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Veröffentlicht am 02.12.2025

Essen als Druckmittel

Halbe Portion
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Sie muss umziehen und es muss schnell gehen. Ein paar Bekannte helfen ihr, die Kartons in die möblierte Zwei-Zimmer-Wohnung zu schleppen. Was sie alles in diesen vielen Kisten habe, fragen sie. Bücher, ...

Sie muss umziehen und es muss schnell gehen. Ein paar Bekannte helfen ihr, die Kartons in die möblierte Zwei-Zimmer-Wohnung zu schleppen. Was sie alles in diesen vielen Kisten habe, fragen sie. Bücher, hauptsächlich Bücher, sagt sie. Und das stimmt zum Teil! Die vielen Lebensmittel, die sie in Sonderangeboten ergattert und gebunkert hat, verschweigt sie. Sie wuchtet den schweren Schreibtisch mitten in den Raum. Sie wird ihn einnehmen, ihm zeigen, dass sie ab jetzt hier wohnt. Sie könnte etwas essen, nicht weil sie hungrig ist, sondern um den Appetit zu stillen und schaut, was ihr Vormieter dagelassen hat. Buchstabensuppe in der Tüte. Klingt heimelig nach Kindheit. Vier Portionen sollen es sein. Nun gut, dann wird sie vier Portionen essen. Kurz danach verspürt sie immer noch ein kleines Loch. Sie füllt es mit Lindor Schokokugeln, die längst abgelaufen sind. Sie hatte sie bei Amazon entdeckt und konnte bei 29,79 statt 38,99 für ein Kilo nicht widerstehen. Eine Kugel hat 74 Kalorien. Sie packt eine aus und schiebt sie zwischen die Lippen. Schmeckt gut. Die freche Kugel hinterlässt Lust auf noch eine, 148 Kalorien. Nun fühlt sie sich schuldig, deshalb nimmt sie noch eine und spürt das Dopamin durch ihr Hirn fluten. Jetzt ist es auch egal, die müssen eh weg. Sie packt noch eine aus, lässt sie auf der Zunge zergehen, 222 Kalorien. Sie denkt, dass das zügellose Essen sie glücklich machen wird, dass das Essen und spätere Übergeben besser ist, als die Schoki wegzuwerfen. Nach 14 Kugeln ist ihr ein bisschen übel. Sie geht vor der Kloschüssel auf die Knie, kotzt Schokolade, Buchstabensuppe und sogar die Karotten, die sie mittags sorgsam in Streifen geschnitten und in Humus getunkt hatte. Sie fühlt sich schlecht, zurückgeworfen, willenlos und labil.

Fazit: Die mehrfach ausgezeichnete Dramatikerin Elisabeth Pape hat in ihrem autofiktionalen Romandebüt Magersucht beleuchtet. In abwechselnden Kapiteln, die früher und heute genannt werden, erfahre ich, dass sie mit ihrer Mutter von der Ukraine nach Berlin kam. Die alleinerziehende Mutter lebte vom Bürgergeld, vom Vater kam keine finanzielle Unterstützung. Die lieblose, zwanghafte Mutter ist auf ihr Gewicht und das ihrer Tochter fixiert. Sie kontrolliert, was ihr Kind sich zuführt und teilt überstreng zu wenig Nahrung ein. Essen wird zum Druckmittel, das (durch verhasstes Klavierspielen oder gute Noten) verdient werden muss. Essen wird zum Liebesersatz für die fehlende Zuneigung. Ein Teufelskreis, der frühe Prägung erfährt und durch Erniedrigung und Bestrafung befeuert wird. Meine psychiatrischen Erfahrungen, in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, sagen mir, dass die Ess-Brech-Sucht und Magersucht ganz schwer zu therapieren ist. Und genau das zeigt die Autorin so gekonnt. Die Hauptdarstellerin zählt jede Kalorie, jeden Cent und vergleicht jedes Supermarktangebot. Sie gönnt sich nichts außer der Reihe, isst, was notwendig ist, um sich „normal“ zu fühlen. Sie findet eine Therapeutin, weil sie wirklich wirklich aus dieser tiefen Lebenskrise hinausfinden will. Doch sie scheitert am Alltag. Jede Entscheidung, die ihre Verantwortung fordert, macht ihr Angst, die sie zum Überessen zwingt. Jede ungewollte Entgleisung schürt ihren Selbsthass und zwingt sie in die Vorratskammer. Jedes Missfallen und das Gefühl, ungeliebt zu sein, befeuert das Bedürfnis, die innere Leere zu füllen. Jeder Stressmoment drängt sie zum Kühlschrank. Die Gedanken kreisen um nichts anderes als Essen und ob sie es sich leisten kann. Verarmungswahn trifft auf eine nicht reale Körperwahrnehmung. Was für ein enormer Stress, der alles an Energie kostet. Diese Geschichte zu lesen ist anstrengend und nervenzehrend. Die Ambivalenz der Betroffenen überträgt sich auf mich, ich liebe und hasse dieses Buch. Ich träume nachts vom Essen. Unglaublich, was die Autorin da geschafft hat, denn deutlicher kann man einem Außenstehenden nicht vor Augen führen, wie beschissen diese Erkrankung ist.

