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Veröffentlicht am 04.06.2022

Porträt einer amerikanischen Familie - tragische Ereignisse und Schuldgefühle wirken bis in die Gegenwart und über Generationen hinweg.

Sommer in Maine
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Die Familie Kelleher ist seit über 60 Jahren im Besitz eines Anwesens an der Küste Maines, das Großvater Daniel damals durch eine Wette gewonnen hatte und wo sie seitdem jeden Sommer verbracht haben. Seit ...

Die Familie Kelleher ist seit über 60 Jahren im Besitz eines Anwesens an der Küste Maines, das Großvater Daniel damals durch eine Wette gewonnen hatte und wo sie seitdem jeden Sommer verbracht haben. Seit zehn Jahren ist Daniel tot und die Sommer sind nicht mehr dieselben. Matriarchin Alice kommt nach wie vor jedes Jahr an die Küste, wo sie inzwischen einen Neubau bewohnt, während ihre Kinder sich die Monate Juni bis August für ihre Sommerurlaube in dem alten Cottage aufgeteilt haben. Die älteste Tochter Kathleen wohnt in Kalifornien und hat aufgrund ihres desaströsen Verhältnisses zu ihrer Mutter kein Interesse die Sommer dort zu verbringen. Auch ihre Schwester Clare lässt sich dort nicht mehr sehen. Einzig der Jüngste, Pat, schon immer Liebling von Alice, investiert in das Anwesen und genießt dort die Sommer zusammen mit seiner Frau Ann Marie, zu der auch Alice ein besseres Verhältnis pflegt, als zu ihren eigenen Töchtern.
Die Familie verbringt die Sommer nicht ohne Grund getrennt, nachdem das ausgleichende Element Daniel, der immer für einen Witz zu haben war und Alice in ihre Schranken verwies, gestorben ist, denn tiefe Verletzungen prägen die Kelleher-Frauen, Provokationen und Streitigkeiten bestimmen ihr Verhältnis.
Doch in einem Sommer wollen es die Umstände, dass Ann Marie, Kathleen und ihre Tochter Maggie gleichzeitig in Maine bei Alice sind und sich die tiefen Graben aus Enttäuschungen und Verbitterung zwischen ihnen unweigerlich auftun.

"Sommer in Maine" ist etwas anders aufgebaut, als ich es mir zunächst vorgestellt hatte, denn zunächst werden die Leben der vier handelnden Frauen aus deren Perspektiven parallel erzählt. Erst im letzten Viertel des Buches sind alle drei Generationen in Cape Neddick versammelt, wo ihre Geheimnisse mehr oder weniger freiwillig offenbart werden.
Der Roman handelt deshalb lange von den gegenwärtigen Problemen der Protagonisten, wobei es insbesondere in Bezug auf die betagte Alice und die Endfünzigerin Kathleen Rückblenden in die Vergangenheit gibt. Auf diese Weise lernt man die Frauen und ihre sehr eigenwilligen Persönlichkeiten kennen, aber auch was ihr Verhältnis zueinander geprägt. Es sind sperrige Charaktere, die nicht unbedingt Sympathien wecken, auch wenn Ann Marie zunächst noch als die liebenswürdigste erscheint. Die drei Kellehers, Alice, Kathleen und Maggie sind dagegen sehr auf sich selbst bezogen und insbesondere Alice und Kathleen sind sich in ihrer Taktlosigkeit und unverhohlenen Bösartigkeit ähnlich. Die Vergangenheit, die sie zu dem gemacht macht, das sie sind, weckt Verständnis für ihr Verhalten und die Mauern, die sie um sich aufgebaut haben.
Alice hat ein Trauma seit über 60 Jahren nicht verwunden, danach ihre jugendlichen Zukunftspläne aufgegeben und sich für ein Leben entschieden, das sie eigentlich nie führen wollte. Trost suchte sie sich im Alkohol und vernachlässigte ihre Kinder. Die mangelnde oder ungleich verteilte Liebe an ihre Kinder prägte wiederum deren Leben und das ihrer Kinder.

