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Veröffentlicht am 30.05.2025

Bildreich und spannend

Die Schrecken der anderen
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Methangas zu entzünden ist einfach. Du schlägst mit der Spitzhacke ein Loch in die dünne Eisschicht, hälst ein Feuerzeug dran. Zack Stichflamme. Dieser simplen Anleitung folgte der Dreizehnjährige am nächsten ...

Methangas zu entzünden ist einfach. Du schlägst mit der Spitzhacke ein Loch in die dünne Eisschicht, hälst ein Feuerzeug dran. Zack Stichflamme. Dieser simplen Anleitung folgte der Dreizehnjährige am nächsten Tag auf seinen Schlittschuhen. Er wird die Methangasblase finden, den See Feuer speien lassen, filmen, hochladen, berühmt werden.

Schibig ist froh, Archivar zu sein. Dieses ganz für sich und dem Papier zu sein, liegt ihm mehr als die Welt da draußen. Sein Therapeut hat ihm beigebracht, tief durchzuatmen, die Hände zu Fäusten zu ballen und langsam zu zählen. Diesen Notfallplan hat er so sehr verinnerlicht, dass seine Kehle sich bald wieder öffnet, nachdem sie sich krampfartig verschlossen hat. Aber dann ruft Phil an, der Bruder seiner Ex-Freundin und bittet ihn um einen Gefallen.

Schibig tappt über den gefrorenen Ödwilersee. Er kontrolliert seinen Herzschlag, kann weder Ohrensausen noch Übelkeit feststellen. Die Kälte hilft. Er wird nur kurz etwas für Phil überprüfen und dann Entwarnung geben. Die Alte mit der Zigarette in der Hand beobachtet ihn vom Wohnwagenfenster aus. Er könnte der richtige sein, denkt sie.

Hanna Kern bleibt trotz beidseitiger Bemühungen kinderlos. Jetzt sucht sie auf den entsprechenden Onlineseiten nach biologischem Material. Ihr Mann weiß das. Nicht, dass er es gutheißen würde, aber er weiß nicht, wie er sie davon abhalten kann.

Kerns Mutter thront unter dem Dach. Sie hat allerlei Ratschläge für das Paar parat. Aber nicht nur das. Boshaft und machtbesessen ist sie. Ist sie auch die Verwalterin des Nazigolds?

Fazit: Die Trägerin des Schweizer Buchpreises 2021 hat die Schrecken der Vergangenheit an die Oberfläche geholt und sichtbar gemacht. Mit kleinsten, auf den ersten Blick, zusammenhanglosen Episoden malt sie ein Gesamtbild. Ihre Sprache ist bildreich und so bin ich mittendrin in einer großen Vertuschung, die Agatha Christie gleichsam eine spannende Aufklärung findet. Fast jedes Kapitel endet mit einem gut gemachten Cliffhanger und lässt mich neugierig hoffen, bald mehr zu erfahren. Die Autorin ist ein ganz großes Schreibtalent. Das war mitreißend, spannend und unterhaltsam.

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Veröffentlicht am 30.05.2025

Die Entzauberung der Autor*innenschaft

Stehlen, Schimpfen, Spielen
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In zwei Jahren soll Barbi eine Poetikvorlesung halten. Das ist bestens, denn bis dahin hat sie noch unendlich viel Zeit. Vierzehn Tage davor hat sie allerdings noch keine Zeile geschrieben. Der Countdown ...

In zwei Jahren soll Barbi eine Poetikvorlesung halten. Das ist bestens, denn bis dahin hat sie noch unendlich viel Zeit. Vierzehn Tage davor hat sie allerdings noch keine Zeile geschrieben. Der Countdown läuft.

Tag 13

Sie findet keinen Anfang. Tippt, löscht, tippt, löscht. Selbstzweifel kriechen vom Nacken in den Magen und hinauf ins Gehirn. Im Hinterkopf urteilt ihre gesamte Familie, wie sie das immer getan hat. Barbi hat großkotzige Versprechen gegeben, weil jedes Projekt eine Ankündigung braucht, lange bevor es geschrieben ist und die wird sie wahr machen.

Tag 12

Sie verstreut Anekdoten darüber, was ihr vor, während und nach Lesungen passiert ist.

