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Veröffentlicht am 16.12.2025

Gnadenlos gute Unterhaltung

Hohle Räume
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Am Bahnsteig Stuttgart läuft Helene die Treppen hinab. In der Wartezone sieht sie die Eltern. Der Vater kauert auf dem Boden, bindet erst den Schnürsenkel seines rechten Schuhs, dann den linken. Vermutlich ...

Am Bahnsteig Stuttgart läuft Helene die Treppen hinab. In der Wartezone sieht sie die Eltern. Der Vater kauert auf dem Boden, bindet erst den Schnürsenkel seines rechten Schuhs, dann den linken. Vermutlich hat er die Schnüre kurz zuvor gelöst, Untätigkeit liegt ihm nicht. Die Mutter starrt auf die Ankunftstafel. Klein sieht sie aus, die immer noch schönen Haare kastanienrot gefärbt. Helene zieht ihren Koffer hinter sich her und tritt ins Bild. Die Mutter erblickt sie und winkt mit erhobenen Armen. Der Vater nimmt einen Schritt zurück, um ihren Händen auszuweichen. Die Mutter drückt Helene Wirbel für Wirbel an sich, hält sie dann von sich fortschiebend an den Schultern fest und mustert sie. Du isst doch genug Maus, sagt sie. Nach der mütterlichen Prozedur umarmt sie den Vater, er klopft ihre Schulter, wie man es bei einem gutmütigen Gaul machen würde. Wie lange bleibst du, fragt die Mutter. Ich habe ein Rückfahrticket für Samstag. Zehn Tage, das ist aber wenig. Helene findet das schon zu viel. Schließlich sollen nur die Besitztümer der Eltern auseinanderdividiert werden. Sie lassen sich scheiden und Helene soll helfen.

Im Parkhaus tastet der Vater nach dem Autoschlüssel. Als er alle gängigen Taschen durchgegangen ist, fängt er von vorne an. Er sieht die Mutter nicht an, die sich früher immer um solche Dinge gekümmert hat und nun keine Bereitschaft zeigt zu intervenieren. Der Vater findet den Schlüssel, kurz nachdem der Mutter ein Schnauben entfleucht ist. Zu Hause angekommen entkorkt die Mutter eine Flasche Rotwein und verkündet, sie wollten es sich jetzt alle mal richtig gemütlich machen. Die Mutter setzt sich mit ihrem Glas in den Sessel, schwingt die Beine über die Armlehne und kokettiert. Der Vater sitzt auf seinem Sofa, dass das er unbedingt haben wollte, da hat er sich ausnahmsweise einmal durchgesetzt, vor seinem Rotweinglas, obwohl er keinen Alkohol trinkt. Der Vater entscheidet sich dann doch für sein Wasserglas, sie stoßen an und das Wasserglas unterbricht den Wohlklang der aneinanderschlagenden dünnwandigen Gläser. Und Maus, was treibst du denn so, will die Mutter wissen.

Fazit: Nora Schramm hat in ihrem Debüt eine ganz normale Familienidylle durchleuchtet, die bei näherer Betrachtung auseinanderfällt. Die Protagonistin besucht ihre Eltern nach kurzen sporadischen Besuchen nun über einen längeren Zeitraum. Die Mutter wünscht sich Begleitung beim Eheaus. Helene hat das Elternhaus früh genug verlassen, um eine Künstler*innenkarriere zu starten und hatte bisher wenig Zeit und/oder Interesse, sich mit ihrer Herkunftsfamilie auseinanderzusetzen, das holt sie jetzt zwangsläufig nach. Sie beobachtet ihre Eltern ganz genau, seziert deren Gestik, Mimik, deren Verhalten miteinander und zu ihr. Dabei kommt es zu urkomischen Situationen, in denen sich folgendes Bild herausschält. Der Vater glänzt schon immer durch grenzenlose Abwesenheit, verursacht durch die Lethargie, die ihn dazu verurteilt hat, zu allem zu schweigen. Die Mutter jedoch, die durch ihre unendliche Beflissenheit und Leidensbereitschaft jeden Frust, jede Enttäuschung weglächelt, die aufopferungsvoll auf nahezu jedes Bedürfnis verzichtet. Und Helene, die zu keiner Gefühlsregung fähig ist. Helene beschreibt die ganze Szenerie, ohne das Verhalten zu benennen oder zu bewerten und daraus ergibt sich ein regelrechter Film à la Loriot. Obwohl mir mehrmals danach war, Vater und Tochter zu schütteln oder zu treten, hat die mütterliche Omnipräsenz mich ganz klar bei der Stange gehalten. Was für ein konsequent gnadenloses Erzählen. Faszinierend gute Unterhaltung. Ich möchte bitte mehr von Nora Schramms außergewöhnlichen Schreibstil.

