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Veröffentlicht am 10.06.2025

Splatter im Buchformat

Yoko
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Als Yoko beobachtet, wie zwei Männer auf einen Hund einprügeln, greift sie ein.
Was sie nicht weiß: die beiden sind Teil der Mafia und lassen sich nichts vorschreiben. Sie kidnappen und missbrauchen die ...

Als Yoko beobachtet, wie zwei Männer auf einen Hund einprügeln, greift sie ein.
Was sie nicht weiß: die beiden sind Teil der Mafia und lassen sich nichts vorschreiben. Sie kidnappen und missbrauchen die junge Frau.
Um nicht in ständiger Angst leben zu müssen, beschließt Yoko, sich mit ein paar Handgriffen aus ihrer Metzgerlehre zu rächen.

Es klingt wie ein Splatterfilm und um ehrlich zu sein, liest es sich auch so. In Bernhard Aichners “Yoko” wird ohne Sinn und Verstand gemordet, eine Brutalität jagt die nächste. Der Plot ist belanglos, langweilig und befreit von jeglicher Logik.
Aichners Schreibstil besteht dabei aus sehr kurzen Hauptsätzen, die wohl für Spannung sorgen sollen, mich aber irgendwann nur noch genervt haben. Auch die Dialoge wirkten sehr gekünstelt und hatten nichts von einem echten Gespräch.
Nun würde ich gerne wenigstens etwas Positives über die Charaktere sagen, aber das kann ich leider nicht. Sie sind allesamt facettenlos und stigmatisiert, “die Chinesen” bekommen keine Beschreibung außer ebendieser. Am schlimmsten verhält es sich aber mit der Protagonistin Yoko:
Aichner hat den Klischee-Racheengel geschaffen und verzichtet dafür auf jegliche Authentizität. Ihre Gedanken und Gefühle sind überhaupt nicht nachvollziehbar, man empfindet weder Sympathie noch Empathie für sie.
Die Beschreibung ihres Missbrauchs ist außerdem komplett unsensibel (und danach klaut sie sich erstmal ein Fahrrad und radelt nach Hause, na klar).

Das einzig Gute ist, dass der Schreibstil so anspruchslos ist, dass man sehr schnell zum Ende kommt. Ich empfehle es allen, die einen Splatterfilm im Buchformat haben wollen. ⭐️1,5/5⭐️

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Veröffentlicht am 05.06.2025

Ausbruch aus patriarchalen und traditionellen Zwängen

Evil Eye
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Yara ist glücklich. Sie hat einen Mann, zwei wunderbare Töchter und einen erfüllenden Job. Sie wollte es stets anders machen als ihre palästinensischen Vorfahrinnen und das ist ihr auch gelungen - denkt ...

Yara ist glücklich. Sie hat einen Mann, zwei wunderbare Töchter und einen erfüllenden Job. Sie wollte es stets anders machen als ihre palästinensischen Vorfahrinnen und das ist ihr auch gelungen - denkt sie.
Als sie nach einem Vorfall psychologische Beratung in Anspruch nehmen muss, offenbart sie Stück für Stück ihr Innenleben und stellt fest, dass sie genauso in patriarchalen Zwängen gefangen ist wie schon ihre Mutter und Großmutter.

“Evil Eye” ist ein Roman, der sich mit patriarchalen Strukturen in der westlichen Welt, aber auch mit denen im Nahen Osten auseinandersetzt. Wir haben eine Protagonistin, die denkt, sich von ihrer Vergangenheit befreit zu haben, jedoch immer noch tief in den Strukturen gefangen ist - ohne es zu merken.
Neben diesem Konflikt gibt es einen weiteren: Die innere Zerrissenheit Yaras. Denn sie fühlt sich weder Palästina zugehörig - wie ihre Eltern und Großeltern -, noch den USA, wo sie geboren wurde.
Von diesen beiden inneren Konflikten weiß Yara zunächst gar nicht, bzw. sie will nichts davon wissen und verdrängt jegliche negative Gefühle lieber. Doch es kommt zu Wutausbrüchen und verzweifelten Überreaktionen. Als sie sich im Rahmen einer psychotherapeutischen Behandlung mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen muss, werden Traumata zutage gefördert, die tief in ihr verwurzelt waren.
Etaf Rum hat mit Yara eine Protagonistin geschaffen, mit der ich unglaublich gut mitfühlen konnte, obwohl wir nicht viel gemeinsam haben. Obwohl ich viele Probleme und Sorgen nicht kenne, fühlte es sich beim Lesen an, als seien es meine eigenen. Ich bin ihr also gerne durch die 400 Seiten des Romans gefolgt und habe bereitwillig ihre Perspektive eingenommen.
Außerdem fand ich es spannend, die Traditionen und Geschichten ihrer Vorfahrinnen kennenzulernen und zu sehen, welchen Einfluss sie auf Generationen von Frauen hatten. Interessant ist hierbei, dass Yara zwar einerseits als Cycle Breakerin fungieren möchte, andererseits lernen muss, ihre Vergangenheit und die der palästinensischen Kultur anzunehmen.
Es gibt also keine einfache, allgemeingültige Lösung, sondern eine individuelle, menschliche.
Sehr berührt haben mich auch die Beschreibungen, in denen Yara anfängt, sich in ihre eigene Mutter hineinzufühlen, von den Vorwürfen zu Verständnis wechselt und ihr verzeihen kann.