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Veröffentlicht am 01.12.2025

Außergewöhnliche Erzählung über Männlichkeit

Was nicht gesagt werden kann
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István ist mit seiner Mutter in eine andere Stadt gezogen. In der Schule ist der schüchterne Fünfzehnjährige mit dem Verhaltenskodex der Jugendlichen unvertraut. Ein anderer Außenseiter schließt sich ihm ...

István ist mit seiner Mutter in eine andere Stadt gezogen. In der Schule ist der schüchterne Fünfzehnjährige mit dem Verhaltenskodex der Jugendlichen unvertraut. Ein anderer Außenseiter schließt sich ihm an. Sie reden viel über Sex. Der unfreiwillige Freund hat ein Mädchen gefunden, mit dem er es macht. Er überredet sie, es auch mit István zu machen. Sie besuchen sie. István ist mit ihr allein in ihrem Zimmer, kriegt kaum ein Wort heraus. Er muss unverrichteter Dinge wieder gehen. Sie findet ihn nicht sexy, erfährt er. Er sei noch nicht so weit. Sein Freund hängt jetzt lieber mit anderen ab.

Die Nachbarin braucht Hilfe beim Einkauf. Seine Mutter sagt zu. István geht mit ihr zum Supermarkt, sie sprechen kein Wort. Er trägt ihr die Sachen hoch und folgt ihr in die Küche. Sie bietet ihm etwas Süßes an und obwohl er sich unwohl fühlt, setzt er sich an ihren Tisch und isst. Er spürt, dass sie Zuneigung für ihn empfindet. Er fühlt nichts für die alte Frau, die älter ist als seine Mutter. Sie fragt, ob sie ihn küssen darf. Er weiß nicht, was er sagen soll. Ihre Lippen berühren seine ganz sanft. Dann bittet sie ihn zu gehen. István stellt sich vor, wie sie nackt aussieht. Die Vorstellung erregt ihn. Er kann kaum erwarten, dass sie wieder einkaufen gehen. Wieder bietet sie ihm eine Süßigkeit an, wieder küsst sie ihn, diesmal mit Zunge. Beim nächsten mal darf er in ihrem Wohnzimmer auf der Couch sitzen. István hilft ihrem Mann in seinem Schrebergarten, um neben der Schule ein bisschen Geld zu verdienen. Nach einigen Monaten beendet die Nachbarin die Liebschaft. István ist ihr zu nahe gekommen, behauptete, dass er sie liebe. Er steigert sich in ihre Ablehnung hinein, lauert ihr im Hausflur auf. Sie geht ihm aus dem Weg und dann hält er es nicht mehr aus. Er klingelt am späten Abend bei ihr. Ihr Mann öffnet. István sagt, dass er sie sprechen will. Der Mann sagt, dass er verschwinden soll. Es kommt zu einem Handgemenge, der Mann stürzt die Treppe herunter und stirbt.