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Veröffentlicht am 15.12.2025

Auf Mutters Spuren, sehr berührend.

Mama & Sam
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Sie steht in der Wohnung ihrer Mutter und starrt auf das Loch im Dielenboden. Es sieht aus wie diese Kreidezeichnungen nach polizeilichen Ermittlungen. Die Tatortreinigerin erklärt, dass die Körperflüssigkeiten ...

Sie steht in der Wohnung ihrer Mutter und starrt auf das Loch im Dielenboden. Es sieht aus wie diese Kreidezeichnungen nach polizeilichen Ermittlungen. Die Tatortreinigerin erklärt, dass die Körperflüssigkeiten in das Holz gezogen sind. Vierzehn Tage hätte sie da gelegen, das sagte auch der Leichenbeschauer. Eine Nachbarin hatte die Polizei gerufen, weil das Licht Tag und Nacht brannte und weil der Geruch sie störte.

An Weihnachten hatte sie nach langer Zeit die Tür wieder für ihre Mutter geöffnet. Hatte sich ganz fest vorgenommen, toleranter zu sein, sich nicht wieder ärgern zu lassen. Die Tante hatte bis dahin zwischen den Stühlen gestanden zwischen der Tochter-Mutterpause und sich das beidseitige Gemecker angehört.

Sie solle sich doch einfach an die schönen Momente erinnern, sagt die Tante. Sie erinnert aber vor allem die cholerischen Ausbrüche der Mutter. Sobald die Mutter abends von der Arbeit kam, zog sie sich in ihr Schlafzimmer zurück. Die Tochter musste in ihrem Zimmer bleiben und bis dahin alle WC-Gänge erledigt haben. Und so pinkelte das Mädchen zuerst in die Zimmerecken, dort wo sie dachte, dass es am wenigsten auffallen würde. Nach der ersten harschen Ohrfeige hob sie die Matratze an und pinkelte auf den Lattenrost, sicher, dass die Mutter dort nicht nachsehen würde, aber der Geruch verriet sie.

Sie wird noch einmal in die Wohnung fahren müssen, um Papiere zu sichten. Behörden müssen informiert werden, das Erbe angenommen oder ausgeschlagen werden.

Fazit: Sarah Kuttner hat in ihrem dritten Roman eine misslungene Mutter-Tochter-Beziehung verhandelt. Mit ihrer wunderbar einfachen und direkten Sprache lässt sie ihre Protagonistin auf den Nachlass ihrer Mutter los. Im Laufe der Geschichte erfahre ich, dass die Tochter wusste, dass die Mutter einem Love-Scammer verfallen war. Sie hatte sogar zusammen mit der Tante versucht, der Mutter zu erklären, auf was sie sich eingelassen hat, doch die fühlte sich bevormundet und verbat sich die Einmischung. Das Interessante an Kuttners Geschichte ist, wie die Tochter beim Durchgehen des Nachrichten-Chats den Mutterspuren folgt und einen Menschen entdeckt, der ihr so nah wird, wie er ihr zu Lebzeiten nie sein konnte. Sie entdeckt die liebevolle Frau mit den unbefriedigten Bedürfnissen und Ängsten. Wie klug und witzig sie sein konnte. Und sie entdeckt das ganze Dilemma. Die kühle Mutter, wie sie sie kannte, als überforderte, depressive Alleinerziehende. Echte Wertschätzung hatte sie nie erlebt. Endlich war da jemand, der sie so annahm, wie sie war. Als die Mutter ahnte, dass sie betrogen und vorgeführt wird, konnte sie auf die Liebesbekundungen nicht mehr verzichten. Die Scham hätte alle guten Gefühle zunichte gemacht. Eine wundervolle Annäherung an eine Frau, ganz ähnlich meiner eigenen Mutter. Zu sehen, wie sie Bewunderung für diese Frau entwickelt und der Ton, der immer versöhnlicher wird, die Erinnerungen an Momente, die eben doch schön waren, das hat mich ganz tief berührt und mir ein paar Tränchen geschenkt.

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Veröffentlicht am 12.12.2025

Identitätsfindung in Zeiten von AIDS

Zwei Männer in einem Raum
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Vorbeben (Vorwort) von Christoph Geiser (Zeitzeuge)

Christoph hat eine verlogene Liebe in Bern zurückgelassen und macht sich auf den Weg nach Berlin. Untergebracht in einer Bruchbude, blickt er aus dem ...

