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Veröffentlicht am 25.02.2021

Der ganze verdammte unvermeidliche Schmerz

Hard Land
1

„Ich stellte mir vor, dass das eigene Ich aus vielen Puppen bestand, aus mutigen und ängstlichen und stillen und lauten, und überall hingen die Fäden. Doch man konnte nie sehen, wer sie in der Hand hielt. ...

„Ich stellte mir vor, dass das eigene Ich aus vielen Puppen bestand, aus mutigen und ängstlichen und stillen und lauten, und überall hingen die Fäden. Doch man konnte nie sehen, wer sie in der Hand hielt. Wer der innere Puppenspieler war.“

Inhalt

Sam Turner hat die typischen Probleme eines Teenagers, allen voran seine traurige Rolle als Außenseiter, der er nur zu gerne entkommen würde. Aber die coolen Typen meiden ihn und außerdem wüsste er gar nicht, was er machen sollte, um endlich dazuzugehören. Stattdessen bewirbt er sich für einen Ferienjob im ortsansässigen Kino in der amerikanischen Kleinstadt Grady, um wenigstens eine sinnvolle Aufgabe zu haben. Dort arbeiten bereits drei weitere Jugendliche, die allerdings schon etwas älter als Sam sind. Eine davon ist Kirstie Andretti, die Tochter des Kinobetreibers. Und in diesem Sommer wird alles anders, denn Sam verliebt sich zum ersten Mal in ein Mädchen und auch wenn Kirstie schon mehr Erfahrung und einen Freund hat, entwickelt sich zwischen ihnen dennoch eine innige, lebensbejahende Freundschaft. Sam könnte glücklich sein, wenigstens für diesen einen Sommer, bevor seine neuen Freunde aufs College wechseln werden und er wieder allein dasitzt. Doch ausgerechnet da, kehrt die Krebserkrankung seiner Mutter zurück, diesmal schlimmer und kräftezehrender als beim ersten Mal und Sam muss einsehen, dass er schneller erwachsen werden muss, als ihm lieb ist.

Meinung

Der deutsche Autor Benedict Wells, dessen Roman „Vom Ende der Einsamkeit“ einer meiner Favoriten ist, hat sich in seinem aktuellen Buch den Herausforderungen und Gedanken eines jungen Menschen angenommen, der einerseits ganz zeitlose, klassische Probleme Jugendlicher mit sich herumträgt doch zum anderen ein zwiegespaltener Teenager ist, der durch eine gewisse äußere Tragik schneller erwachsen werden muss, als andere.

„Hard Land“ ist ein Coming-of-Age Roman, der die gesamte Breite dieser besonderen Zeit abdeckt, sie bildlich wach werden lässt und dabei eine klare Figurenzeichnung und einen realistischen Blick in eine Welt wirft, in der jeder schon einmal feststeckte und an deren Ende die gereifte Persönlichkeit steht.

Der Roman bekommt von mir das Prädikat „Jahreshighlight“, weil es eines der Bücher ist, welches nicht nur universell gilt, sondern weil es Erinnerungen wachruft, den Leser selbst zurückversetzt in die eigene Jugend, in die Gedankenwelt einer vergangenen Zeit, die man doch nicht vergessen wird, weil die Erlebnisse von damals viel prägender waren, als gedacht. Egal, in welchem Lebensjahrzehnt man steckt, diese Erzählung schafft es mühelos, jene Gedankenstränge aufleben zu lassen und mit den Protagonisten mitzufühlen – eine Lektüre, die man auch ein zweites oder drittes Mal lesen kann und die immer wieder neue Töne anschlägt.

Besonders gut gefallen hat mir neben dem flüssigen Schreibstil und der facettenreichen Charakterisierung der Protagonisten, die bloße Schilderung diverser Momentaufnahmen. Egal ob es sich dabei um eine Party handelt, bei der zu viel Alkohol fließt oder um die Eindrücke eines Jungen als er seine Angebetete zum ersten Mal in ihrer Unterwäsche sieht, egal ob es die Verletzungen sind, denen sich ein Heranwachsender stellen muss, wenn er merkt, dass ein Elternteil ihn verlassen wird und es gerade derjenige ist, der ihm mental viel nähersteht.

