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Veröffentlicht am 05.12.2021

Auf nach Kiew!

Eine Formalie in Kiew
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Auf nach Kiew!

Bereits die ersten Seiten präsentieren gefährliche Gullydeckel und delikaten Würzspeck, die GUS als Zentrum des Interesses steht fest!
Dmitrij Kapitelman kam achtjährig als jüdischer Kontingentflüchtling ...

Auf nach Kiew!

Bereits die ersten Seiten präsentieren gefährliche Gullydeckel und delikaten Würzspeck, die GUS als Zentrum des Interesses steht fest!
Dmitrij Kapitelman kam achtjährig als jüdischer Kontingentflüchtling mit seiner Familie nach Deutschland, und 25 Jahre später entschließt sich der Mitdreißiger, die deutsche Staatsbürgerschaft anzustreben. Zwei Dinge sind es, die ihn dazu motivieren: die zunehmende Entfremdung von Vater und Mutter, die ihrem Leben in Germanija mit Distanz und Enttäuschung gegenüberstehen, den Sohn hingegen kritisch als „Deutschen“ kategorisieren, sowie die Veränderung des politischen Klimas in Sachsen, wo Neonazis zunehmend den Ton angeben.
Die Ausländerbehörde in Leipzig fordert nur ein weiteres Dokument, um Kapitelmans Ansinnen stattzugeben, eine um eine Apostille ergänzte Geburtsurkunde, ausschließlich in Kiew zu erlangen, und so erfolgt der Aufbruch ins Land der Kindheit, geimpft mit den elterlichen Erfahrungen aus der Sowjetzeit. Also begleitet der Leser den Helden nach Kiew, wo er gezwungen ist, durch mancherlei Begegnungen sich ein eigenes Bild von der Ukraine der Gegenwart zu machen. Doch gerade im Augenblick, als nach erfolgreich absolviertem Programm die Heimreise angetreten werden soll, wartet ein Schicksalsschlag auf Dima, der ihm zunächst den Boden unter den Füßen wegzuziehen droht: Plötzlich erscheint der schwer erkrankte Vater auf der Bildfläche. Damit widmet sich der zweite Teil des Romans einer ganz anderen Aufgabe, die den Helden reifen lässt, ihm neue Erkenntnisse ermöglicht. Alle Ressentiments, die sich in Dimas Leben gegen die Eltern ausgebildet haben, entladen sich in diesem Erzählstrang, wo es darum geht, für den Vater notgedrungen medizinische Hilfe zu suchen.
Heftig toben die Gefühlsregungen des Sohnes, sieht er sich doch konfrontiert mit sämtlichen Defiziten seiner Erzeuger. Und doch regt sich im Verlauf dieser Wochen so etwas wie Verständnis und Nachsicht, mühsam und zaghaft gelingt es Dima, seine emotionalen Barrieren wenigstens teilweise abzubauen. Am Schluss steht dem Leser ein gereifter Held gegenüber, der nicht mehr länger im Gefängnis der in seiner Adoleszenz allmählich aufgebauten Seelenverkrustung verharren muss.
Frappierend die von Kapitelman an den Tag gelegte Sprachkunst: ironisch, kreativ, souverän mit dem ihm zur Verfügung stehenden Material der erworbenen zweiten Sprache spielend. Urkomisch und unvermittelt melancholisch stellt der schmale Roman ein Dokument zeitgenössischer Gestaltung der dem Leser vertrauten historischen ostjüdischen Geisteshaltung dar. Nahtlos fügen sich substanzielle Reflexionen über die perpetuierte Existenz des Migranten in die burlesken Schilderungen der bestandenen Abenteuer ein. Ein überzeugender Wurf, durch den dieses zweite Buch des Autors, einem breiteren Publikum durch seine Kolumnen in der ZEIT vertraut, zu den schönsten literarischen Hoffnungen Anlass gibt!

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Veröffentlicht am 29.10.2021

Gemischt ausfallendes Urteil!

Little Women. Beth und ihre Schwestern
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Gemischtes Urteil

Es dürfte völlig außer Frage stehen, dass dieses klassische Werk der Jugendliteratur in der heutigen Zeit sich allein an ein Publikum ausgesprochener Liebhaber wendet. Umso anerkennenswerter, ...

