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Veröffentlicht am 12.10.2021

Büdchenliebe

Das Karlgeheimnis
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Was ein Schlamassel. Die fiese Bertram, Emils Klassenlehrerin, hat sein supergeheimes Notizbuch einkassiert. Seine Mutter macht Überstunden an der Supermarktkasse. Ein neues Mädchen hat mit ihrer Vorwitzigkeit ...

Was ein Schlamassel. Die fiese Bertram, Emils Klassenlehrerin, hat sein supergeheimes Notizbuch einkassiert. Seine Mutter macht Überstunden an der Supermarktkasse. Ein neues Mädchen hat mit ihrer Vorwitzigkeit seine Krimiidee zunichte gemacht. Und jetzt ist auch noch Karl verschwunden – der Besitzer des Büdchens nahe Emils Wohnung und so eine Art väterlicher Freund seit, ja … seit.

Das Karlgeheimnis ist eine mal lustige, mal tieftraurige Kinderdetektivgeschichte. Emil ist mit seiner Mutter in eine neue Wohnung gezogen, seit sein Vater nicht mehr da ist. Warum deutet sich erst an und wird dann Realität, er ist nach langer Krankheit verstorben. So richtig viel Zeit und Gelegenheit zum gemeinsamen Trauern hatten Emil und seine Mutter nicht, eine Sache, die eine gewisse Melancholie in dieses Buch bringt, vielleicht aber auch nicht ganz ausgereizt, ganz rund abgeschlossen wird. Der einzige Kritikpunkt an Jutta Wilkes Geschichte.

Denn das Karlgeheimnis macht selbst erwachsenen Lesern richtig Spaß. Der kleine Emil will einen Krimi schreiben und findet sich plötzlich selbst in einem Kriminalfall wieder. Er beschreibt – ja, das Buch ist aus seiner Sicht geschrieben – all die Leute rund um Karls Büdchen mit einem charmanten Augenzwinkern, ob es die dicke Nachbarin mit ihrem Hund ist, Lotto-Werner mit seinem immergleichen Anzug oder die drei Jungs von der Müllabfuhr. Und Finja. Das neue Mädchen, das eigentlich gar nicht so neu im Viertel ist und Karl vom Büdchen schon länger kennt als Emil selbst.

Sie hilft Emil erst bei den kleineren – und für einen Jungen wie Emil schon groß genug gewordenen – Problemen, wie der Finanzierung der nahenden Klassenfahrt und dem einkassierten Notizbuch mit Emils Krimi. Und dann bei der Frage, wohin der gute Karl wohl verschwunden ist, was Darth Vader und eine Kisten Überraschungseier damit zu tun haben.

Eine charmante Detektivgeschichte in bester Erich Kästner-Manier, die nur manchmal einen Schritt hätte weitergehen können. Aber so bleibt auch Potenzial für mögliche Nachfolgebücher – denn die Geschichte von Emil und Finja ist sicher noch nicht auserzählt.

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Veröffentlicht am 12.10.2021

Das Glück der Erde

Arno und sein Pferd
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Arnos größtes Glück ist ein kleines Holzpferdchen. Doch plötzlich ist es verschwunden. Der kleine Junge erinnert sich, wohin er es überall mitgenommen hat und erlebt in seinen Gedanken den großen Sommer, ...

Arnos größtes Glück ist ein kleines Holzpferdchen. Doch plötzlich ist es verschwunden. Der kleine Junge erinnert sich, wohin er es überall mitgenommen hat und erlebt in seinen Gedanken den großen Sommer, der gerade hinter ihm liegt.

Lange Autofahrten durch das australische Outback. Planschen in einem Fluss. Abenteuer vom Ausguck des Baumhauses oder des Riesenbaums am Spielplatz. Doch das Pferdchen bleibt verschwunden.