Egal welcher Satz hier geschrieben steht, in jedem steckt eine Menge Weisheit oder einfach die Ehrlichkeit derjenigen, die hier agieren und stellvertretend für die Leser die Vergangenheit aufleben lassen. Auch als Verfilmung könnte ich mir diese Romanvorlage bestens vorstellen, weil es ein generalistisches Thema mit einer sehr emotionalen Umsetzung ist und dennoch niemals ins klischeehafte abdriftet.

Ich mag es, wenn Romane sich den großen Fragen des Lebens widmen, diese aber auf kleine persönliche Entscheidungen und Gedanken herunterbrechen, so dass gerade das Zwiespältige deutlich wird. Und dieses Buch vollzieht diesen Vorgang über die gesamte Länge von gut 300 Seiten. Es sind Gedanken zu Freundschaft, Familie, Trennung, Zukunft, Liebe, Verantwortung – und doch stehen diese einzelnen Punkte nicht separat im Raum sondern werden miteinander in eine Interaktion gebracht, so dass deutlich wird, wie schwer es fallen kann eine Entscheidung zu treffen und wie sehr man später daran verzweifeln kann, genau diese Option gewählt zu haben und nicht die andere, inklusive der persönlichen Vorwürfe so nach dem Motto: „Warum habe ich nur?“

Fazit

Ich vergebe begeisterte 5 Lesesterne für diesen zeitlosen, innigen Roman, der vom Protagonisten selbst aus seiner Erinnerung heraus geschildert wird. Große Lebensfragen, menschliche Beziehungen, getroffene Entscheidungen und der ein oder andere unvorhersehbare Einschnitt – alles wird hier miteinander in Einklang gebracht und ergibt ein nahezu perfektes Leseerlebnis, mit viel mehr als nur einer endgültigen Aussage.

Ganz nebenbei ist es auch ein Aufruf dazu, wie wichtig menschliche Bindungen sind, auch wenn sie manchmal sehr schmerzhaft sein können, auch wenn das Leben der Liebe nur eine gewisse Zeit zugesteht, so kann man doch gerade durch andere und deren Einfluss und Gedankenspiele wachgerüttelt werden und findet sich über kurz oder lang in einer Welt wieder, wo trotz Traurigkeit auch wieder Platz für neue Pläne geschaffen wird.

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Veröffentlicht am 25.03.2020

Die schrecklichen Augen der lauernden Hyäne

Das wirkliche Leben
1

„Ich hatte keine Ahnung, ob es so etwas wie ein gelungenes Leben gab und was das genau beinhaltete. Aber ich wusste, das ein Leben ohne Lachen, ohne Wahlmöglichkeiten und ohne Liebe ein vergeudetes war. ...

„Ich hatte keine Ahnung, ob es so etwas wie ein gelungenes Leben gab und was das genau beinhaltete. Aber ich wusste, das ein Leben ohne Lachen, ohne Wahlmöglichkeiten und ohne Liebe ein vergeudetes war. Und deshalb erhoffte ich mir eine Geschichte, die mir erklärte, warum meine Mutter ihr Leben weggeworfen hatte.“

Inhalt

Die Erzählerin der Geschichte ist zunächst nur ein 10-jähriges Mädchen, die verborgen hinter einer gutbürgerlichen Fassade in einer einheitlichen Reihenhaussiedlung gemeinsam mit ihrem kleineren Bruder Gilles aufwächst. Der Vater ein passionierter Großwildjäger und Trinker, der das Leben seiner Familie als Buchhalter finanziert, sich aber in der geschützten Privatsphäre zu einem gewalttätigen, gefährlichen Mann entwickelt, der seine erlegten Beutetiere ausgestopft in einem extra Zimmer der Wohnung deponiert.