"Sommer in Maine" ist keine typische Urlaubslektüre, denn dafür fehlt dem Roman die Leichtigkeit. Es ist das Porträt einer amerikanischen Familie irisch-katholischer Wurzeln, das zwar etwas langatmig, aber durchaus aufwühlend erzählt wird. In der Familie herrscht viel böses Blut, dass sich jedoch erklärt, je mehr man über die Kellehers - auch durch Rückblenden in die Vergangenheit - erfährt. Die wechselnden Perspektiven ermöglichen einen tiefen Einblick in die Charaktere, die glaubwürdig sind und jeder für sich eine eigene Persönlichkeit und Dynamik entwickeln.
Es ist dramatische Familiengeschichte, die zeigt, was tragische Ereignisse auslösen können und wie Schuldgefühle und Geheimnisse Menschen prägen und noch nachfolgende Generationen belasten.
Während die männlichen Protagonisten in dem Buch eher Statisten sind, ist spannend zu erfahren, ob sich die Frauen am Ende auch nur annähernd miteinander versöhnen können und eine Art von Harmonie herstellen können, solange sie in den Sommern immer wieder nach Maine gelangen werden, wo sie noch Erinnerungen an unbeschwerte Ferien als Großfamilie haben.

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Veröffentlicht am 03.06.2022

Spannender Thriller zwischen Paranoia und tatsächlicher Bedrohung mit einer etwas abenteuerlichen Auflösung.

Das Paket
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Emma Stein wurde in einem Hotelzimmer vergewaltigt und ihr Kopf von ihrem Peiniger rasiert. Sie ist deshalb der Überzeugung, dass der in den Medien bekannte Serienmörder "Friseur" der Täter ist, doch niemand ...

Emma Stein wurde in einem Hotelzimmer vergewaltigt und ihr Kopf von ihrem Peiniger rasiert. Sie ist deshalb der Überzeugung, dass der in den Medien bekannte Serienmörder "Friseur" der Täter ist, doch niemand glaubt ihr. Bisher hat er stets Prostituierte vergewaltigt und anschließend getötet.
Emma ist Psychiaterin, kann jedoch nicht mehr praktizieren, da sie seit der Tat unter Panikattacken leidet und ihr Haus nicht mehr verlassen kann. Ihre Symptome verschärfen sich, als ein Paketbote sie bittet, ein Paket für einen Nachbarn anzunehmen, den sie nicht kennt. Drei Wochen später erzählt sie ihrem Anwalt ihre Geschichte.

"Das Paket" ist gewohnt nach Fitzek-Manier in kurzen Kapiteln aufgebaut, die jeweils mit einem Cliffhanger enden, die zum Weiterlesen anregen. Erfreulicherweise hat der Autor in diesem Buch auf Ekelszenen, abenteuerliche Verfolgungsjagden und übertriebenes Heldentum verzichtet.
Emma ist eine gebrochene Frau, die bereits als Kind eine blühende Fantasie hatte und auch gegenwärtig damit kämpft, was Realität und was nur Einbildung ist. Auch als Leser*in fällt es schwer, Emma und ihre Erlebnisse einzuschätzen. Klar erscheint nur, dass ihr irgendjemand etwas antun möchte, unabhängig davon ob es sich bei dem Täter tatsächlich um den gefährlichen "Friseur" handelt.
Der Thriller handelt auf zwei Zeitebenen, die beide spannend geschildert sind. In der Vergangenheit fesselt die Bedrohungslage, in welcher sich Emma mit ihren Dämonen auseinandersetzen muss, während sie unter Medikamenteneinfluss zunehmend kopflose Entscheidungen trifft. In der Gegenwart sind es die Gespräche mit dem Anwalt, der Emma zu Reaktionen provoziert und die Frage, was ihr vorgeworfen wird, was sie vom vermeintlichen Opfer zur Verdächtigen hat werden lassen.