Fazit: David Szalay, der diesjährige Booker Prize Gewinner, hat das Leben eines Mannes gezeichnet. Der Ungar István wächst vaterlos bei seiner Mutter auf. Der tragische Unfall des Nachbarn führt ihn in die Jugendstrafanstalt. Danach ist er auf dem Arbeitsmarkt chancenlos und geht zur Armee. Der Irakeinsatz beschert ihm eine posttraumatische Belastungsstörung. István geht von Ungarn nach London und erarbeitet sich ein komfortables Leben. Die Geschichte ist ganz einfach geschrieben, der Klang ist lakonisch und ruhig. Die Lebensumstände sind prekär. Ich habe bisher nie einem Autor zugehört, der seinem Charakter so konsequent treu bleibt. István trifft selbst keine Entscheidungen, das machen immer andere für ihn. Er selbst treibt augenscheinlich willenlos durch sein Leben. Frauen sind für ihn beliebig, sie stoßen ihm zu und umgarnen oder überreden ihn. Zwei bis dreimal in seinem Leben zeigt er aggressives Verhalten, sonst ist er erstaunlich kontrolliert. Die Dialoge sind ermüdend wortkarg und emotionslos. Das Wort okay ist sein treuster Begleiter. Dennoch ist er empathisch, kann mit seinem Gegenüber mitfühlen. Er macht freiwillig Sport, rettet zweimal aus eigener Überzeugung einem Menschen das Leben, aber ansonsten bleibt er von sich selbst entfremdet. Und obwohl dieser Mensch so bewegungsunfähig ist, hat mich die Geschichte gefesselt. Ich wollte nach jeder Seite wissen, wie es weitergeht. Mir ist nicht wirklich klar, was die übergeordnete Botschaft ist oder ob es die überhaupt gibt. Am ehesten verstehe ich, dass István keine männlichen Vorbilder hatte und ganz ungünstig durch Frauen geprägt wurde. Dadurch fehlt ihm die Fähigkeit, seinen eigenen Mann zu stehen. Er scheint ein Bild verkörpern zu wollen, an dem er sich festhalten kann, wie an einer Krücke, das aber leer, körperlos bleibt und das ist gar keine Seltenheit. Eine außerordentliche Erzählung über Männlichkeit, die mich bewegt hat.

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Veröffentlicht am 28.11.2025

Transgenerative Kriegstraumata

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Der Zahnarztbesuch beleuchtet, was sie geahnt hat. Sie leidet unter nächtlichem Zähneknirschen. Der Abrieb ist so stark, dass ihre Gelenkkapsel in der Grube reibt. Ob sie Stress habe, will der Arzt wissen. ...

Der Zahnarztbesuch beleuchtet, was sie geahnt hat. Sie leidet unter nächtlichem Zähneknirschen. Der Abrieb ist so stark, dass ihre Gelenkkapsel in der Grube reibt. Ob sie Stress habe, will der Arzt wissen. Sie weiß, dass es so nicht ist und selbst wenn. Vielleicht hat sie die Wörter zu lange gefangen gehalten, grübelt sie.

Elias sagt, dass ihr sprachlicher Ausdruck so präzise ist wie der einer Synchronsprecherin. Vielleicht liegt es daran, dass sie die Deutsche Sprache als Kind vor dem Fernseher gelernt hat, überlegt sie. Monate später im Kindergarten, hörte sie die vage vertrauten Worte auch aus Kindermündern. Ihre Muttersprache ist Albanisch. Als jedoch Ende der 90er der Kosovokrieg begann, war Schluss mit dem heimatlichen Wortschatz. Sie mussten weg. Sobald sie die serbische Grenze erreichten, mussten sie schweigen. Nur ihr Vater konnte fließend Serbisch, hatte es in der Schule und beim Militär gelernt. Der Grenzbeamte forderte ihre Pässe, aber Mamas Hände zitterten so sehr, dass sie den Reißverschluss des roten Lederbeutels nicht öffnen konnte. Sie gab ihn dem Vater mit gesenktem Blick. Der Grenzbeamte sah auf sie herab, ließ sie aussteigen und das Auto ausräumen. Die Pässe gab er ihnen nicht zurück, er schob sie von sich, als wären sie Unrat. Da hatte sie zum ersten Mal gesehen, wie ihre Eltern gedemütigt wurden.