Das Mädchen hat nur ein Ziel: irgendwie dem häuslichen Wahnsinn entkommen und dabei ihren kleinen Bruder beschützen, der sich im Laufe der Jahre immer mehr für die Waffensammlung des Vaters und die getöteten Tiere interessiert. Als in der Gegend alle Katzen verschwinden und sie Gilles beim Quälen verschiedener Tiere beobachtet, schwört sie sich, dass ihr Leben eine Wende nehmen muss, damit die schrecklichen Augen der lauernden Hyäne aus dem Jagdzimmer nicht noch mehr Schaden im Kopf ihres Bruders anrichten.

Sie stürzt sich voller Enthusiasmus auf den Bau einer Zeitmaschine, mit der sie in die Vergangenheit reisen möchte, um wenigstens Gilles vor all der Brutalität und den ungesunden Entwicklungen zu schützen. Erst als sie etwas älter ist, entdeckt sie die wahre Gefahr und rückt immer mehr ins Visier ihres Vaters, der mit dem Sohn mittlerweile eine Einheit bildet und sie fürchtet bald schon um ihr eigenes Leben. Doch in der Rolle des Opfers hat sie sich nie gesehen …

Meinung

Nachdem ich die Leseprobe des Romans gelesen hatte, war ich mir eigentlich unsicher, ob der Text und die Thematik überhaupt etwas für mich sein könnten. Denn schon nach den ersten Seiten wird deutlich, dass Gewaltszenen und Brutalität hier ganz wesentliche erzählerische Elemente darstellen und wohl auch der folgende Text in dieser Ausrichtung gestaltet sein würde. Dennoch habe ich mich ohne besondere Erwartungshaltung und relativ unbedarft an diesen Coming-of-Age-Roman gewagt, um den „Liebling der französischen Buchhändlerinnen“ zumindest kennenzulernen.

Und dann hat mich die Story regelrecht überrascht und mich unweigerlich in ihren Bann gezogen, so dass ich für dieses Buch gerade einmal einen Tag Lesezeit benötigt habe und entgegen meiner ursprünglichen Befürchtungen ein grandioses Stück Literatur geboten bekommen habe.

Ganz klar: inhaltlich bewegt sich „Das wirkliche Leben“ ganz sicher nicht in meiner Wohlfühlzone, dominieren doch Gewaltszenen, Tierquälerei, zerrüttete Familienverhältnisse und die schier unvorstellbare Dominanz des Bösen über das Gute. Aber der belgischen Autorin meines Geburtsjahrganges ist es gelungen, eine wahnsinnig stimmige Geschichte zu erschaffen, die in erster Linie durch die Charakterstärke ihrer Protagonistin und deren Unverbesserlichkeit dem häuslichen Umfeld zu entkommen, besticht. Die geschilderten Sachverhalte waren manchmal nah dran, mich gänzlich zu schockieren und besitzen doch eine magische Anziehungskraft.

Besonders eindrücklich schildert Adeline Dieudonné die Entwicklung eines 10-jährigen Mädchens, die jeden Tag die Prügelei des Vaters an der Mutter hinnehmen muss, die sich selbst ducken und verstecken muss, um nicht seinen Gewaltausbrüchen ausgesetzt zu sein und die ihren geliebten Bruder, den einzigen Menschen, dem sie restlos vertraut beschützen möchte. Ihre Luftgespinste mit einer Zeitmaschine lösen sich bald auf, doch ihr Interesse für Physik und die Naturgesetze, bieten ihr die Chance sich bald auch außerhalb der Familie neue Eindrücke zu verschaffen. Und als sie am Ende des Buches mit 15 Jahren alles gesehen zu haben scheint, was es an Machtdemonstration geben kann, ist sie sich doch bewusst, dass sie nicht dazu geboren wurde, für immer in der Rolle des Opfers zu bleiben. Und als ihr monströser Vater zum alles vernichtenden Schlag ausholt, ist sie ihm im wirklichen Leben schon längst entwischt …

Fazit

Dieser ungewöhnliche, einprägsame Roman konnte mich absolut überraschen und lebt durch die grandiose Gestaltung der diversen Figuren, die man alle direkt vor dem inneren Auge sieht. Ebenso gelungen empfand ich die Szenenwechsel, die Gestaltung der Handlung, den Ablauf der Zeit in Anbetracht des Heranwachsens der Hauptprotagonistin – kurzum die Rahmenhandlung nach klaren Vorgaben, die dennoch überhaupt nicht absehbar war.