Gemischtes Urteil

Es dürfte völlig außer Frage stehen, dass dieses klassische Werk der Jugendliteratur in der heutigen Zeit sich allein an ein Publikum ausgesprochener Liebhaber wendet. Umso anerkennenswerter, dass Reclam sich bemüßigt fühlt, der begrenzten Auswahl an deutschen Übersetzungen eine aufwendig gestaltete Ausgabe hinzuzufügen. Es gehört ein gerüttelt Maß an souveräner Distanz dazu, die in diesem Buch vertretenen Einstellungen, Werte und Normen als Ausdruck einer vergangenen Zeit hinzunehmen. Unsere heutigen Standards hinsichtlich weiblichem Rollenverständnis an diesen Titel heranzutragen, dürfte Louisa May Alcott nicht gerecht werden. Umso erfreulicher, dass die Autorin sehr wohl sich um differenzierende Charakterzeichnung bemüht. So gibt es in der jungen Generation keinesfalls ausschließlich positive oder gänzlich negative Figuren. Im Gegensatz zu den durchweg strahlend hell gezeichneten Eltern kämpft jede der vier Schwestern mit ihrem eigenen Defizit. So ist der pädagogische Ansatz für uns heutige Leser eindeutig identifizierbar: Meg und Jo, Beth und Amy haben jeweils ihr ganz individuelles Profil, was sie vereint, ist der unbedingte, ihnen durch das Vorbild von Mutter und Vater anerzogene Willen, ihre Schwächen zu überwinden. Sehr fortschrittlich für ihre Zeit, dass die positive Einflussnahme auf eine männliche Hauptfigur, Laurie, Früchte trägt und er sich zu einem gereiften jungen Mann entwickelt, was allein der Zuwendung durch die vier Nachbarsmädchen zu danken ist.

Die angefügten Wort- und Sacherklärungen am Ende des Buches sind hilfreich, ein zusätzlicher umfassender Essay allerdings hätte die Ausgabe nochmals aufgewertet.

Allerdings fühle ich mich bemüßigt, die Abstriche nicht unerwähnt zu lassen, die nach meinem Dafürhalten dieser neuen Ausgabe anzukreiden sind. Es ist ein Wagnis und eine Herausforderung, einem zeitlich recht weit zurückliegendem literarisches Werk durch die Übersetzung in eine andere Sprache einen leichteren Zugang zu verschaffen. Die Übersetzerin dieser Reclam-Ausgabe hat in meinen Augen des Guten zu viel getan. Indem sie dezidiert modernen Jargon einsetzt, der zweifelsfrei der unmittelbaren Gegenwart entstammt, ist der Kontrast zwischen inhaltlich vermittelter Ideologie und sprachlichem Gewand überaus deutlich, und die Gefahr ist groß, dass innerhalb kürzester Zeit diese Fassung auch wieder veraltet und obsolet erscheint. Ausdrücke wie "aus einer Nummer wieder herauskommen" zum Beispiel, willkürlich herausgegriffen aus einer Vielzahl von sprachlichen Missgriffen, verursachen eine Diskrepanz zwischen dem sehr wohl wahrgenommenen inhaltlichen Substanz und der übermäßig aktuellen Sprachgestalt.

Ein weiterer zu diskutierender Aspekt ist die gewählte Formensprache der Illustrationen. So begrüßenswert es ist, einem Buch durch eine aufwendige Gestaltung eine größere Wertigkeit zu verleihen, so sind aber doch gewisse Aspekte zu erörtern. Ganz offenkundig der Ehrgeiz der Illustratorin, ihren Abbildungen den Stempel die ureigene Individualität ihrer Formensprache zu verleihen, doch ist es nach meinem Dafürhalten wenig überzeugend, wenn die Physiognomie der vier Protagonistinnen sich doch kaum voneinander abheben, auch die Proportionen, die der unteren Körperhälfte ein entschiedenes Übergewicht verschaffen, sind einem gegenwärtigen Modeideal überlanger Beine geschuldet. So ansprechend die Idee der eingestreuten Vignetten ist, so ermüdend die immergleiche Abfolge von identischen Körbchen, Teekannen und -tassen, aufgeschlagenen Büchern und dergleichen mehr.