Tag 11

Sie hat sich das Handgelenk beim Schreiben verdreht. Der Arzt in der Notaufnahme ulkt: „Szenenscheidenentzündung. Haha.“ Jetzt stört sie die Schiene. Sie wird aber trotzdem alles geben.

Ihre Tante hatte sie schon frühzeitig aufgeklärt, dass aus ihr keine großartige Schriftstellerin werden würde, weil:

Sie aus armen Verhältnissen kommt und die wenigsten es schafften, sich darüber hinwegzusetzen.
Sie wohl eher in der Wohnung, in der sie geboren wurde, sterben würde.
Sie Agoraphobie bekommen oder eine schlecht verdienende alleinerziehende Mutter werden würde.

Tag 10

Ihr Konzept steht jetzt. Sie wird zuerst über das Stehlen schreiben, zum Beispiel über die Aneignung fremden Urhebereigentums.

Die Worte anderer führen manchmal weiter, als ich mich aus eigenen Kräften getraut hätte zu gehen. S. 34

Fazit: Barbi Marcovic erzählt über ihr Schreiben und wie sie es entwickelte. Sie studierte in Belgrad Germanistik. Während sie aus dem serbokroatischen übersetzte, schrieb sie ihr erstes Buch. Sie überlebte einen der verheerendsten Kriege und nahm ein Stipendium in Graz an. In ihrem ersten Buch eignete sie sich Textstellen von Thomas Bernhard an, die sie so gut mit ihren eigenen Worten vermischte, dass man sie zunächst für eine geniale Thomas Bernhard Nachfolgerin hielt. Sie kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen und verschweigt neben gut gesetzten Schimpftiraden auch nicht, welches Glück ihr widerfahren ist, um eben doch allen Unkenrufen zum Trotz, eine große Schriftstellerin zu werden. Ihr Buch ist frech, frisch und vollkommen anders als alles, was ich bisher gelesen habe. Ich muss gestehen, dass ich ihren Humor mag, dass ich den Kern des Buches aber wahrscheinlich nicht verstanden habe. Eine Entzauberung der Autor*innenschaft ist nachvollziehbar. Und habe ich da vielleicht auch eine leise Kritik am Literaturbetrieb vernommen? Und wenn ja, war das überhaupt beabsichtigt? Fragen über Fragen. Viele ihrer Gedankengänge fand ich richtig gut, aber der chaotische Aufbau hat mein konservativ gepoltes Hirn fertig gemacht. Alle, die experimentelle, neue, spritzige Literatur lieben, werden hierin ihren Seelenfrieden finden.

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Veröffentlicht am 29.05.2025

Intensive Geschichte

Proben
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Johanna wurde abgelehnt, zum Studiengang Regie in Berlin. Als Caro die Treppe hochgelaufen kommt und die Tür aufschließt, sitzt Johanna in der Küche und heult in ihre Spaghetti. Caro könnte das Ablehnungsschreiben ...

Johanna wurde abgelehnt, zum Studiengang Regie in Berlin. Als Caro die Treppe hochgelaufen kommt und die Tür aufschließt, sitzt Johanna in der Küche und heult in ihre Spaghetti. Caro könnte das Ablehnungsschreiben küssen. Sie hatte sich nicht vorstellen wollen, dass Johanna vier Jahre wegging, ohne sie.

Acht Jahre tingelte Johanna jetzt durch die Theaterwelt, hatte alles gemacht, Praktikantin, Schauspielerin, Komparsin, Regieassistenz und Mädchen für alles. Sie hatte jedes Angebot angenommen, viele unbezahlte Stunden in Kauf genommen und sich unter Wert verkauft. Caros eigenes Leben fühlte sich leer an, vollgestopft mit Arbeit zwar, mit dem Studium und den Verpflichtungen und dennoch leer. Sie wollte einfach nicht wie die Frauen in ihrer Familie werden, mit den Betonterrassen, dem Ehering an den geschwollenen Fingern und dem Busen über dem Einkaufswagen. Sie wollte, dass etwas von ihr blieb. Deshalb studierte sie Naturwissenschaften.

