors Gewehr kam. Wilderei gab es auch im privaten Bereich, denn wenn es um Männer ging, setzte die erschossene Frau auf reichlich Abwechslung, so dass es scheint, als habe so ziemlich jede Frau ein Niniltni Grund, sich über den gewaltsamen Tod zu freuen.

Einmal mehr machen vor allem die spröde Einzelgängerin Shugak, die eindrucksvolle Landschaft Alaskas und die kleine Gemeinde von Indigenen und Zugereisten den besonderen Reiz von Stabenows Spannungsroman aus. Die Autorin lockt auf manche vielversprechende Fährte, um dann in einem packenden Finale zu zeigen, welche Dynamik den tödlichen Schüssen tatsächlich zugrunde lag.

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Veröffentlicht am 23.04.2025

Weltgeschichte im Schnelldurchlauf

Die Geschichte der Welt
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Bücher über historische Ereignisse füllen oft und locker hunderte von Buchseiten - um so erstaunlicher ist es, dass "Die Geschichte der Welt" von Volker Reinhardt gerade einmal 144 Seiten umfasst. Also ...

Bücher über historische Ereignisse füllen oft und locker hunderte von Buchseiten - um so erstaunlicher ist es, dass "Die Geschichte der Welt" von Volker Reinhardt gerade einmal 144 Seiten umfasst. Also denkbar knapp für einen globalen Ansatz. Das Buch ist denn auch Weltgeschichte im Schnelldurchlauf für interessierte Laien, die weg von eurozentristischen Blickwinkel wollen.

Reinhardt vergleicht geografische und kulturelle Räume, rückt auch asiatische und südamerikanische Entwicklungen in den Mittelpunkt. Der globale Ansatz zeigt sich auch beim Blick auf Afrika, vom europäischen Blick häufig vernachlässigt und erst mit der Neuzeit durch Sklavenhandel, Entdeckungsreisen und Kolonialismus in die Aufmerksamkeit rückend.

Dass der Autor nicht ins Detail gehen kann, sondern eher Entwicklungen grob skizziert, ist angesichts der umfassenden Thematik leicht verständlich. Anregungen zum Nachdenken und vertiefenden Weiterlesen gibt es dennoch. Reinhardts Buch ist sowohl eine Geschichte der Globalisierung als auch paralleler, oft gegensätzlicher Entwicklungen von Staatlichkeit, Wirtschaft und Handel - bis hin zu den Wertediskussionen und Polarisierungen der Gegenwart.