Essen als Druckmittel
Halbe PortionSie muss umziehen und es muss schnell gehen. Ein paar Bekannte helfen ihr, die Kartons in die möblierte Zwei-Zimmer-Wohnung zu schleppen. Was sie alles in diesen vielen Kisten habe, fragen sie. Bücher, ...
Sie muss umziehen und es muss schnell gehen. Ein paar Bekannte helfen ihr, die Kartons in die möblierte Zwei-Zimmer-Wohnung zu schleppen. Was sie alles in diesen vielen Kisten habe, fragen sie. Bücher, hauptsächlich Bücher, sagt sie. Und das stimmt zum Teil! Die vielen Lebensmittel, die sie in Sonderangeboten ergattert und gebunkert hat, verschweigt sie. Sie wuchtet den schweren Schreibtisch mitten in den Raum. Sie wird ihn einnehmen, ihm zeigen, dass sie ab jetzt hier wohnt. Sie könnte etwas essen, nicht weil sie hungrig ist, sondern um den Appetit zu stillen und schaut, was ihr Vormieter dagelassen hat. Buchstabensuppe in der Tüte. Klingt heimelig nach Kindheit. Vier Portionen sollen es sein. Nun gut, dann wird sie vier Portionen essen. Kurz danach verspürt sie immer noch ein kleines Loch. Sie füllt es mit Lindor Schokokugeln, die längst abgelaufen sind. Sie hatte sie bei Amazon entdeckt und konnte bei 29,79 statt 38,99 für ein Kilo nicht widerstehen. Eine Kugel hat 74 Kalorien. Sie packt eine aus und schiebt sie zwischen die Lippen. Schmeckt gut. Die freche Kugel hinterlässt Lust auf noch eine, 148 Kalorien. Nun fühlt sie sich schuldig, deshalb nimmt sie noch eine und spürt das Dopamin durch ihr Hirn fluten. Jetzt ist es auch egal, die müssen eh weg. Sie packt noch eine aus, lässt sie auf der Zunge zergehen, 222 Kalorien. Sie denkt, dass das zügellose Essen sie glücklich machen wird, dass das Essen und spätere Übergeben besser ist, als die Schoki wegzuwerfen. Nach 14 Kugeln ist ihr ein bisschen übel. Sie geht vor der Kloschüssel auf die Knie, kotzt Schokolade, Buchstabensuppe und sogar die Karotten, die sie mittags sorgsam in Streifen geschnitten und in Humus getunkt hatte. Sie fühlt sich schlecht, zurückgeworfen, willenlos und labil.
Fazit: Die mehrfach ausgezeichnete Dramatikerin Elisabeth Pape hat in ihrem autofiktionalen Romandebüt Magersucht beleuchtet. In abwechselnden Kapiteln, die früher und heute genannt werden, erfahre ich, dass sie mit ihrer Mutter von der Ukraine nach Berlin kam. Die alleinerziehende Mutter lebte vom Bürgergeld, vom Vater kam keine finanzielle Unterstützung. Die lieblose, zwanghafte Mutter ist auf ihr Gewicht und das ihrer Tochter fixiert. Sie kontrolliert, was ihr Kind sich zuführt und teilt überstreng zu wenig Nahrung ein. Essen wird zum Druckmittel, das (durch verhasstes Klavierspielen oder gute Noten) verdient werden muss. Essen wird zum Liebesersatz für die fehlende Zuneigung. Ein Teufelskreis, der frühe Prägung erfährt und durch Erniedrigung und Bestrafung befeuert wird. Meine psychiatrischen Erfahrungen, in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, sagen mir, dass die Ess-Brech-Sucht und Magersucht ganz schwer zu therapieren ist. Und genau das zeigt die Autorin so gekonnt. Die Hauptdarstellerin zählt jede Kalorie, jeden Cent und vergleicht jedes Supermarktangebot. Sie gönnt sich nichts außer der Reihe, isst, was notwendig ist, um sich „normal“ zu fühlen. Sie findet eine Therapeutin, weil sie wirklich wirklich aus dieser tiefen Lebenskrise hinausfinden will. Doch sie scheitert am Alltag. Jede Entscheidung, die ihre Verantwortung fordert, macht ihr Angst, die sie zum Überessen zwingt. Jede ungewollte Entgleisung schürt ihren Selbsthass und zwingt sie in die Vorratskammer. Jedes Missfallen und das Gefühl, ungeliebt zu sein, befeuert das Bedürfnis, die innere Leere zu füllen. Jeder Stressmoment drängt sie zum Kühlschrank. Die Gedanken kreisen um nichts anderes als Essen und ob sie es sich leisten kann. Verarmungswahn trifft auf eine nicht reale Körperwahrnehmung. Was für ein enormer Stress, der alles an Energie kostet. Diese Geschichte zu lesen ist anstrengend und nervenzehrend. Die Ambivalenz der Betroffenen überträgt sich auf mich, ich liebe und hasse dieses Buch. Ich träume nachts vom Essen. Unglaublich, was die Autorin da geschafft hat, denn deutlicher kann man einem Außenstehenden nicht vor Augen führen, wie beschissen diese Erkrankung ist.