Seit dem Biochemiestudium, als eine der wenigen Frauen unter hunderten Männern, war Caro noch härter geworden. Sie hatte ihre weibliche Seite abgelegt, um möglichst unauffällig zu bleiben. Manchmal sehnte sie sich nach dieser weichen Zartheit, die nur Johanna aus ihr herauszaubern konnte. Johanna hatte sie vor fünf Jahren nach einer Party aus einem Hauseingang aufgegabelt. Caro hatte wiederholt Abstürze mit Filmrissen gehabt. Johanna hatte das nicht bewertet und ihr ihre Nähe geschenkt.

Fazit: Tara C. Meister hat in ihrem Debüt zwei Frauen zusammengebracht, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Caro ist verschlossen und zielstrebig. Sie war als einziges Mädchen neben zwei Brüdern und einem cholerischen Vater immer untergegangen. Ihre Strategie, durch Leistung zu glänzen, ging zum Teil auf. Johanna ist offen, liebevoll und chaotisch. Sie verlor ihre alleinerziehende Mutter an eine psychische Krankheit und musste sich immer wieder allein durchschlagen. Beide sind seelisch versehrt. Als Johanna schwanger wird und beschließt, das Kind zu behalten, schweißen die Fliehkräfte sie zusammen und treiben sie wieder auseinander. Die Bedürftigkeit auf beiden Seiten kann augenscheinlich nicht gut ausgehen. Diese Reibungen zwischen den beiden Frauen macht den Roman ungemein interessant. Der Erzählstil ist frei von Pathos, zeigt einfach die teils schwierigen Interaktionen und lässt mich in die Gefühlswelten der beiden Frauen eintauchen. Zum Ende spitzt sich die Situation dermaßen zu, dass ich Schnappatmung bekam. Eine intensive Geschichte mit langsamem aber stetigem Spannungsbogen. Sehr lesenswert.

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Veröffentlicht am 28.05.2025

Urkomisch

Polyphon Pervers
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Die Sabin hatte die Idee und deswegen versteht sich ja von selbst, dass die der Kopf von Polyphon Pervers ist. Und weil die Schanti die beste Freundin von der Sabin ist, ist auch klar, dass sie die mit ...

Die Sabin hatte die Idee und deswegen versteht sich ja von selbst, dass die der Kopf von Polyphon Pervers ist. Und weil die Schanti die beste Freundin von der Sabin ist, ist auch klar, dass sie die mit ins Boot geholt hat, als Kopf Nummer zwei. Die Sabin und die Schanti sind seit sieben Jahren ganz eng. Die haben im Sommer siebzehn absolut gar nichts anderes gemacht als auf ner Badewiese zu liegen. Da dachte die Sabin dann, man könne ja was machen und wenn schon, dann was geiles, so Leute treffen, bisschen Wein und Theater und das sagte die dann auch und das machten die dann auch.

Man solle das Projekt um Himmelswillen nicht Kunst nennen, hat die Sabin gesagt. Die Kunst sei so streitbar und kompliziert. Auch Kultur sei der falsche Begriff, weil da könne man sich so schwer abgrenzen, denn schließlich seien die Fasnachtbatschies ja auch Teil der Kultur, die dann im besoffenen Kopf ihre Schnapskaffees in den Fluss kotzten und die Fußballfans betrieben ja auch Fankultur. Und die Faschos hätten das Konzept ja mittlerweile auch für sich entdeckt. Und da hat die Sabin ja auch vollkommen recht. Unterhaltung sei das angemessene Wort für ihr Projekt, da könne man sich schön breit aufstellen und mal in Ruhe schauen, wie sich das Ganze dann so entwickelt.

Im Tournesol, man kann sagen, Kulturzentrum für Subkultur, aber das soll man ja nicht sagen, weils mittlerweile son Schubladenöffner ist. Da gibts Kunst, Konzerte, Partys, Poetry-Slams, regionale Limos, ein veganes Mittagsgericht, das Büchertauschregal, den queeren Stammtisch. Also quasi ein ganzes Haus voll Unterhaltung, da hat die Sabin dann einen Raum angemietet, um Polyphon Pervers groß zu machen.