Vorbeben (Vorwort) von Christoph Geiser (Zeitzeuge)

Christoph hat eine verlogene Liebe in Bern zurückgelassen und macht sich auf den Weg nach Berlin. Untergebracht in einer Bruchbude, blickt er aus dem vorhanglosen Fenster auf einen trostlosen Kinderspielplatz und entdeckt rechts davon die Blue-Boy-Bar. Seine Verabredung hat ihn ins Bel Ami eingeladen und trifft ihn am Billardtisch zum Vorspiel. Im Abgang zum Keller schaut er auf das gelbe Schild mit den schwarzen Buchstaben: AIDS. Im Jahr 1983 war er Mitte dreißig und besessen von Männerkörpern. Diverse Immunologinnen versuchten die Schwulenszene zu missionieren, zur Abstinenz zu bewegen oder doch zumindest Gummis überzuziehen, aber warum? Sie zeugten ja nicht. In New York husteten sie sich die Lunge aus dem Leib und starben wie die Fliegen. Pneumocystis carnii, hieß es. Bilder vom Kaposi-Sarkom verbreiteten sich. Es komme vom f**** sagten sie. Es treffe nur Schwule.

Walter Vogt

Die beiden hatten ihn in einer verruchten Bar angehauen. Er erfuhr, dass beide ein positives Ergebnis hatten und zeigte sich unfähig, diese gegenwärtige Bedrohung, diese Seuche, wie sie gemeinhin genannt wurde, zu verdauen. Seit etwa zwei Jahren versuchte er mal mehr, mal weniger flapsig dieses Syndrom wegzurationalisieren. Diese Bürde, die von der Liebe kam, mit der mittlerweile etwa dreißig Prozent infiziert waren und die, die das Vollbild aufwiesen, daran starben. Er hatte einen emotionalen Schutzwall um sich aufgebaut und jetzt trafen die beiden jungen Männer ihn mit voller Wucht. Mit seinem pseudowissenschaftlichen Geschwätz versuchte er Ängste zu bannen, verhaspelte sich, hielt inne und schämte sich für seinen negativen Test. Ein Davongekommener. Mehr Glück als Verstand. Keinesfalls wollte er in diesem Gespräch in die Rolle des Arztes verfallen und die beiden zu Patienten machen. Sie waren keine Patienten und es war auch nicht ihr Anliegen, welche werden zu wollen. Sie waren Betroffene, von einem durchaus möglichen, frühen Tod Betroffene. Er hatte sich eingebildet, selbst über den Tod nachgedacht zu haben, aber sicher nicht unter einer potenziellen Bedrohung, sondern eher spielerisch, ja möglicherweise halbherzig.

Fazit: Dieser späte autobiografische Text Walter Vogts (1927-1988) aus dem Jahr 1986 wurde im schweizerischen Literaturarchiv gesichtet und von Guy Krneta jetzt erstmalig herausgegeben. Die „Reihe der Autor
innen ALIT präsentiert die Werke vergessener und verkannter Autor*innen aus deren Nachlass. Die Worte Walter Vogts sind flankiert von einem Vorwort (Vorbeben) von Christoph Geiser und einem Nachwort (Nachbeben) von Kim de l`Horizon (das ich sehr erhellend finde)

Walter Vogt, Psychiater und Autor, machte sich mit seiner Kritik an den „Göttern in Weiß“ Mitte der Sechzigerjahre keine Freunde. In späteren Büchern bekannte er sich zu seiner Bisexualität und schrieb über seine Erfahrungen und Erkenntnisse als Mensch zwischen den Geschlechtern. In diesem Text findet er Worte für seine Zerrissenheit in der Liebe zu einem mit Aids infizierten, deutlich jüngeren Mann. Der Autor spricht leidenschaftlich über seine Gefühle, sein Verlangen und den Wunsch nach Erkenntnis in einer Zeit der Entmenschlichung (Schwulenseuche) und Schuldzuweisung. Ich mag seine klugen Gedankengänge und die Schilderungen seines Erlebens ebenso wie seine Erzählweise. Befremdlich liest sich die scheinromantisierende, diskriminierende Sprache über die kurzen Freuden mit einem „herumstreunenden ägyptischen Jungen“, dem Vogt einen Kuss abkauft. Einen raubkatzenhaften arabischen Jungen. Aus dem übermütigen, bubenhaften siebzehnjährigen Exilkroaten mit den feurigen Augen wird Jahre später der bemitleidenswerte gealterte Luchs mit dem stumpfen Haar und der trockenen Haut, den man in jungen Jahren, in seinen kroatischen Bergen besser erlegt hätte. Vogt verniedlicht, entmenschlicht und diskriminiert seine Sexualpartner, schreibt sich in eine Distanz, die ihn besser, größer, besonders macht, den privilegierten weißen Mediziner. War er ein Kind seiner Zeit, das Rassismus internalisiert hat? Oder war sein Selbstwert so gering, dass er sich über andere (Minderheiten) erheben musste? Wahrscheinlich spielt beides eine Rolle. Etwas, das ich ebenfalls heraushöre und mich unangenehm berührt, das ist die männliche Gier. Sex wird stets mit Liebe gleichgesetzt. Es scheint einerlei mit wem, wie alt und unter welchen Umständen, Hauptsache, es ist funny, das stößt mich ab. Ein interessantes Zeugnis einer unheimlichen Zeit und ein gelungener Einblick in die Schwulenszene, der mir als Außenstehende bisher verschlossen blieb.

