Eine kluge Reflexion über Liebe und Gesellschaft mit neuen Denkanstößen
Die Essayreihe "Das Leben lesen" von Hanser Berlin widmet sich den zehn wichtigsten Themen des Lebens. In diesem Rahmen erschien "Lieben" von Emilia Roig, ein Buch, das sich mit der Bedeutung von Liebe ...
Die Essayreihe "Das Leben lesen" von Hanser Berlin widmet sich den zehn wichtigsten Themen des Lebens. In diesem Rahmen erschien "Lieben" von Emilia Roig, ein Buch, das sich mit der Bedeutung von Liebe in einer patriarchalen Gesellschaft auseinandersetzt. Die Autorin, bekannt für ihre intersektionale Perspektive auf soziale Gerechtigkeit, ist Gründerin des Center for Intersectional Justice (CIJ) und eine renommierte Wissenschaftlerin. Ihre Biografie – aufgewachsen in einer algerisch-jüdisch-karibischen Familie in Frankreich – prägt ihre Schriften, die oft politische und gesellschaftliche Strukturen hinterfragen.
Worum geht’s genau?
In "Lieben" plädiert Emilia Roig für eine umfassendere Sicht auf Liebe weit über die klassische romantische Beziehung hinaus und fordert dazu auf, Solidarität und Empathie radikal neu zu denken. Sie argumentiert, dass die romantische Liebe in unserer Gesellschaft zu stark im Mittelpunkt steht, während andere Formen von Liebe – Freundschaft, Mitgefühl, Verbundenheit zur Natur – oft übersehen werden. Roig verbindet ihre persönliche Lebensgeschichte mit einer tiefgehenden Analyse von Machtstrukturen, Hierarchien und kapitalistischen Zwängen, die unsere Vorstellungen von Liebe beeinflussen. Sie zeigt auf, wie Liebe im Patriarchat und Kapitalismus geformt wird, und fordert dazu auf, Liebe aus diesen Fesseln zu befreien. Während die ersten Kapitel sich mit zwischenmenschlichen Beziehungen beschäftigen, geht sie in den letzten beiden Kapiteln stärker auf spirituelle und universelle Aspekte der Liebe ein, die auch die Natur und das Universum mit einbeziehen.
Meine Meinung
Da ich bereits Werke von Emilia Roig kannte, war ich gespannt auf ihren literarischen Essay. "Lieben" ist meiner Meinung nach ein kluges, strukturell reflektiertes Buch, das das Thema aus einer intersektionalen Perspektive beleuchtet. Besonders beeindruckt haben mich die ersten vier Kapitel, in denen sie sich mit Freundschaft, romantischer Liebe und gesellschaftlichen Erwartungen auseinandersetzt. Auch wenn einige Gedanken nicht neu waren, da sie - wie ich es von der Autorin nicht anders erwartet hätte - aus einer feministischen Perspektive heraus geschrieben sind und bereits in anderen Büchern behandelt wurden die ich gelesen hab, haben sie mich dennoch zum Nachdenken angeregt und ich hab mir viele Stellen markiert.
Weniger gut gefallen haben mir hingegen die letzten beiden Kapitel, die mir persönlich zu spirituell, ja man kann es nicht anders sagen fast schon esoterisch waren. Während ich die grundsätzliche Botschaft, die Natur und andere Spezies stärker in unser Liebesverständnis einzubeziehen, nachvollziehen kann und begrüße, fiel es mir schwer, mich mit den tiefergehenden Gedanken der Autorin zu dem Thema zu verbinden. Diese für mich abstrakteren Passagen fühlten sich für mich einfach zu weit von meinem eigenen Erfahrungshorizont entfernt an.
Positiv hervorzuheben ist der sachbuchartige Charakter des Essays. Roig schreibt nicht nur aus persönlicher Perspektive, sondern verknüpft ihre Gedanken mit theoretischen Überlegungen (anderer Autor:innen) und bietet im Anhang eine ausführliche Literaturliste zur Vertiefung. Gerade weil das Buch mit knapp 120 Seiten relativ kurz ist, ist diese Liste eine wertvolle Ergänzung für Leser:innen, die sich tiefergehend mit bestimmten Aspekten befassen möchten.
Was Roigs Schreibstil besonders macht, ist die Kombination aus analytischer Schärfe und emotionaler Wärme. Ihre Worte sind präzise und klar, gleichzeitig wirkt ihr Text wie eine universelle Umarmung an die Kraft, die die Welt zusammenhält: die Liebe. Sie schafft es, die gesellschaftlichen Konstruktionen von Liebe zu dekonstruieren und Räume für neue Vorstellungen zu eröffnen. Dabei bleibt sie stets politisch und stellt Liebe in den Kontext von Macht und Hierarchie.
Fazit
"Lieben" ist ein kluges, gesellschaftskritisches Buch, das Liebe aus einer intersektionalen Perspektive betrachtet und traditionelle Vorstellungen hinterfragt. Während die ersten Kapitel viele wertvolle Gedankenanstöße bieten, sind die letzten Abschnitte für mich persönlich wenig greifbar. Dennoch bleibt es eine inspirierende Lektüre, die sich lohnt. 4 von 5 Sternen.