Fazit: Béla Rothenbühler hat eine urkomische Inszenierung geschaffen. Er lässt seinen (ich schätze autofiktionalen) Protagonisten mundartlich über die Kunst- und Kulturszene schwadronieren. Er erzählt die Geschichte von zwei besten Freundinnen, die einen gemeinnützigen Verein aus dem Boden stampfen, der in erster Linie ihnen nützt. Polyphon Pervers trifft den zeitgeistigen Nerv und expandiert schier endlos. Beide haben ein glückliches Händchen und finden gleich die richtigen Stellen, die ihre Subventionstöpfe ausschütten. Die Mädels stellen ein ganzes Ensemble an Mitwirkenden ein. Irgendwann übertreffen die Einnahmen die Ausgaben, aber auch dafür findet sich eine Lösung. Der Autor gibt einen lustvollen, frivolen Einblick in die Szene und beleuchtet die Zusammenhänge zwischen Kommunalpolitik, kulturellem Engagement und Vetternwirtschaft und ich habe selten etwas so Komisches gelesen. Dieses Buch ist eine ungeheuer kreative, geistreiche und humorvolle Reise durch die Kantone. Ich habs geliebt.

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Veröffentlicht am 27.05.2025

Sehr experimentell

Lebensversicherung
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Sie teilt die Angst ihrer Familie vor nahezu allem, weil immer was passieren kann. Selbstverständlich hat sie eine Haftpflichtversicherung. Eine Hausrat-,private Krankenzusatz-, Berufsunfähigkeit-, Reisekranken-, ...

Sie teilt die Angst ihrer Familie vor nahezu allem, weil immer was passieren kann. Selbstverständlich hat sie eine Haftpflichtversicherung. Eine Hausrat-,private Krankenzusatz-, Berufsunfähigkeit-, Reisekranken-, Unfall- und eine Zahnzusatzversicherung, denn man weiß ja nie und der Tarif ist in der Menge günstiger. Ihre Eltern sind Versicherungsvertreter, so wie ihre Großeltern. Selbstredend hat sie die Tradition fortgeführt. Opa F war der erste Versicherungsvertreter im Dorf. Opa O war auch Versicherungsvertreter, machte sich aber im anderen Dorf selbstständig. Papa wurde Reiseversicherungskaufmann, weil er gerne die Welt kennenlernen wollte, übernahm dann die Kunden von Opa F und blieb doch im Dorf hängen. Mama wurde Versicherungskauffrau, das war praktisch, weil sie nebenbei Haushalt und Einkauf machen konnte.

Neunzehnhundertneunzig haben die Eltern ein Fertighaus ins Neubaugebiet gebaut. Im Erdgeschoss entstand Platz für ein kleines Versicherungsbüro mit Gäste-WC, einem Aktenarchiv und separatem Eingang. Die ganze Woche über empfingen die Eltern die Kunden in ihrer Niederlassung und am Wochenende klapperten sie die umliegenden Restaurants ab, um die Unterschriften für die Gebäudeversicherungen einzuholen.

Weil sie sich gut damit auskennt, denkt sie viel über Übelkeit nach. Magendruck vor dem Essen. Völlegefühl nach dem Essen. Übelkeit vor Müdigkeit. Darmkrämpfe. Sodbrennen mit leichtem sauren Reflux. Bauchweh kündigt Erkältung an. Kopfschmerz kündigt Bauchweh an. Diese Kenntnis existiert, seit sie denken kann. Warum weiß sie nicht.

Fazit: Katharina Bachs Prosadebüt verhandelt mit der Angst. Die namenlose Ich-Erzählerin blickt emotionslos auf ihre Familie und ihr eigenes Dasein, was mitunter amüsant ist. Der Text ist gespickt mit Notizen, die einzelnen Kapitel sind kurz und vielzählig. Obwohl die Autorin ihre Protagonistin immer wieder andeutungsweise zeigen lässt, dass die Familie wunderlich ist, erschließt sich das Tragische erst ganz zum Schluss und macht die Angst und das Bedürfnis nach Sicherheit völlig verständlich. Die Technik hat mich nicht wirklich mitgerissen und ich konnte mir lange nicht erklären, warum ich das Buch lese. Mir hat sich der Sinn nicht erschlossen, weil das Vergnügen fehlte. Den Schluss allerdings fand ich gelungen und erhellend.

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