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Veröffentlicht am 11.12.2025

Intensive, morbide Erzählungen

Nullsumme
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Er hatte K. eingeladen, gerade noch so. Sie ist sicher, dass die anderen weit vor ihr eingeladen wurden. Sicher hätte man sie fast vergessen. Nachdem seine Frau ihr die Tür öffnete, stolperte sie aus dem ...

Er hatte K. eingeladen, gerade noch so. Sie ist sicher, dass die anderen weit vor ihr eingeladen wurden. Sicher hätte man sie fast vergessen. Nachdem seine Frau ihr die Tür öffnete, stolperte sie aus dem Licht in das Halbdunkel des Hauses. Sie sah die anderen, ging unsicher in ihre Richtung. Musste zur Toilette, hatte nicht vor, den Professor etwas so Profanes zu fragen, wie nach dem Weg zu den Waschräumen, wollte sich selbst durchschlagen. Auf dem Wohnzimmertisch vor dem Kamin Küchenutensilien, Zeitschriften, Bücher, bestürzt über so viel Privates, so viel Intimität. Neben dem Sofa ein schmutziger Sneaker. Sie hasste diesen Mann. Sie hierher einzuladen und den hämischen Blicken der anderen auszusetzen. Er zollte ihr nicht die Anerkennung, die ihr gebührte.

In einem seiner Seminare schlug der Professor das Nullsummenspiel vor. Seine Verachtung für Bewertungen und Ranglisten verkündend, wolle er jedem seiner Studenten am Ende des Trimesters die Note 1- geben. Der sich regende Widerstand, durch langsames Kopfschütteln signalisiert, veranlasste den Professor, eine demokratische, anonyme Abstimmung vorzunehmen. Er verteilte blanke Zettel, bat alle zu voten und erhielt ein einstimmiges Nein.

Bei K. lag es daran, dass sie anders sein wollte als die anderen, besser. Am Ende jedoch bekam sie für ihre Leistung dann doch eine 1-. Sie war brüskiert, starb tausend Tode und rächte sich an dem Mann, der wohl glaubte, der Größte zu sein.

Fazit: In den Short Storys der Nobelpreisanwärterin Joyce Carol Oates begegnen mir allerlei verstörte Persönlichkeiten. In der titelgebenden Kurzgeschichte „Nullsumme“ treffe ich auf eine ausgeprägt narzisstische Frau, die ihren Professor verehrte, solange er ihr seine kurze Aufmerksamkeit schenkte, ihn dann jedoch zu hassen beginnt, weil sie sich nicht zu Genüge anerkannt fühlt.

In der Geschichte „Mr. Stickum“ lerne ich fünf Mädchen kennen, die Berichte über Sex-Sklavinnen zwischen sechs und sechzehn Jahren gelesen haben und einen perfiden Plan gegen die männlichen Konsumenten junger Mädchen und Kinder schmieden.

In „Liebeskummer“ erzählt die von Stalking Betroffene dem Falschen von den gewaltandrohenden Anrufen.

In „Die Kälte“ erleidet eine Mutter eine Fehlgeburt und entwickelt nicht nur psychosomatische Symptome.