Wenn man mich fragt, woher ich „ursprünglich“ komme, möchte ich antworten: Ich komme von einem Ort, der verwüstet worden ist. Ich wurde in einem Haus geboren, das niederbrannte. Ich hörte Schlaflieder in einer Sprache, die unterdrückt wurde. Ich möchte antworten: Ich komme aus der Sprachlosigkeit. S. 11

Fazit: Jehona Kicaj hat sich in ihrem Romadebüt ihrer Heimat, dem Kosovo genähert. Ihre Protagonistin war ein stilles Kind, weil sie zur Sprachlosigkeit erzogen wurde. Ihre Eltern haben frühzeitig die Flucht nach Deutschland ergriffen und sind von der ethnischen Säuberung, des Völkermordes, den die serbischen Soldaten an den Kosovaren (ebenso an Kroaten und Bosniern) verübt haben, verschont geblieben. Doch offensichtlich erlebt man einen Krieg gegen die eigene Bevölkerung, die zurückgebliebenen Angehörigen, im Asyl ebenfalls, nur anders. Das stille Kind wächst zu einer stillen Frau heran, die die traumatischen Erfahrungen nicht verarbeiten kann. Und so zerbeißt sie in den Nachtstunden die Worte, die herauszufallen drohen. Mir gefällt gut, wie die Autorin die Protagonistin geschaffen hat. Eine unauffällige, introvertierte Frau, die unterm Radar fliegt. Ihr einziger näherer Bekannter hilft ihr, ihre Geschichte sichtbar zu machen und zu begreifen, indem er ihr zuhört und Interesse zeigt. Ein ruhiger Roman, der die Mechanismen dieses Unrechts sichtbar macht, die Feindseligkeit und den Hass der serbischen Bevölkerung, die sich völlig im Recht gefühlt hat und das Versagen der europäischen Staaten, die bei der Entwicklung der humanitären Katastrophe tatenlos zugeschaut haben. Ein wichtiges Buch über transgenerative Traumata.

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Veröffentlicht am 23.11.2025

Was wirklich wichtig ist im Leben

Das Leuchten des Himmels an dunklen Tagen
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Kathleen fragt Romy, ob sie noch auf einen Sprung mit zu Lola kommt, die eine Party feiert. Eigentlich ist Romy nicht nach feiern, denn ihr Herzensmensch ist heute Morgen ins Krankenhaus gekommen. Egon, ...

Kathleen fragt Romy, ob sie noch auf einen Sprung mit zu Lola kommt, die eine Party feiert. Eigentlich ist Romy nicht nach feiern, denn ihr Herzensmensch ist heute Morgen ins Krankenhaus gekommen. Egon, Romys Großvater, hatte den dritten Herzinfarkt. Romy kann eh nichts machen, ihrem Gedankenkarussell keinen Widerstand leisten und so geht sie mit.

Schon im Flur treffen sie auf viele Leute. Romy drückt sich an ihnen vorbei, sie will in die Küche und erst mal ankommen. Stille. Sie schiebt sich ein Stück Quiche in den Mund und bemerkt aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Jemand kommt herein und gießt sein Getränk nach. Sie betrachtet ihn und spürt die Anziehung, die von seiner Ausstrahlung ausgeht, diese Energie, die ihr bisher immer gefehlt hatte, als würde ihre innere Kompassnadel sich in seine Richtung justieren. Gerade als sie erfährt, dass er Jakob heißt, stürmt eine Frau mit Dreadlocks in die Küche und zitiert ihn ins Wohnzimmer.