Auch wenn das titelgebende Paket keine wesentliche Rolle spielt und die Handlung stark auf Emmas Paranoia reduziert ist, empfand ich den Thriller spannend und wollte wissen, wie das undurchsichtige Szenario letztlich aufgelöst wird, was dann zugegebenermaßen allerdings sehr abenteuerlich ist und die ganze Fantasie des Autors erfordert hat.

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Veröffentlicht am 01.06.2022

Dramatische und abenteuerliche Erzählung über Liebe, Eifersucht, Neid, Rache und dem Kampf um Selbstbestimmung - allerdings sehr langatmig und spannungsarm.

Ich bin Circe
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Circe ist die Tochter des Sonnengotts Helios der Nymphe Perse, ist aber im Gegensatz zu ihren Geschwistern nicht makellos schön und zudem mit einer piepsigen Stimme gestraft, wie sie sonst nur Sterbliche ...

Circe ist die Tochter des Sonnengotts Helios der Nymphe Perse, ist aber im Gegensatz zu ihren Geschwistern nicht makellos schön und zudem mit einer piepsigen Stimme gestraft, wie sie sonst nur Sterbliche haben. Von den Geschwistern verspottet, der Mutter abgelehnt und vergebens um Anerkennung von ihrem Vater buhlend, interessiert sich Circe zunehmend für die sterblichen Menschen.
Als Helios Zeus gegenüber ein Opfer bringen muss, verbannt er seine unliebsame Tochter Circe auf die Insel Aiaia, wo Circe unter ihrer Einsamkeit leiden soll. In den Jahren, die sie dort allein mit Tieren und Pflanzen zubringt, entwickelt sie ihre Zauberkräfte fort. Sie begegnet zahlreichen Menschen, die auf ihrer Insel stranden, hilft einem Teil von ihnen und tötet den anderen. Einen besonderen Eindruck hinterlässt Odysseus, König von Ithaka und heldenhafter Kämpfer im Trojanischen Krieg. Sein Besuch dauert über Monate an und das nicht ohne Folgen.

Miranda Miller hat den Mythos um die Zauberin Circe aufgegriffen und einen Roman über das Leben der verbannten Göttin geschrieben. Die Idee ist originell, die Umsetzung erweist sich jedoch als phasenweise zäh.
Während der Beginn mit der Einführung der Götterwelt und dem Aufwachsen Circes in einer Umgebung, in der sie sich nicht zugehörig fühlt, vergleichsweise fesselt, ist der Mittelteil mit der Verbannung Circes auf die einsame Insel langatmig geschildert. Es werden dabei gefühlt alle Götter, Halbgötter, Titanen, Nymphen und Helden der griechischen Mythologie erwähnt, denen Circe begegnet und die sie mehr oder weniger intensiv in den folgenden Äonen begleiten. Diese Vielzahl der Figuren erschlägt, insbesondere wenn man sich nicht mit wesentlichen Details der griechischen Mythologie auskennt, da die Hintergründe zu den Charakteren und den Verbindungen untereinander sich nicht unmittelbar erschließen.
Die Begegnungen werden chronologisch beschrieben, sind dadurch episodenartig und für meinen Geschmack zu lose verwoben.

Circes Verlorenheit und daraus resultierende Einsamkeit sind nachvollziehbar, denn sie hat als Göttin zutiefst menschliche Züge, die ihren Verwandten fehlen. Sie entwickelt Ängste und Emotionen sowie Mitgefühl für die Sterblichen, was ihr zum Verhängnis wird. Auf der anderen Seite kann sie jedoch in ihrem Verhalten ähnlich grausam sein wie die anderen Götter. Gewalt und Machtspiele der Götter nehmen in dem Roman einen großen Raum ein, ohne die Handlung wesentlich weiterzuentwickeln. Circe befindet sich dabei stets zwischen den Welten - einerseits ist sie als Tochter des Titanen Helios göttlicher Natur und unsterblich, andererseits ist sie verbannt und entwickelt Gefühle für die Sterblichen.