Allen Erzählungen ist gemein, dass die Protagonistinnen psychisch krank sind und versuchen unter dem Radar zu fliegen. Es finden keine Hilfeaufrufe statt. Die Menschen, die sie begleiten, merken nichts von der Tiefe der Ausnahmezustände. Die Autorin zeigt ein untrügliches Gespür für menschliche Abgründe. Jedem Gewinner folgt ein Verlierer. Die Art zu schreiben ist brillant, nicht umsonst unterrichtet sie kreatives Schreiben. Ich muss gestehen, dass mich einige Geschichten in ihrer Intensität erschüttert haben. Das war kein vergnügliches Lesen. Ein Buch für Leserinnen, die sich gern vom Morbiden absorbieren lassen.

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Veröffentlicht am 08.12.2025

Aufwühlende Geschichte

Jahre ohne Sprache
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In jener Nacht morgens zwischen drei und fünf Uhr, lagen sie alle auf der Decke, vor sich, die ausgehende Glut des Lagerfeuers. Sie hatten sich liegend Tropi Frutti Wodka weitergereicht, ohne sich anzusehen. ...

In jener Nacht morgens zwischen drei und fünf Uhr, lagen sie alle auf der Decke, vor sich, die ausgehende Glut des Lagerfeuers. Sie hatten sich liegend Tropi Frutti Wodka weitergereicht, ohne sich anzusehen. Nach und nach setzte leises Schnarchen ein. Ihr war zum Kotzen. Die Übelkeit verstärkte sich durch die kalte Hand, die auf ihrem Oberschenkel lag. Die steife Hand, die lauerte und sich bei jedem Ausatmen ein Stück weiter nach oben schlich, immer weiter, den Knopf ihrer Jeans öffnete, nach unten abbog, hinein, u.s.w.

Sie lebt in einer Knopffabrik, auf die niemand mehr Anspruch erhebt. Es gibt kein er kein sie nur wir. Niemandem gehört etwas, sie teilen alles. Sie kann gar nicht so genau sagen, wie viele sie sind, denn oft kommt jemand zum Kaffee und bleibt. Für Bullen, Chauvis und die Vergangenheit ist der Eintritt verboten.

An einem Herbsttag, so nass und dunkel, als würde der Regen ihr ins Gesicht spucken, muss sie noch einmal nach Glanitz, nur für eine Stunde. Die Bahnfahrt ist öde, der Ort unverändert, seitdem sie weggegangen ist. Sie legt ihrem Vater den Brief hin, den er unterzeichnen muss, damit sie Geld vom Amt bekommt. Warum sie nicht arbeiten geht, fragt er. Eine sachliche Frage, gegen die es nichts zu wettern gibt, denkt sie und gibt die Frage zurück, warum er nicht arbeitet. Eine Tatsache, die irgendwo in seinem schweren Leib detoniert, er stöhnt. Sie schleicht zur Hintertür hinaus, will niemandem begegnen und macht sich auf den Weg zu ihrer Wahlfamilie.

Fazit: Ann Esswein hat in ihrem zweiten Roman die Eindrücke einer jungen Frau verarbeitet, die diversen Übergriffen ausgesetzt war, die sie lange nicht als solches benennen kann. Die Protagonistin ist vierzehn, als die Mutter die Familie verlässt. Die beiden Brüder sind längst ausgezogen und so lebt sie mit dem Vater allein, der so in seine Trauer gerutscht ist, dass er seine Tochter nicht mehr wahrnimmt. Sie hat einen besten Freund, aber innerhalb der Cliquendynamik verändert sich ihr Verhältnis. Zwischen Park, Bushaltestelle und nächtlichen Besäufnissen verliert die Protagonistin sich selbst. In der Schule wird sie von einer der Besten zu einer der Schlechtesten, bricht alles ab und verschwindet. Sie kann lange nicht benennen, was ihr innerhalb der Clique passiert ist, kann es nicht verstehen und will nicht darüber nachdenken. Die Autorin hat eine besondere Sprache für die traumatisierte junge Frau gefunden. Es wird nur angedeutet, was passiert sein könnte und bleibt auch mir als Leserin unklar. Und genau so ergeht es ja vielen jungen Frauen, die ähnliches erlebt haben. Da ist ein Typ, vielleicht älter als der Rest der Freunde, der ständig mitrumlungert und darauf lauert, dass alle betrunken sind, um dann seine Hände irgendwo unterzubringen, wo sie definitiv nichts zu suchen haben. Es konnte kein klares Nein mehr gesagt werden, was automatisch als Zustimmung zu gelten scheint. Keiner greift ein und damit geben alle dem Schmierlappen recht. Und dann ist das Leben einer jungen Frau rotzeverpfuscht, noch bevor es richtig angefangen hat. Das hat Ann Esswein absolut gekonnt rübergebracht. Ein aufwühlender Roman, der mich nachdenklich gestimmt hat.

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