Romy war zehn, als ihre Mutter sie bei Egon abgab. Sie fing noch einmal von vorne an und studierte. Ihren Vater hatte Romy nie richtig kennengelernt und dann hatten wohl beide die Nase voll von ihr.

Wenn Egon stirbt, ist niemand mehr da, der sich an meine Kindheit erinnert. S. 32

Und dann passiert es wirklich. Das Krankenhaus ruft Romy an, sie müsse schnell kommen. In seinem Zimmer angekommen sieht sie seine fahle Haut, die eingefallenen Wangen. Wie kann ein Mensch sich so schnell verändern? Romy setzt sich zu Egon ans Bett und nimmt seine Hand, lauscht auf seinen Atem, der immer wieder aussetzt. Dann verändert sich die Atmosphäre im Raum, die wenigen Farben leuchten intensiver, als könne Romy klarer sehen. Sie war diesen kurzen Moment abgelenkt und merkt erst jetzt, dass Egon gestorben ist. Sie hatte doch noch so vieles sagen wollen. Romy springt auf, rennt aus dem Zimmer, den langen Flur entlang, bis auf die Straße und nach Hause.

Fazit: Elli Kolb hat in ihrem zweiten Buch das Thema Verlust und Einsamkeit verhandelt. Ihre Protagonistin wächst bei ihrem liebevollen Großvater auf, der seine Leidenschaft für Tauben auf die Enkelin überträgt. Romy hat erfahren, wie sich Bezugspersonen immer wieder von ihr abwendeten und die Erkenntnis gewonnen, dass sie nicht liebenswert ist. Es mangelt ihr an dem Gefühl einer Daseinsberechtigung. Ihre fragile Persönlichkeit neigt zu Melancholie, fehlendem Lebenssinn und kleinen Dramen. Ihre resolute Mitbewohnerin Kathleen packt die Dinge gern gleich an und deren beste Freundin mit dem reichen Vater, der augenscheinlich nichts wehtut, stichelt gerne und behandelt ihre Mitmenschen herablassend. Jakob der Fels in der Brandung, der Interesse an Romy bekundet, die sich jedoch auf niemanden mehr einlassen will, weil es so wehtut, wenn der andere wieder geht. So viel zum Plot. Und dann ist da noch diese eine Taube, die von Romy gerettet und gepäppelt wird. Ich liebe die Beobachtungsgabe von Elli Kolb. Sie hat vier junge Menschen gezeichnet, die versuchen, ihren Weg im Leben zu finden. Alle vier sind ein bisschen versehrt, genau wie die Stadttauben, die ums Überleben kämpfen, aber man sieht es ihnen nicht an. Die Autorin entblättert die Verletzungen und weckt damit mein Mitgefühl. Der Roman entfaltet eine leise Kraft, die mein Herz berührt und mich an etwas ganz Wichtiges erinnert: Das, was wirklich zählt im Leben. Liebe, Wertschätzung und Zuneigung. Ein ganz warmer Roman, der auf Kitsch oder Pathos verzichtet und ganz sanft in die Seele eindringt. Sehr gelungen.

Ich habe auch ihren ersten Roman (9 Grad) sehr gemocht.

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Veröffentlicht am 21.11.2025

Eine zutiefst verstörende Geschichte

Kopflos
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Zweimal ist Lisa ihnen nach dem Urteilsspruch begegnet. Ein zarter Blickkontakt, ein leises Lächeln zwischen den Supermarktregalen. Genau dort lungert sie weiter rum, aber auch in den Herrentoiletten, ...

Zweimal ist Lisa ihnen nach dem Urteilsspruch begegnet. Ein zarter Blickkontakt, ein leises Lächeln zwischen den Supermarktregalen. Genau dort lungert sie weiter rum, aber auch in den Herrentoiletten, falls einer von ihnen Pipi machen muss. Sie sieht den Vater, wie er den Einkaufswagen mit Cava, Cocktails und Wein beläd. Artig und diszipliniert helfen sie ihm. Es wird sicher ein rauschendes Fest mit vielen Leuten und anderen Kindern.