Die Spannung ist auf einem gleichbleibend niedrigen Niveau. Interessant wird es nach dem vielversprechenden Anfang erst am Ende, wenn Circe sich entscheiden muss, auf welche Seite sie gehört. Dabei kommt ihr die über die Äonen charakterliche Weiterentwicklung zugute, die sie von einem verschüchterten, verstoßenen Mädchen zu einer starken, selbstbewussten Frau hat werden lassen, die für sich einsteht.

Circe ist eine sagenhafte, empfindsame Heldin, die sich wiederholt für die Sterblichen und diejenigen, die sie liebt, einsetzt und damit den Zorn der Götter auf sich zieht. Auch wenn sie selbst als Göttin unsterblich ist, über Zauberkräfte verfügt und scheinbar nichts zu verlieren hat, ist ihr Handeln mutig und selbstlos, denn die Strafen der Götter können schlimmer sein als der Tod, was anschaulich beschrieben wird.

Die dramatische und abenteuerliche Erzählung, die eine weibliche Figur der griechischen Mythologie in den Vordergrund rückt, handelt von Liebe, Eifersucht, Neid und Rache, aber vor allem auch von einem Kampf um Selbstbestimmung und dem Bruch mit Konventionen.
Die anschauliche Erzählweise erweckt Circe zum Leben, die man bisher nur als Verführerin Odysseus' kannte, die seine Odyssee verlängerte, und gibt ihr eine Stimme.

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Veröffentlicht am 30.05.2022

Dramatische Geschichte mit spannendem Aufbau und anschaulichem Setting in Andalusien. Die bewegenden Themen sind jedoch nur oberflächlich umgesetzt. Im Vordergrund stehen die Emotionen der Charaktere.

Das Geheimnis von Granada
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Von einem Anruf ihrer aufgebrachten Großmutter geschockt, macht sich die junge Ärztin Marisol auf den Weg nach Andalusien, um ihre Großeltern zu besuchen. Vor Ort angelangt, geht es dem geliebten Großvater ...

