Gnadenlos gute Unterhaltung
Hohle RäumeAm Bahnsteig Stuttgart läuft Helene die Treppen hinab. In der Wartezone sieht sie die Eltern. Der Vater kauert auf dem Boden, bindet erst den Schnürsenkel seines rechten Schuhs, dann den linken. Vermutlich ...
Am Bahnsteig Stuttgart läuft Helene die Treppen hinab. In der Wartezone sieht sie die Eltern. Der Vater kauert auf dem Boden, bindet erst den Schnürsenkel seines rechten Schuhs, dann den linken. Vermutlich hat er die Schnüre kurz zuvor gelöst, Untätigkeit liegt ihm nicht. Die Mutter starrt auf die Ankunftstafel. Klein sieht sie aus, die immer noch schönen Haare kastanienrot gefärbt. Helene zieht ihren Koffer hinter sich her und tritt ins Bild. Die Mutter erblickt sie und winkt mit erhobenen Armen. Der Vater nimmt einen Schritt zurück, um ihren Händen auszuweichen. Die Mutter drückt Helene Wirbel für Wirbel an sich, hält sie dann von sich fortschiebend an den Schultern fest und mustert sie. Du isst doch genug Maus, sagt sie. Nach der mütterlichen Prozedur umarmt sie den Vater, er klopft ihre Schulter, wie man es bei einem gutmütigen Gaul machen würde. Wie lange bleibst du, fragt die Mutter. Ich habe ein Rückfahrticket für Samstag. Zehn Tage, das ist aber wenig. Helene findet das schon zu viel. Schließlich sollen nur die Besitztümer der Eltern auseinanderdividiert werden. Sie lassen sich scheiden und Helene soll helfen.
Im Parkhaus tastet der Vater nach dem Autoschlüssel. Als er alle gängigen Taschen durchgegangen ist, fängt er von vorne an. Er sieht die Mutter nicht an, die sich früher immer um solche Dinge gekümmert hat und nun keine Bereitschaft zeigt zu intervenieren. Der Vater findet den Schlüssel, kurz nachdem der Mutter ein Schnauben entfleucht ist. Zu Hause angekommen entkorkt die Mutter eine Flasche Rotwein und verkündet, sie wollten es sich jetzt alle mal richtig gemütlich machen. Die Mutter setzt sich mit ihrem Glas in den Sessel, schwingt die Beine über die Armlehne und kokettiert. Der Vater sitzt auf seinem Sofa, dass das er unbedingt haben wollte, da hat er sich ausnahmsweise einmal durchgesetzt, vor seinem Rotweinglas, obwohl er keinen Alkohol trinkt. Der Vater entscheidet sich dann doch für sein Wasserglas, sie stoßen an und das Wasserglas unterbricht den Wohlklang der aneinanderschlagenden dünnwandigen Gläser. Und Maus, was treibst du denn so, will die Mutter wissen.
Fazit: Nora Schramm hat in ihrem Debüt eine ganz normale Familienidylle durchleuchtet, die bei näherer Betrachtung auseinanderfällt. Die Protagonistin besucht ihre Eltern nach kurzen sporadischen Besuchen nun über einen längeren Zeitraum. Die Mutter wünscht sich Begleitung beim Eheaus. Helene hat das Elternhaus früh genug verlassen, um eine Künstler*innenkarriere zu starten und hatte bisher wenig Zeit und/oder Interesse, sich mit ihrer Herkunftsfamilie auseinanderzusetzen, das holt sie jetzt zwangsläufig nach. Sie beobachtet ihre Eltern ganz genau, seziert deren Gestik, Mimik, deren Verhalten miteinander und zu ihr. Dabei kommt es zu urkomischen Situationen, in denen sich folgendes Bild herausschält. Der Vater glänzt schon immer durch grenzenlose Abwesenheit, verursacht durch die Lethargie, die ihn dazu verurteilt hat, zu allem zu schweigen. Die Mutter jedoch, die durch ihre unendliche Beflissenheit und Leidensbereitschaft jeden Frust, jede Enttäuschung weglächelt, die aufopferungsvoll auf nahezu jedes Bedürfnis verzichtet. Und Helene, die zu keiner Gefühlsregung fähig ist. Helene beschreibt die ganze Szenerie, ohne das Verhalten zu benennen oder zu bewerten und daraus ergibt sich ein regelrechter Film à la Loriot. Obwohl mir mehrmals danach war, Vater und Tochter zu schütteln oder zu treten, hat die mütterliche Omnipräsenz mich ganz klar bei der Stange gehalten. Was für ein konsequent gnadenloses Erzählen. Faszinierend gute Unterhaltung. Ich möchte bitte mehr von Nora Schramms außergewöhnlichen Schreibstil.