Der Leser wird langsam herangeführt an die Gedankengänge des Mädchens, spürt die komplette Bandbreite ihrer Emotionen und bewundert immer mehr ihren Sinn, sich der schrecklichen Realität zu widersetzen. Ein richtiger Pageturner, dem ich gerne 5 Lesesterne schenke und ihn als ein faszinierendes Leseerlebnis in Erinnerung behalten werde. Selbst wenn er nicht von Realitätsnähe und Allgemeingültigkeit geprägt ist und in erster Linie auch keinen literarischen Anspruch erhebt, gelingt es ihm, die Spannungsmomente auszureizen und trotz aller Gewalt zeigt er vielmehr die verborgenen Gefühle hinter den Machtspielchen kranker Seelen als die Schäden die Schläge hinterlassen können.

Sehr unverbraucht, sehr innovativ – ich schließe mich den positiven öffentlichen Meinungen über dieses Debüt an und sortiere es als Highlight 2020 ins Bücherregal.

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Veröffentlicht am 07.03.2020

Ich will niemand sein

Der Empfänger
1

Er spürte zum ersten Mal Geiz, was sein Leben anging, niemand hatte das Recht, sich Wissen über ihn zu erschleichen. Er hatte unsichtbar gelebt, und das sollte so bleiben.“

Inhalt

Josef Klein lebt in ...

Er spürte zum ersten Mal Geiz, was sein Leben anging, niemand hatte das Recht, sich Wissen über ihn zu erschleichen. Er hatte unsichtbar gelebt, und das sollte so bleiben.“

Inhalt

Josef Klein lebt in Amerika sein einfaches Leben und hat weder mit Ideologien noch mit der Politik irgendetwas am Hut. Sein Steckenpferd ist das Amateurfunken, welches er voller Leidenschaft und mit einem gewissen Know-How betreibt. Auf diesem Gebiet kann ihm so schnell keiner das Wasser reichen und genau deshalb gerät er ins Visier der deutschen Abwehr, die in Übersee zu Gunsten Hitlers ein Spionagenetzwerk etablieren will. Josef ist der ideale Mann für sie: er ist naiv, ein Könner auf seinem Gebiet und nur ein kleiner, unbedeutender Mann, der schon nicht so genau hinschauen wird, was die politischen Größen im Untergrund planen. Tatsächlich gerät er wie nebenbei an ominöse Männer, die ihm in seinem Tun bestärken aber über die genauen Hintergründe der Funkinhalte Stillschweigen bewahren. Doch Josef erkennt selbst, dass er sich hier auf die falschen Freunde eingelassen hat und er einer übergeordneten Sache dient, die nicht nur verachtenswürdig, sondern sogar gefährlich sein kann. Leider gelingt es ihm mehr schlecht als recht, der Vereinigung den Rücken zu kehren, insbesondere weil seine Fähigkeiten weiterhin benötigt werden. Doch als ein schwerer Anschlag auf die amerikanische Bevölkerung in New York verübt wird, der angeblich auf das Konto eines deutschen Spionagenetzwerkes geht, zieht sich die Schlinge um seinen Hals immer enger …

Meinung

Die deutsche Autorin Ulla Lenze widmet sich in diesem Roman einer eher unverbrauchten Thematik über die Machenschaften der Sympathisanten Hitlers im Ausland und ihren Einfluss auf den Krieg im eigenen Land. Dabei nimmt sie die Geschichte des Josef Klein als Anlass nicht nur die Tätigkeiten verbotener Organisationen im Untergrund zu erläutern, sie legt auch ein großes Augenmerk auf die persönliche Entwicklung des kleinen Mannes, der zu arglos und naiv mit den gesellschaftlichen Entwicklungen seiner Zeit umgeht. Deutlich wird vor allem die Heimatlosigkeit des Protagonisten, der sich ursprünglich in New York heimisch fühlte, dem aber dieses Wohlgefühl sehr schnell abhandenkommt, weil er immer mehr zum Objekt degradiert wird und nur noch eine Aufgabe erfüllen soll, mit der er sich in keiner Weise identifiziert. Doch eine Rückkehr nach Deutschland ist ebenso unvorstellbar, denn selbst nach Ende des Krieges, und trotz vorhandener Familie, hat er den Bezug zur ursprünglichen Heimat längst verloren. Ein kurzer Aufenthalt zeigt ihm, wie groß die persönliche Kluft zwischen ihm und dem Leben des Bruders geworden ist. Josef ist allein, ein zerriebenes Rad im Getriebe, ohne Orientierung und für ihn gibt es nur noch eine Möglichkeit: sein Leben als Reisender zwischen Ländern und Grundsätzen zu verbringen.