Und so beginnt der zweite Teil des Buchs. Der die Herkunft des kleinen Tieres erzählt. Und die Geschichte von Arnos Opa. Einst ein starker Cowboy, später ein graugewordener Mann mit einem Messer und einem Stück Holz, aus dem ein Pferdchen werden sollte. Arnos Pferd. Das immer bei ihm bleiben sollte. Auch, als Arnos Opa endgültig weiterreiten musste.

Jane Godwin erzählt die Episoden aus Arnos Sommer und dem Leben seines Opas in kurzen, ruhigen Vierzeilern, die von Kathrin Köller ins Deutsche übersetzt wurden. Von der schönen gemeinsamen Zeit und von den Träumen, in den der Großvater nicht mehr traurig, krank, dement ist. Träume, in denen Arnos Opa noch lebt. Und die ihm helfen, das Glück dieser Erde, seiner Erde, wiederzufinden.

Viele eigene Erfahrungen der Autorin sind in das Kinderbuch, das von den schönen Erlebnissen der Kinder im Sommer und von der Trauer um einen nahen Verwandten handelt, eingeflossen. Von Kindern, die sie betreut hat. Von ihrem Cousin, der als Kind immer kleine Spielzeugautos mit auf Reisen genommen und dort verloren hat. Von ihrem Vater, der kurz zuvor verstorben ist.

Richtig intensiv wird die Geschichte durch den Illustrationsstil von Filicita Sala, der mit weichen Zeichnungen die farbenfrohe Natur Nordaustraliens einfängt, die Emotionen der Kinder mal deutlich zeigt und dann wieder in den Hintergrund rücken lässt und durch den Arnos Großvater wieder lebendig wird, bis er in die bunte dunkle Nacht hinausreitet.

Arno und sein Pferd ist ein großartiges Buch über vergangene Erlebnisse, das schon Kinder ab 3 Jahren hervorragend mitnimmt. Und das auch in der Traurigkeit über einen vergangenen Sommer und vor allem in der Trauer um einen geliebten Menschen das herausstellt, was wirklich zählt und den Kleinen hoffnungsvoll begreifbar macht: Die schönen, gemeinsamen Erinnerungen sind das wahre Glück der Erde.

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Veröffentlicht am 12.10.2021

Hard Knock Life

Die Hebamme
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Norwegen im 19. Jahrhundert. Das Leben der Menschen im Nordwesten ist karg. Das Erntewetter entscheidet, wie gut sie über den Winter kommen. Der Napoleonische Krieg reißt Familien auseinander und prägt ...

Norwegen im 19. Jahrhundert. Das Leben der Menschen im Nordwesten ist karg. Das Erntewetter entscheidet, wie gut sie über den Winter kommen. Der Napoleonische Krieg reißt Familien auseinander und prägt die überlebenden Soldaten bis zum Tod. Kinder kommen ohne Geburtshilfe zur Welt, nicht alle schaffen es, auch nicht alle Mütter. Doch es gibt Hoffnung. Hebammenschulen in Molde und Oslo, das damals noch Christiania hieß. Und junge Frauen, die diesen Beruf erlernen wollen – gegen alle Widrigkeiten.

Edvard Hoem zeichnet in „Die Hebamme“ das Leben seiner Ururgroßmutter nach. Einträge in Staats- und Reichsarchiven, in Kirchen- und Amtsbüchern sind die Grundlage des Romans, der mehr eine Chronik von Nesjestrand und dem Leben von Marta Kristine Andersdotter Flovik ist, eine fiktionale Geschichte anhand von echten Geschehnissen und Menschen, von denen, so schreibt Hoem selbst, niemand mehr weiß, wer sie waren.

Marta Kristine, auch Stina genannt, wuchs als Tochter der Dorfschuhmachers auf. Sie hatte ein enges Vertrauensverhältnis zum örtlichen Pfarrer, der immer ein offenes Ohr für sie hatte, auch, als sie unverheiratet schwanger wird, von einem Mann, der nicht der ist, den sie liebt. Der Pfarrer ist es, der sie auf die Hebammenschule aufmerksam macht, ihr ein Lehrbuch bestellt und ihr eine Ausbildung bei der Hebammenschule im nahen Molde verschafft.