Meine entscheidende Kritik jedoch richtet sich an den Verlag! Es sollte Reclam doch möglich sein, einen Korrekturleser zu beschäftigen, der sein Handwerk gelernt hat. Die Unentschiedenheit, den guten Geist der Familie, Hannah, mal mit, mal ohne 'h' am Wortende zu schreiben, aus 'Buch' ein 'Tuch' zu machen, wodurch der Sinn des Satzes vollkommen kryptisch wird, einzelne Buchstaben innerhalb eines Wortes verschütt gehen zu lassen, und sogar gänzlich skandalöse Grammatikfehler nich zu korrigieren - das ist kein Ruhmesblatt!

Insgesamt also ein durchaus gemischt ausfallendes Urteil über diese Neuausgabe eines unverzichtbaren Klassikers der amerikanischen Literatur. In einer zweiten Auflage wenigstens die zuletzt genannten ärgerlichen Schnitzer auszumerzen, sollte keine zu große Schwierigkeit darstellen!

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Veröffentlicht am 21.10.2021

Brandaktuell, emphatisch, unaufgeregt

Wenn ich wiederkomme
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Wieder hat der italienische Autor Marco Balzano ein aktuelles sozialpolitisches Thema aufgegriffen und zu einem packenden, menschlich berührenden Roman verarbeitet.
Es ist eine unbestreitbare Tatsache, ...

Wieder hat der italienische Autor Marco Balzano ein aktuelles sozialpolitisches Thema aufgegriffen und zu einem packenden, menschlich berührenden Roman verarbeitet.
Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass in Westeuropa die Versorgung der alten Bevölkerung zusammenbräche, wenn nicht Menschen, vorwiegend Frauen aus osteuropäischen Staaten diese Aufgaben in einer rechtlichen Grauzone übernehmen würden.
Die weitreichenden persönlichen Konsequenzen jedoch führt der Autor dem Leser deutlich vor Augen, wenn er in der kunstvollen und unmittelbar nachvollziehbaren Komposition des Romans das Geschehen aus drei verschiedenen Perspektiven beleuchtet.
Naturgemäß ist der erste Abschnitt aus dem Blickwinkel des pubertierenden Sohnes der emotional aufwühlendste: lebensnah, dass ein Jugendlicher am wenigsten in der Lage ist, die Herausforderungen der neuen Lebenssituation zu bewältigen.
Im Zentrum des Romans steht die Figur der Mutter, in deren Leben sich vielfältige Frustrationen vermischen: die entbehrungsreiche und unbefriedigende Existenz in der Heimat, das verkümmerte Dasein in der Fremde und die elementare Erschütterung angesichts der Situation nach ihrer Rückkehr.
Den Abschluss bildet die mentale Befindlichkeit der älteren Tochter, der allzu viel Verantwortung aufgebürdet, ein Teil ihrer Jugend geraubt wurde.
Der Ausblick des Romanendes in Hinblick auf ihre Entwicklungsmöglichkeiten öffnet dem Leser höchst ambivalente Alternativen: wartet auf diese Tochter die Chance eines positiven Neuanfangs, oder geht sie womöglich in die Falle, das Dilemma der Mutter nur zu variieren?
Großartig Balzanos Leisung, den Kontrast zwischen Ost und West atmosphärisch dicht zum Leben zu erwecken, hinsichtlich der gänzlich unterschiedlichen Schauplätze, der Gewohnheiten, Daseinsentwürfe, Wertvorstellungen.

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Veröffentlicht am 13.10.2021

Wenig inspirierende Lektüre

DAFUQ
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Nach vierjährigem berufsbedingten Aufenthalt in der Postsowjetunion schien mir die Lektüre von Dafuq ein unverzichtbares Muss zu sein. Leider konnte der Roman meine hohen in ihn gesetzten Erwartungen nicht ...