“Evil Eye” ist ein Roman, der mir eine neue Perspektive ermöglicht hat. Ein Roman über Selbstermächtigung, den Ausbruch aus patriarchalen und traditionellen Strukturen und dem Versöhnen mit der Vergangenheit. ⭐️4/5⭐️

*Übersetzt von Heike Reissig



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Veröffentlicht am 03.06.2025

Die andere Seite der Mutterschaft

Der Verdacht
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Als Mutter muss man seine Kinder lieben, oder?
Was, wenn es nicht so ist?
Und was, wenn man sein Kind für das Schrecklichste verantwortlich macht, was einem je passiert ist?

“Der Verdacht” beschäftigt ...

Als Mutter muss man seine Kinder lieben, oder?
Was, wenn es nicht so ist?
Und was, wenn man sein Kind für das Schrecklichste verantwortlich macht, was einem je passiert ist?

“Der Verdacht” beschäftigt sich mit einer Mutter, die erst voller Vorfreude auf ihr perfektes Familienglück ist und mit der Geburt von Panik ergriffen wird. Sie kann keine Liebe empfinden für das kleine Wesen, das unaufhörlich schreit, kämpft noch mit den Strapazen des Wochenbetts und fürchtet gleichzeitig, eine ebenso abwesende Mutter wie ihre eigene zu sein.
Von Anfang an hat sie das Gefühl, ihre Tochter kann sie nicht leiden und fragt sich, ob das auf Gegenseitigkeit beruht.
Viele Unsicherheiten und anfängliche Zweifel konnte ich gut nachempfinden und so schafft die Autorin eine interessante Mischung aus Verbundenheit und Distanziertheit zur Protagonistin.
Ungewöhnlich ist auch der Erzählstil, denn der Roman ist in Briefform geschrieben und spricht den (Ex-)Mann der Protagonistin direkt an. So erfahren wir die Sicht der Mutter selbst und fragen uns ständig, wie glaubwürdig die Erzählerin ist. Die so gesäten Zweifel bestehen bis zum Schluss.
Zwischendurch tauchen immer wieder Kapitel auf, welche die Generationen von Müttern vor der Protagonistin beleuchten und zeigen auf, wie sich die fehlende Fürsorge zum eigenen Nachwuchs durch den gesamten Stammbaum zieht.

Der Roman behandelt viele Themen, beschäftigt sich aber insbesondere mit der Frage, ob jemand böse geboren werden kann oder ob unsere elterlichen Projektionen einen Menschen zu dem formen, der er ist.

Ich konnte ihn kaum aus der Hand legen und wurde voll und ganz von der unterschwelligen Spannung eingenommen. Das Ende ist halboffen, die oben genannte Frage bleibt unbeantwortet und lässt einen etwas unbefriedigt zurück. ⭐️4/5⭐️

*Übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

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Veröffentlicht am 31.05.2025

Bricht einem auf tausend Arten das Herz

Shuggie Bain
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Douglas Stuart entführt uns ins Glasgow der 1980er. Hier wächst Shuggie in einer Arbeiterfamilie auf, zwischen Armut und Alkohol.
Trotz des eher distanzierten Schreibstils geht einem die Geschichte unglaublich ...

Douglas Stuart entführt uns ins Glasgow der 1980er. Hier wächst Shuggie in einer Arbeiterfamilie auf, zwischen Armut und Alkohol.
Trotz des eher distanzierten Schreibstils geht einem die Geschichte unglaublich nahe und Stuart lässt einen hunderte verschiedene Arten von Schmerz fühlen. Interessant ist dabei, dass Emotionen gar nicht genau beschrieben, sondern durch kleine Gesten dargestellt werden und auf diese Weise viel intensiver beim Leser/ der Leserin wirken können.
Shuggies Mutter ist Alkoholikerin und schon früh beginnen sich die Rollen zu vertauschen, sodass er sich um sie kümmern muss. Zwischen all dem Leid, das die Sucht verursacht, gibt es immer wieder ein kleines Aufleuchten, das einen die Liebe zwischen Mutter und Sohn spüren lässt. Die Liebe, aber auch die emotionale Abhängigkeit und Zerrissenheit Shuggies. Und ich gestehe: Auch ich bin in diesen Strudel geraten. Ich habe mich gemeinsam mit dem jungen Protagonisten an jedes Fünkchen Hoffnung geklammert, jedes Mal aufs Neue daran geglaubt, dass seine Mammy es endlich schafft, nüchtern zu bleiben - um dann jäh enttäuscht zu werden.
Als wäre das nicht genug für eine Kindheit, muss Shuggie auch seine eigene Identität hinterfragen bzw. überhaupt einmal herausfinden, denn er und alle um ihn herum merken schon früh, dass er sich anders verhält als andere Jungs, dass er sensibler und feinfühliger ist.