Den Mann, den sie liebt, ihr alter Schulfreund Hans, lässt sie erst zappeln, bereut es dann, flüchtet sich in den Gedanken, dass dieser sie aufgegeben habe, und heiratet ihn dann doch, als dieser gebrochen, aber gesund aus dem Krieg zurückkehrt und seinen Antrag erneuert, den er ihr schon zu Schulzeiten gab. Sie bekommen Kinder, sie ziehen in ein größeres Haus, doch sie werden immer wieder von Schicksalsschlägen erwischt. Zwei ihrer Kinder sterben viel zu früh. Hans macht mehr und mehr Schulden. Der Schatten des Krieges wird ihn nie verlassen.

Und die Menschen in der Region, die verpflichtet sind, eine Hebamme zur Geburt zu bestellen, begehren dagegen auf und sehen in Stina keine richtige Hebamme, sie habe nicht die richtige Schule in Christiania besucht. Also macht sie sich auf, trotz der Kinder zuhause, um die sich Hans und ihre älteste Tochter kümmern, und zieht zu Fuß 600 Kilometer von Nesjestrand in die Hauptstadt, um die Ausbildung zu erhalten, die ihr Respekt und Einkommen bringen soll.

„Die Hebamme“ ist ein eindrucksvoller, aber auch schwermütiger Einblick in das Norwegen im 19. Jahrhundert, in das Leben und in das Leid seiner Familien. Hochemotional in seinen besten Momenten, aber leider zu oft auch zu nüchtern, zu sehr Chronik als Roman, zu oft mit kurzen Anekdoten gespickt, zu sehr mit Blick von außen als mit Fokus auf das Innere seiner Figuren.

Aber das Buch ist auch ein interessantes Portrait der Frauen dieser Zeit, besonders der Marta Kristine Andersdotter Flovik, der Hebammen-Stina, die 150 Jahre nach ihrem Tod ein würdiges literarisches Denkmal gesetzt bekommt. Von ihrem Ururenkel, den ihre Geschichte nicht los ließ, der nur wusste, was sein Vater ihm erzählen konnte: „Deine Ururgroßmutter, Marta Kristine«, sagte Vater, »ist nach Christiania gegangen, um Hebamme zu werden [...] dann ist sie wieder nach Hause gegangen und nicht weniger als fünfzig Jahre lang Hebamme gewesen.“

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Veröffentlicht am 12.10.2021

Vier Leben lang

Die letzten Romantiker
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Vier Geschwister, vier Leben. Die Skinners wachsen zu Beginn der 80er-Jahre in schwierigen Verhältnissen auf. Ihr Vater stirbt mit Anfang 30, ihre Mutter wird damit nicht fertig, leidet an Depressionen ...

Vier Geschwister, vier Leben. Die Skinners wachsen zu Beginn der 80er-Jahre in schwierigen Verhältnissen auf. Ihr Vater stirbt mit Anfang 30, ihre Mutter wird damit nicht fertig, leidet an Depressionen und verlässt ihr Zimmer für drei Jahre nur für das Nötigste. Die Kinder müssen das Leben alleine bewältigen und sich selbst auf die für sich abzeichnenden Lebenspfade begeben. Renee wird Ärztin, Caroline früh Mutter, Joe hat eine Zukunft als Baseball-Star vor sich und Fiona, die Hauptfigur in Tara Conklins „Die letzten Romantiker“, arbeitet bei einer NGO und schreibt einen feministischen Blog über ihre Sexualpartner.