Von einem Anruf ihrer aufgebrachten Großmutter geschockt, macht sich die junge Ärztin Marisol auf den Weg nach Andalusien, um ihre Großeltern zu besuchen. Vor Ort angelangt, geht es dem geliebten Großvater Esteban García nach seinem Schwächeanfall nicht so schlecht wie gedacht, so dass Marisol aufatmen kann. Ihr macht dagegen ihre Vergangenheit zu schaffen. Denn im Haus ihrer Großeltern sieht sie sich mit schmerzhaften Erinnerungen an ihre verstorbene Mutter konfrontiert und die Schuld, die an ihr nagt. Ihr Tod hat die ganze Familie in ihren Grundfesten erschüttert und ist ein Tabuthema.
Knapp fünfzig Jahre zuvor sind die Schneiderin Mina und der Gitarrenbauer Diego schwer verliebt, können ihre Liebe in der konservativen und erzkatholischen Umgebung jedoch nicht frei ausleben. Die Folgen des spanischen Bürgerkriegs belasten die spanische Bevölkerung und Minas sowie Diegos Familie und die Menschen leben in Angst unter der Diktatur Francos.
Der Roman handelt auf zwei Zeitebenen, wobei der Leser sowohl in der Gegenwart als auch in der Vergangenheit im Jahr 1974 nach Andalusien versetzt wird. Durch die malerischen Beschreibungen hat man Land und Leute bildhaft vor Augen und spürt die Faszination für die magische Stadt Granada.
Die Charaktere sind individuell gezeichnet, wobei die Nebencharaktere etwas stereotyp wirken: muskulöse andalusische Männer mit dichten Wimpern, die wunderschöne honigblonde Freundin aus Deutschland, die verkuppelnde Großmutter oder die neugierige, bigottische Nachbarin...
Die Geschichte ist spannend aufgebaut, denn als Leser*in ahnt man zunächst nicht, in welchem Zusammenhang beide Erzählebenen stehen könnten. Zudem ist zu befürchten, dass die Liebe von Mina und Diego unter keinem guten Stern steht und dass es in der Vergangenheit zu einem tragischen Ereignis kommen muss. In der Gegenwart fragt man sich dagegen, was es mit dem mysteriösen Tod von Marisols Mutter auf sich hat, über den nicht gesprochen wird. Diese Geheimnis ist allgegenwärtig und bleibt ein wenig zu lange unausgesprochen, weshalb es schwerfällt, sich in Marisol hineinzuversetzen und die Spannung ein wenig künstlich in die Länge gezogen wird. Interesse weckt dann jedoch Fabio, den Marisol kennenlernt, und der eigenartig neugierige Fragen in Bezug auf ihren Großvater stellt.
"Das Geheimnis von Granada" ist eine dramatische Geschichte, die spannend aufgebaut ist und durch die tragischen Schicksale und ihre Geheimnisse, die sie bergen, fesselnd geschrieben ist. Die historischen Fakten zu Spaniens jüngster Vergangenheit und Traditionen sind geschickt mit der fiktiven - sehr leidenschaftlichen - Liebesgeschichte verbunden, hätten jedoch detaillierter beschrieben werden können, um die Schreckenszeit der Diktatur noch näher zu bringen. Diese bleibt auf Polizeiwillkür und Korruption beschränkt. Ungleich spannender sind die offenen Fragen in der Gegenwart, die den makellosen Großvater in ein ganz anderes Licht rücken, als sich Marisol vorstellen kann.
Im Vergleich zur sehr eindrücklichen Beschreibung von Atmosphäre und Setting ist ein Manko des Romans die Verbindung der beiden Handlungsstränge aus Gegenwart und Vergangenheit, denn die in der Gegenwart erst 59-jährige Großmutter konnte im Jahr 1974 unmöglich bereits verheiratet sein. Wesentlicher ist jedoch, dass sowohl die Franco-Ära als auch das Geheimnis um den Großvater, das aufgrund des realen Hintergrundes besonders erschütternd ist, nur oberflächlich beschrieben wird. Statt einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Themen stehen vielmehr die Emotionen der Protagonisten, die am Ende alle sehr glücklich miteinander verwoben werden, im Vordergrund. Die leidenschaftliche und dramatisch Inszenierung hat damit ein wenig den Stil einer spanischen Telenovela, was zumindest zum Setting passend ist.

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Veröffentlicht am 28.05.2022

Vielschichtiger Roman um eine starke Protagonistin mit einem bewegenden Schicksal. Trotz aller Tragik eine Geschichte mit feinfühligem Humor, die auf zwei Zeitebenen wunderbar unterhält und neugierig auf den Folgeband macht.

Stay away from Gretchen
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Tom Monderath ist Mitte 40 und ein bekannter Nachrichtenmoderator. Seine 84-jährige Mutter, die wie er in Köln lebt, sieht jede Sendung mit Stolz im Fernsehen. Tom ist Perfektionist und stellt seinen Beruf ...