Prinzipiell hat mir die Geschichte gut gefallen, gerade weil sie eine literarisch unverbrauchte Szenerie heraufbeschwört, die durch Zeitsprünge und diverse Portraits besticht. Der Hauptprotagonist passt charakteristisch hervorragend zum Buch, er ist ein schwer durchschaubarer, eher blasser Mann, der sich mit seinem Verhalten gekonnt durch brenzlige Situationen schmuggelt und eigentlich nichts weiter will, als seine Ruhe und ein Fleckchen Erde um er selbst zu sein. Der Leser begleitet ihn durch turbulente Zeiten und streift wie nebenbei andere Lebensläufe, die sich parallel entfalten: die kurze Liebesbeziehung zu einer befreundeten Funkerkollegin, das biedere Leben des Bruders und seiner Familie, die wendigen, geschäftstüchtigen Männer, die ihren eigenen Vorteil über den des Landes stellen und solche, die immer wieder auf die Beine fallen, selbst nachdem sie für ihre Taten bestraft wurden.

Fazit

Ich vergebe 3,5 Lesesterne (aufgerundet 4) für diesen Roman über politische Netzwerke, fragwürdige Identitäten und der großen Frage nach der Heimat im Herzen. Mein größter Kritikpunkt ist der allgemeine Handlungsverlauf, der mir zu wenig konkrete Aussagen liefert, ein netter aber unspektakulärer Protagonist und seine endlose Suche nach dem, was wirklich Bestand hat. Irgendwie zieht sich ein grauer, unscheinbarer Nebel über die Geschichte, der sie letztlich ziemlich bedeutungslos erscheinen lässt und ich habe die Story zwar gern gelesen, kann aber keinen Mehrwert darin erkennen. Prädikat: gut geschrieben, hinreichend interessant aber nur mäßig in der Durchschlagskraft.

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Veröffentlicht am 29.04.2018

Unglückliche Bilanz eines ach so normalen Lebens

Die Lichter unter uns
1

„Anna wollte protestieren. Wollte ihm erklären, dass es kein Glücksrezept gab, nicht seine, nicht ihre Art von Familie und auch nicht das Alleinsein. Dass kein Mensch es aushielt, wenn alle Hoffnungen ...