Ihre Sozialwohnung ist zu schmal und heruntergekommen, um ihre Zwillinge zu empfangen. Die Treffen finden auf neutralem Boden unter Aufsicht einer Sozialarbeiterin statt. Während sie eineinhalb Stunden gezwungen mit ihren Jungs am Tisch sitzt, steht ihr Vater da und bläst Rauchwolken in die Luft. Es dauerte, bis sie eine Pflichtverteidigerin gefunden hat. Eine prüde Mittfünfzigerin, die ihr einen Dresscode verordnet: Weder Leder noch Animal Prints, keine tiefen Ausschnitte und Duschen wäre auch hilfreich, zumindest an den Besuchstagen. Und so sitzt sie einmal im Monat gleich nach dem Aufstehen am Loireufer herum, wartet, dass die Zeiger auf 15 Uhr 30 stehen und geht dann ins Zentrum. Die Tage des Wartens auf den monatlichen Besuch vertreibt sie sich mit nächtlichen Anrufen. Es gibt ihr ein gutes Gefühl, wenn er abnimmt und sie auflegt. Nicht zu wissen, wie sehr ihre Babys sie vermissen, macht sie verrückt. Obwohl sie die imaginäre Linie von zehn Kilometern rund ums Haus nicht überschreiten darf, schleicht sie bei Dunkelheit durch die Büsche und wirft einen Blick in die erleuchteten Fenster ihrer Söhne. Als jedoch der Schmerz sie aufzufressen droht, handelt kopflos.

Fazit: Du meine Güte, was war das denn? Ariana Harwicz, eine der wichtigsten Stimmen Argentiniens, hat die Leidensgeschichte zweier zerstörerischer Menschen kreiert. Die Erzählung beginnt mit der Protagonistin, Mutter von fünfjährigen Zwillingen. Ich erfahre, dass ihr wegen häuslicher Gewalt gegen ihren Mann, das Sorgerecht entzogen wurde. Lisa gammelt vor sich hin, lebt von Besuchstermin zu Besuchstermin, dazwischen verzehrt sie sich in der Obsession, ihre Kinder bei sich haben zu wollen. In kurzen Rückblicken, in Form ihrer Erinnerungen, erfahre ich das ganze Drama ihres Beziehungsgeflechts. Aus ihrer Sicht hat ihr Mann Gewalt gegen sie angewendet, die Tatsachen verdreht und mit Zeugen belegt, um das richterliche Urteil zu seinen Gunsten zu lenken. Die Persönlichkeit Lisas ist verblüffend unkonventionell gezeichnet. Sie wirkt wie eine toughe Frau, die sich wehrt, ein wenig verschlagen und berechnend und vor allem erstaunlich empathielos. Und genau dieser kluge Schachzug der Autorin macht Lisas Sichtweise unglaubwürdig. Im weiteren Verlauf der Geschichte, übrigens ein völlig irrer Trip, wird klar, dass es beiden toxischen Menschen gar nicht um die Kinder geht, sondern ums Gewinnen. Die Kinder sind Mittel zum Zweck, um beider verletztes Ego zu streicheln. Einzelne Szenen haben mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Entsetzlich mit anzusehen, wie dieser Machtkampf auf dem Rücken der Kinder ausgetragen wird. Schauderhaft eine Szene, in der Lisa in einer Bar landet. Die ganze Geschichte ist so verwirrend, dass ich mich verzweifelt auf die Metaebene gehangelt habe. Am Ende bin ich mir sicher, dass Lisa eine typische Borderline-Persönlichkeit ist, die weder eigene Grenzen noch die anderer akzeptiert und ihr Mann eine typische narzisstische Persönlichkeit mit Missbrauchserfahrungen durch die Mutter. Zwei zutiefst verstörte Seelen, die in dieser Kombination öfter anzutreffen sind. Und genauso verstörend kann dieser Horrortrip auf Lerser*innen wirken. Eine durch und durch toxische Beziehung, die wehtut, in einem Ausmaß, wie ich noch nie darüber gelesen habe.

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