Tom Monderath ist Mitte 40 und ein bekannter Nachrichtenmoderator. Seine 84-jährige Mutter, die wie er in Köln lebt, sieht jede Sendung mit Stolz im Fernsehen. Tom ist Perfektionist und stellt seinen Beruf über alles, privat lässt er nichts anbrennen und führt eher lockere Frauenbekanntschaften ohne Verpflichtungen.
Als seine Mutter unübersehbar an Demenz erkrankt ist und allein kaum noch zurecht kommt, muss Tom handeln und das geregelte Leben des erfolgsverwöhnten Junggesellen gerät allmählich aus den Fugen.
Während Greta sich nur ungern an die Zeit des Zweiten Weltkriegs und die Nachkriegszeit erinnert, findet Tom Fotos in ihrer Wohnung mit Menschen darauf, die er nicht kennt. Greta wird beim Anblick eines kleinen Mädchens mit dunkler Hautfarbe von ihren Gefühlen überwältigt, schweigt jedoch hartnäckig. Tom nimmt dies zum Anlass, um sich nun endlich mit der Vergangenheit seiner Familie auseinanderzusetzen, um letztlich auch verstehen zu können, warum seine Mutter in seiner Kindheit unter Depressionen litt und welche Auswirkungen ihre Vergangenheit auch auf sein Leben haben könnte.
Der Roman wird auf zwei Zeitebenen erzählt, in denen neben der fiktiven persönlichen Geschichte von Tom und Greta Monderath gewichtige Themen von Politik und Gesellschaft zur Sprache kommen. Im Jahr 2015 ist die Flüchtlingskrise auf ihrem Höhepunkt und Tom ist als erfolgreicher Anchorman an vorderster Front, führt Interviews mit Innenminister und Kanzlerin.
In der Vergangenheit erlebt Greta, die als Jungmädel von Hitler schwärmt, die Grausamkeiten des Zweiten Weltkriegs, als ihr Vater in Russland kämpft und die Familie gezwungen ist, von Ostpreußen nach Westdeutschland zu flüchten. Die Familie hat Glück, findet wieder zusammen und kommt bei Verwandten in Heidelberg unter, wo sie sich etwas Neues aufbauen kann. Die junge Greta ist unerschrocken und hilft der Familie mit ihrer burschikosen Art beim Kampf ums Überleben. Dabei lernt sie den GI Bob kennen, der der Familie behilflich ist und dem sie deutsche Wörter beibringt. Die beiden verlieben sich ineinander - eine Liebe, die nicht sein darf, denn Bob hat die falsche Hautfarbe.
Die Geschichte fesselt auf beiden Zeitebenen und ist durch die Parallelen aus Flüchtlingskrise in den Jahren 2015/ 2016 und Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg raffiniert aufgebaut. In der Gegenwart bewegt zudem die Erkrankung von Greta, die selbst merkt, wie sich selbst verliert und die es nun nicht mehr schafft, ihre Erinnerungen aus der Vergangenheit, die sie belasten, zurückzudrängen. Auch Tom, der zunächst oberflächlich und arrogant wirkt, ist sichtbar überfordert mit der Situation und zeigt im Verlauf der Geschichte seinen weichen Kern.
"Stay away from Gretchen" - der Appell an die GIs der US-Army, sich von den deutschen Frauen fernzuhalten - ist ein vielschichtiges Buch, das für Jung und Alt gleichermaßen geeignet ist. Es ist eine emotionale Geschichte, die aufgrund des Schicksals der sympathischen Greta bewegend ist. Insbesondere als der Zweite Weltkrieg beendet ist und das Leben wieder aufwärts gehen sollte, ist Greta kein Glück von Dauer beschert. Es sind erschütternde Szenen von Ausgrenzung, Anfeindung und Ausweglosigkeit, als Greta sich aus Armut gezwungen sieht, eine herzzerreißende Entscheidung zu treffen.
Der Roman handelt von einer großen Anzahl ernster Themen wie Flüchtlingsproblematik, Rassismus, "Brown Babies", Demenz, Einsamkeit im Alter, Sehnsucht und Liebe, die aber so locker in die Erzählung eingebunden sind, dass diese zu keinem Zeitpunkt niederschmetternd ist. Der subtile Humor auf beiden Zeitebenen - Toms Ausraster über nervige Musik im Radio, Gretas gewitzte Art als junges Mädchen sowie ihre markigen Sprüche als ältere Dame sorgen für gute Unterhaltung und lindern die bedrückende Stimmung. Die Balance aus Ernsthaftigkeit und Humor sowie historischen und gegenwärtigen Problemfeldern und fiktiver Geschichte ist der Autorin wunderbar gelungen.
Auch wenn der Roman in sich geschlossen ist, geht die Geschichte um Tom und Greta Monderath weiter. Ich freue mich schon sehr auf die Fortsetzung "Was ich nie gesagt habe - Gretchens Schicksalsfamilie", die Mitte Juni 2022 erscheinen wird.

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