„Anna wollte protestieren. Wollte ihm erklären, dass es kein Glücksrezept gab, nicht seine, nicht ihre Art von Familie und auch nicht das Alleinsein. Dass kein Mensch es aushielt, wenn alle Hoffnungen eines anderen auf ihm lasteten.“
Anna und Jo verbringen ihren Urlaub auf Taormina, einer sizilianischen Insel, auf der sie einst auch ihren Honeymoon gefeiert haben. Diesmal jedoch ist die Beziehung nicht mehr so jung, frisch und unbelastet, denn die beiden Kinder Bruno und Judith nehmen einen Großteil ihrer Freizeit in Anspruch und ein finanzieller Engpass zwingt sie dazu, von allem die Billigvariante zu ergreifen, statt das erhoffte Luxusmodell. Frust, Unzufriedenheit und erkaltete Gefühle prägen den Alltag der beiden. Da kommt Anna der attraktive Schwimmer Alexander, der mit seinem Sohn und seiner blutjungen, schwangeren Freundin Zoe ebenfalls auf Taormina Urlaub macht, wie gerufen. Endlich ein Lichtblick in ihrem Leben, ein Fremder, der ihr Beachtung schenkt und doch so distanziert bleibt. Denn anders als Anna vermutet, hat auch Alexander ein schweres Päckchen zu tragen und längst ist nicht alles so perfekt, wie es scheint …
Von diesem Roman habe ich mir eine tiefgreifende, emotionale Geschichte über den Verlust der Träume erwartet, eine potentielle Antwort auf den Sinn des Lebens, eine Reflexion über innere Gedanken, vermeintliche Fehler und die ehrliche Antwort auf die Frage, ob andere glücklicher sind, als man selbst und warum überhaupt dieser Gedankengang so existentiell, so notwendig erscheint. Doch zu meiner Enttäuschung, vermag es die junge deutsche Autorin Verena Carl, die bereits mit dem Hamburger Förderpreis für Literatur ausgezeichnet wurde, nicht meine Empathie zu gewinnen. Das große Manko dieses Romans ist meiner Meinung nach sein Triviallität, das ständige Verfallen der Personen in allzu vorhersehbare Muster und ihr dramatisches Auftreten auf der eigentlich entspannten Urlaubsbühne.
Zunächst einmal mangelt es dem Text schon deshalb an Dichte und Innerlichkeit, weil er statt einer Hauptprotagonistin (so wie ich erwartet habe) gleich mehrere Personen ins Zentrum rückt. Dadurch bekommt man als Leser einerseits den Überblick über zahlreiche zwischenmenschliche Befindlichkeiten, verliert aber andererseits den Bezug zu einer speziellen Person. Erschwerend empfinde ich dann die klischeehafte Ausarbeitung der Darsteller, die ich hier bewusst so nennen mochte, da mich die Szenen des Buches vielmehr an einen Film erinnert haben, als mir lieb gewesen wäre. Da findet man die enttäuschte Mittvierzigerin, die sich Abwechslung und Abenteuer wünscht und stattdessen von den anstrengenden Kindern genervt wird. Den schweigsamen Ehepartner, der sich in seiner Jugend auch zu Männern hingezogen fühlte. Die quirlige Vorpubertierende, die an jeder Ecke ein neues Drama in Gang setzt und auf der anderen Seite eine Familie, die alles andere sind als eine Gemeinschaft, sondern in erster Linie Einzelkämpfer mit fragwürdigen Wertvorstellungen.
Und obwohl die Personen sehr bildlich und umfassend gezeichnet werden, bleiben sie mir allesamt fremd, ja schlimmer noch, sie erfüllen mich mit Abscheu und Schrecken und einem zunehmenden Unverständnis für die Realität des Lebens. Das Unglück, die Melancholie, die die Stimmung des Textes mit sich bringt, führe ich im Wesentlichen auf das Unvermögen der Personen zurück, die verlernt haben, miteinander zu kommunizieren, die sich auf fragwürdige Experimente einlassen und denen es an Schaffenskraft und Mut fehlt. Nicht nur, um sich die selbstgelegten Fesseln abzunehmen, sondern auch, um einen generellen, geglückten Neuanfang in die Wege zu leiten.
Einzig der Schreibstil, die Wortwahl und die stilistisch schönen Sätze konnten mich hier ein wenig von der oberflächlichen Handlung ablenken und mich beim Roman halten, den ich ansonsten auf Grund seiner Handlung spätestens ab der Hälfte des Buches wohl abgebrochen hätte.
Fazit: Ich vergebe 2 Lesesterne für einen Roman, der ganz und gar nicht meiner Erwartungshaltung entsprach. Gefunden habe ich anstrengende Menschen, in alltäglichen Handlungen, mit einem kalkulierbaren Vorleben und keinerlei Entwicklungspotential. Viele Klischees, viel Drama um Nichts, wenig Handlungsanreize aber leider auch kein Gedankenkonstrukt der philosophischen Natur. Sacht und leise, plätschert das Geschehen vor sich hin und verliert sich im Nirgendwo, genau wie die Aufräumarbeiten zum Ende der Urlaubssaison, werden die Stühle gestapelt, die Böden gekehrt und die Türen verschlossen – bis irgendwann ein neues, allzu gleiches Intermezzo beginnt.