Eine interessante, kurzweilige, manchmal tieftraurige Familiengeschichte über rund 100 Jahre, die insgesamt aber darunter leidet, dass die Autorin zu viel möchte. Die Figuren sind alle für sich durchaus spannend gezeichnet, aber dennoch bleiben manche Charaktere, manche Handlungen, gerade im Erwachsenenleben der vier Geschwister, zu unausgefüllt. Die letzten Jahre der Familie werden lediglich im Schnelldurchlauf erzählt, was zwar ein bekannter, aber häufig unbefriedigender Stil ist. Die Rahmenhandlung einer dystopischen, von Umwelteinflüssen stark in Mitleidenschaft gezogenen Zukunft hat für die Geschichte keinen Mehrwert, die charmante und interessante Verbindung zwischen der 102-jährigen Fiona im Jahr 2079 und der jungen Frau namens Luna bei ihrer Lesung hätte auch in einen kleineren, weniger aufgeladenen Rahmen ohne Stromausfälle und Soldaten gepasst.

Die letzten Romantiker ist ein gutes Buch, aber kein sehr gutes. Es ist unterhaltsam, es ist spannend und es ist mitfühlend, aber leider mit den genannten Punkten am Ende etwas unbefriedigend. Das Gute: Es ist alles in allem eine gute Grundlage für eine spannende Netflix Mini-Serie – die dann die Schwächen des Buches ausmerzen kann.

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Veröffentlicht am 12.10.2021

Ährenmänner

Der perfekte Kreis
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England in den späten 80ern. Zwei Männer stehen schweigend in einem Feld, bewaffnet mit Stöcken und Seilen. Ihr Ziel: der perfekte Kornkreis. Viel Zeit haben sie nicht, die Sommernächte sind kurz, Kornkreisjäger ...

England in den späten 80ern. Zwei Männer stehen schweigend in einem Feld, bewaffnet mit Stöcken und Seilen. Ihr Ziel: der perfekte Kornkreis. Viel Zeit haben sie nicht, die Sommernächte sind kurz, Kornkreisjäger sind unterwegs, um zu enthüllen, wer dahintersteckt. Außerirdische vermuten die einen, Jugendliche mit Schabernack im Sinn die anderen. Redbone und Calvert nehmen das amüsiert zur Kenntnis, während sie das nächste Projekt in Angriff nehmen, vom Trapping-St-Edmunds-Sonnenwendenpendel bis zum Throstle-Henge-Asteroidencollier.

Nach seinem Überraschungserfolg „Offene See“, das Lieblingsbuch der Unabhängigen (Buchhändler) 2020, erscheint nun der neue Roman von Benjamin Myers. Und das schon jetzt, obwohl das Original in England erst für 2022 angekündigt ist. Inspiriert durch die Geschichte der beiden Kornkreis-Künstler Doug Bower und Dave Chorley, die in den 80ern in Südenglands Feldern für Furore sorgten, lässt er zwei Männer durch fiktive Orte Großbritanniens ziehen. Der eine kreiert die Kunstwerke, der andere sucht die Felder, beide geleitet von einem selbsterstellten Codex, der vor allem eines verhindern soll: das bekannt wird, wer hinter den Kornkreisen steckt.

Ihre Geschichte wird verwoben mit realen Ereignissen: dem Falkland-Krieg, der Schlacht im Bohnenfeld, der weltweiten Berichterstattung über das Phänomen der Kornkreise in einer Zeit weit vor dem Internet. Und mit einer liebevollen Beschreibung der Natur, die sonst fast nur Robert Macfarlane beherrscht, mit eindringlichen Warnungen vor der Umweltverschmutzung und einem kleinen, fast schon beiläufigen Kommentar auf die Corona-Pandemie.

„Der perfekte Kreis“ ist nicht perfekt, aber perfekt geschrieben. Myers lässt vieles ungesagt, seine zwei Hauptfiguren geheimnisvoll. Was alles war, was alles kommt, das spielt keine Rolle, es zählen nur dieser Sommer, diese Nächte in der Natur, diese Kunst in den Feldern. Der kurze, nur 240 Seiten lange Roman steckt voller Poesie, voller Liebe zum Süden Englands, voller Hingabe für die Kreationen dieser beiden stillen Typen mit ihrem ganz eigenen Codex, für die der perfekte Kreis vor allem eines ist: eine Frage der Ähre.

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