Alkohol- und Co-Abhängigkeit
Motte hat viel von ihrer Mutter gelernt: Männer, die Schnaps trinken, werden aggressiv und Biertrinker plaudern gern Geheimnisse aus. Eine Frau sollte immer Fluchtgeld gebunkert haben, in einem alten Stiefel ...
Motte hat viel von ihrer Mutter gelernt: Männer, die Schnaps trinken, werden aggressiv und Biertrinker plaudern gern Geheimnisse aus. Eine Frau sollte immer Fluchtgeld gebunkert haben, in einem alten Stiefel im Schrank oder in einer Dose im Gefrierfach, auf der Linsensuppe steht. Sie sollte jederzeit die Kinder nehmen und abhauen können.
Motte sagt zuweilen in der Kneipe Sachen, die sie nüchtern nie gesagt hätte, ihrem Freund ist das peinlich. Das mit dem Trinken fing schon früh an. Auf den Schützenfesten ihrer Kindheit, wenn sie Kellnerin spielte, dann trank sie die Reste, bis diese wohlige Wärme aus dem Bauch heraufstieg. Jetzt gerade schafft sie es montags nicht zur Arbeit, erzählt von Todesfällen in der Familie oder Magen-Darm-Infekten. Ihre Freunde gehen lieber ohne sie aus.
Das war doch früher ganz normal, sagt die Großmutter. „Wir Frauen haben am Monatsende vor den Fabriktoren gestanden und unseren Männern die Lohntüten abgenommen, sonst hätten sie alles in die Kneipe getragen“.
Wenn der Vater von der Arbeit nach Hause kam, wurde still zu Abend gegessen. Weder ihr Bruder noch sie erzählten, wer sie in der Schule geschubst hatte oder wen sie geküsst hatten. Die Mutter legte den Zeigefinger auf die Lippen, der Vater stierte stumpf und glasig vor sich hin. Am Sonntag spielten sie immer draußen, damit der Vater lange ausschlafen konnte.
Sie verliebt sich in einen trinkenden Mann, weil sie das kennt. Sie weiß, wie man lügt und einen Mann zurechtrückt, so dass er morgens geduscht und kerzengerade am Küchentisch sitzt. Wie sie ihm Angst machen kann, damit er glaubt, dass sie ihn verlässt, bis die Drohung sich abnutzt.
Fazit: Lena Schätte, ausgezeichnet mit dem W.-G.-Sebald-Literaturpreis, hat eine Protagonistin geschaffen, die auf ihr Leben zurückblickt. Sie ist mit ihrem Bruder in „einfachen“ Verhältnissen aufgewachsen. Alkohol hat in ihrer Familie seit Generationen die größte Rolle gespielt. Sie erlebte den trinkenden Vater in allen Facetten, auf den die gesamte Familie Rücksicht nahm. Interessant, wie die Autorin die Co-Abhängigkeit gezeigt hat. Die Traumatisierung und die genetische Disposition treiben die Protagonistin selbst, in jungen Jahren in harte Abstürze durch Alkoholexzesse. Ich mochte, wie gut die Autorin das ganze Drama gezeigt hat, ohne pathetisch zu werden. Die Geschichte ist nicht chronologisch. Sondern in kleinen Anekdoten aneinandergereiht, das macht das Lesen in diesem Fall interessant, weil es die heftigeren Szenen immer wieder auflockert. Mir hat auch gefallen, dass die Autorin auf Gewalt verzichtet. Hier geht es wirklich um den zerstörerischen Aspekt der Sucht durch eine politisch und gesellschaftlich anerkannte Droge, die die Macht hat, ganze Familien und Existenzen zu zerstören und mehr braucht es gar nicht. Es ist so wichtig, diese Krankheit zu thematisieren, für die die Betroffenen am wenigsten können. Völlig verständlich, dass dieses exzellent transportierte Thema einen Platz auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2025 gefunden hat.