Veröffentlicht am 16.01.2017

Der Feind in deinem eigenen Haus

Fremd
1

„Es scheint schon so unendlich lange her zu sein, dass unsere Welt noch in Ordnung war. Wie selbstverständlich wir diesen Zustand immer hingenommen haben, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, ...

„Es scheint schon so unendlich lange her zu sein, dass unsere Welt noch in Ordnung war. Wie selbstverständlich wir diesen Zustand immer hingenommen haben, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, es könnte einmal anders sein.“
Für Erik Thieben bricht von einem Moment auf den anderen sein gesamtes Glück auseinander, nachdem ihn seine Verlobte Joanna nicht mehr erkennt und ihn schlimmer noch als einen Einbrecher ansieht, der ihr gewiss nach dem Leben trachtet. Mühsam setzt er die Puzzleteile des letzten gemeinsamen Jahres für Joanna zusammen, doch ihre Abneigung treibt ihn an den Rand der Verzweiflung. Auch die verschwundenen Möbel aus der gemeinsamen Wohnung geben ihm Rätsel auf und als ihn sein Chef Gabor auch noch aus einem großen Deal ausschließen möchte, gerät Erik an seine Grenzen. Wer will sein Leben so nachhaltig zerstören und vor allem warum? Als er nur knapp einem Terroranschlag entkommt, beschließt er unterzutauchen und seinen vermeintlichen Tod vorzutäuschen. Doch seine Widersacher sind ihm dicht auf den Fersen und haben bald schon Joanna im Visier …
Sowohl Ursula Poznanski, als auch Arno Strobel gehören zu meinen Lieblingsautoren, die mich mit ihren Büchern bereits oft und umfassend begeistern konnten, so dass ich mir von ihrer ersten schriftstellerischen Kooperation einiges versprochen habe. Tatsächlich ist ihnen mit „Fremd“ auch ein äußerst spannender, mitreißender Psychothriller gelungen, der gerade durch seinen Aufbau etwas Neues initiiert: Ein Mann, eine Frau und zwei gegensätzliche Perspektiven. Wem schenkt man Glauben? Wer lügt und aus welchem Grund? Oder gibt es da etwas, was man so noch gar nicht vermutet hat?
Doch was mich auf den ersten Seiten des Buches gereizt hat, verlor über die Länge der Geschichte etwas an Glanz. Besonders die Strukturierung ließ es nicht zu, zu viel über den Täter und seine Motive zu offenbaren. So dass ich nach gut zwei Dritteln der Geschichte immer noch nicht den blassesten Schimmer hatte, welche Motive hier vorliegen. Und das hat mich dann schon irgendwie genervt. Ebenso im Sand verlaufen ist die psychologische Komponente des Thrillers, der hier streckenweise ein echtes Beziehungsdrama war aber nicht mehr der erhoffte Nervenkitzel. Dennoch versteht sich das Duo ganz prächtig darauf eine erzählenswerte Geschichte zu entwerfen, die den Leser trotz mehrerer Kritikpunkte an den Text bindet und ihn zum Weiterlesen animiert.
Fazit: Ich vergebe 4 Lesesterne für diesen Gemeinschaftsroman, den man auch als solchen erkennt. Man liest ihn als begeisterter Anhänger von Spannungsliteratur zwar gerne, er bleibt aber hinter anfänglichen Erwartungen zurück. Insbesondere die spärliche Auflösung der Ereignisse konnte mich nicht überzeugen, während der Lesefluss stets vorhanden war. Hier hätte ich definitiv schon ab der Hälfte des Buches eine dritte Erzählebene eingebaut, nämlich die des Täters, der seine Handlungen für den unbeteiligten Dritten offenbart. So blieb einiges ungesagt und wohl nicht sehr nah an der Realität. Dennoch ein lesenswerter Thriller, der sich sicher auch als Einsteigerroman ins Genre eignet, weil er weder grausam, noch blutig, noch abstrakt ist. Ganz im Gegenteil, man hofft inständig, dass einem selbst derartiges niemals widerfahren mag.