Nach vierjährigem berufsbedingten Aufenthalt in der Postsowjetunion schien mir die Lektüre von Dafuq ein unverzichtbares Muss zu sein. Leider konnte der Roman meine hohen in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllen. So erhoffte ich einen authentischen Einblick in die Denkweise der jungen oppositionellen Intelligenz, als deren Repräsentantin die Protagonistin Anja gelten soll. Aber mehr als standardisierte Floskeln hatte diese Figur nicht zu bieten. Die zahlreichen Rückblenden in Anjas Kindheit und Jugend wurden wenig inspiriert heruntererzählt. Weder die Ereignisse noch die inneren Vorgänge in den jeweiligen Lebensphasen vermochten mich zu fesseln. Die kontinuierlich eingeschalteten Visionen oder Wahnvorstellungen und insbesondere der mythologisch hergeleitete Schluss verrieten den verzweifelten Ehrgeiz, Anklänge an die Dämonie der russischen Klassiker heraufzubeschwören. Die Abfolge der einzelnen Tage dieses Arrestaufenthalts und die Gruppe der Mithäftlinge wurden weder sprachlich noch inhaltlich fesselnd gestaltet. Immer wieder die gleichen Formulierungen dienten zur Beschreibung der einzelnen Charaktere, die Abschilderung der immer gleichen Abläufe erzeugten keinerlei fesselnde Sogwirkung. Leider eine rundherum enttäuschende Leseerfahrung!

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Veröffentlicht am 07.09.2021

Heimkehr in ein fremdes Land

Ritchie Girl
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Eine Tour de Force durch das Deutschland nach dem Zusammenbruch, ein ehrgeiziges Romanprojekt, ein interessantes und informationsreiches Leseerlebnis - aber ….

Widerstreitende Gefühle, schwankende Gewissheiten ...

Eine Tour de Force durch das Deutschland nach dem Zusammenbruch, ein ehrgeiziges Romanprojekt, ein interessantes und informationsreiches Leseerlebnis - aber ….

Widerstreitende Gefühle, schwankende Gewissheiten dominieren eine junge Frau, die eine Hölle durchschritten hat, glaubte, ihr entronnen zu sein, sich aber gezwungen sieht, in einer neuen Rolle in ihr altes Leben zurückzukehren.

Unterschiedliche Loyalitäten kämpfen im Bewusstsein der Protagonistin Paula darum, die Oberhand zu erlangen. Sie war Tochter ihres Vaters, eines reichen amerikanischen Geschäftsmannes, der ohne Prinzipientreue sich auf Wirtschaftsverbindungen mit der Nazi-Industrie einließ. Sie war Freundin eines jüdischen Mädchens, das sie im Stich ließ. Und sie war die Geliebte eines Deutschen, den sie abwies, um dann umso dringlicher nach ihm zu suchen.

Es ist eine Fülle an historischen Fakten, die den interessierten Leser in Bann ziehen, doch gleichzeitig muss eine ganze Reihe an eher befremdenden Charakteristika dieses Romans registriert werden.

Die Figur der nach Deutschland heimkehrenden Paula, jetzt in der Rolle eines Geheimdienstoffiziers, bleibt seltsam blass. Ihre Attraktivität wird dauernd angesprochen, ebenso wie ihre permanenten Zweifel an sich selbst und den Menschen, die ihr nahestanden und -stehen. Ebenso wird konstant herausgestrichen, wie sehr sie sich abgestoßen fühlt von der Bereitschaft ihrer amerikanischen Landsleute, mit alten Nazis zusammenzuarbeiten, ebenso wie von der Neigung der Deutschen, wieder zur Tagesordnung überzugehen.

Keinesfalls überzeugend muss auch der Kunstgriff des Autors genannt werden, die Figur seiner fiktiven Heldin mit dem who is who der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts biographisch zu verknüpfen. Ein Register aller realen Persönlichkeiten, die mit Paula persönlich verbunden sind, würde mehrer Seiten beanspruchen!

Ärgerlich ist auch die Eitelkeit des Autors zu nennen, wenn er seine sprachlichen und stilistischen Pirouetten dreht: übermäßig gesucht die Ausdrucksweise, eine überbordende Verwendung von gewollt aparten Vergleichen und Metaphern, auch ein gelegentlich gezielt rüder Sprachgestus kommt zum Einsatz.

Der Detailreichtum dieses aufwendig recherchierten Romans ist hervorzuheben, die Reserviertheit gegenüber der gestalterischen Umsetzung soll nicht verschwiegen werden.

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