Obwohl Stuart vordergründig die Geschichte Shuggies erzählt, gelingt es ihm, ein ganzes Milieu zu porträtieren. Und schnell wird deutlich, dass jede*r sein/ihr eigenes Päckchen zu tragen hat.
Hier möchte ich einmal anmerken, dass der gesprochene Slang sehr treffend von Sophie Zeitz ins Deutsche übertragen wurde, ihre Übersetzung ist wirklich großartig.
Das Schlimmste an der Handlung ist, dass das beschriebene Leid zwar kaum aushaltbar, dennoch nicht unrealistisch ist. Douglas Stuart hat eigene Erfahrungen einfließen lassen und das macht die ganze Sache noch einmal tragischer.

“Shuggie Bain” ist ein intensiver Roman voller Schmerz, aber auch voller Liebe und Hingabe. Er wird mir definitiv noch lange im Gedächtnis bleiben und ich möchte ihn allen ans Herz legen, die nicht zu zart besaitet sind und mit den negativen Emotionen umgehen können/wollen. ⭐️5/5⭐️

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Veröffentlicht am 21.05.2025

Zwischen Bullerbü-Kindheit und menschlichen Abgründen

Vergiss mich
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Alex Schulman gibt in “Vergiss mich” so viel von seinem Privatleben preis wie nie zuvor. Es ist ein autobiografisches Buch über das Aufwachsen mit seiner alkoholkranken Mutter. Das Buch ist im schwedischen ...

Alex Schulman gibt in “Vergiss mich” so viel von seinem Privatleben preis wie nie zuvor. Es ist ein autobiografisches Buch über das Aufwachsen mit seiner alkoholkranken Mutter. Das Buch ist im schwedischen Original schon 2016 erschienen und wurde nun von Hanna Granz ins Deutsche übersetzt.
Die Erzählung startet und endet mit der Gegenwart, dazwischen zeigen szenenhafte Rückblicke Bilder von Schulmans Kindheit. Sie sind nicht chronologisch sortiert, sondern nach der Art der Gefühle, die sie in ihm ausgelöst haben: Warme Erinnerungen, die voller Liebe und Geborgenheit sind. Aber auch solche, in denen seine Mutter tagelang nicht ihr Schlafzimmer verlässt, ihre Söhne anschreit, aus dem Nichts die Kontrolle verliert.
Wie kam es zu diesem harten Gefälle? Und was macht es mit einem Sohn, seine Mutter an die Alkoholsucht zu verlieren? Diese Fragen versucht der Autor mithilfe des Buches zu beantworten.

Zugegebenermaßen habe ich ab und an den Überblick verloren und hätte mir mehr zeitliche Einordnungen gewünscht. Andererseits macht es für die Dringlichkeit der Aussagen auch keinen Unterschied, wann gewisse Szenen sich zugetragen haben.
Was mich sehr berührt hat, war der Grad der eigenen Verletzlichkeit, den Schulman hier offenbart. Er schreibt über seine eigenen Zusammenbrüche, Panikattacken, seine Hilflosigkeit. Oft bekommt man sehr intime Einblicke in sein Gefühlsleben und gerade das macht einen beim Lesen sehr betroffen. Diese menschliche Darstellung seiner selbst hat mich sehr gerührt, an keiner Stelle hat man das Gefühl, Schulman wolle sich inszenieren oder in ein gutes Licht rücken.
Aber der Ton ist nicht nur negativ, die Grundstimmung ist hoffnungsvoll und das Ende lässt einen vielleicht nicht glücklich, aber doch mit einem versöhnlichen Gefühl hinausgehen.
Für Leser*innen seiner Romane könnten auch die erkennbaren Parallelen zu “Die Überlebenden” besonders sein sowie weitere Anekdoten an seinen Großvater Sven Stolpe, den wir bereits aus “Verbrenn all meine Briefe” kennen.

“Vergiss mich” ist eine Biografie, die sich liest wie ein Roman. Sie vermittelt unendlich viel Schmerz, aber noch mehr Liebe, und jongliert mit den glücklichen Erinnerungen an eine Bullerbü-Kindheit und den schrecklichen Abgründen des Alkoholismus. ⭐️4,5/5⭐️

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