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Veröffentlicht am 18.06.2025

Ein Buch über Familie, Abschied und Trauer, das Tiefe hat und Zeit braucht

Heute kein Abschied
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Oskar stirbt. Mitten auf dem Flughafen Schiphol bricht er zusammen und ist tot. Plötzlich und unerwartet aus dem Leben gerissen, zwar schon in etwas reiferem Alter, aber doch unerwartet für alle... insbesondere ...

Oskar stirbt. Mitten auf dem Flughafen Schiphol bricht er zusammen und ist tot. Plötzlich und unerwartet aus dem Leben gerissen, zwar schon in etwas reiferem Alter, aber doch unerwartet für alle... insbesondere für seine drei erwachsenen Kinder und seine Ex-Frau.

Da gibt es Tessel, die Älteste, eine Schriftstellerin, mit Mann und Tochter und insgesamt geordnetem Leben. Sie ist Anfang 40, war als älteste Tochter immer die Vernünftige, die, die alles unter Kontrolle hat, und auch die, die nach wie vor in der Nähe des Vaters gelebt hat. Dann der Mittlere und einzige Sohn, Moor, in seinen 30ern, der Rebell der Familie, der ein Leben fernab bürgerlicher Konventionen lebt und sich am Vater und dessen Wünschen und Vorstellungen vom Leben abgearbeitet hat. Und schließlich Nesthäkchen Cat, Anfang 30, die in den USA lebt und studiert.

Wie gehen diese drei unterschiedlichen Geschwister mit diesem Abschied um? Aber nicht nur das, in dem Buch geht es um noch viel mehr, als nur um die Zeit unmittelbar nach dem Todesfall, zu der die Geschwister zusammen kommen, das Begräbnis organisieren und die Verlassenschaft aufteilen.

Abwechselnd wird aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt. So kommen nicht nur die drei Geschwister zu Wort und wir erleben mit, was für einen unterschiedlichen Vater sie doch jeweils erlebt haben und erinnern. Auch Oskar selbst lernen wir kennen, in seiner Zeit als junger Mann, dann, als er Elise, die Mutter der Kinder, kennen lernte, in der Partnerschaft, als Familienvater und auch später, als die Ehe gescheitert war. Und auch Elises Perspektive wird gezeigt.

So erleben wir in diesem klugen und vielschichtigen Buch mit, dass es gerade in zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen Partnern, aber auch zwischen Eltern und Kindern oder zwischen Geschwistern, nicht die eine Wahrheit gibt, sondern ganz unterschiedliche Standpunkte und Perspektiven, die alle für sich ihre Gültigkeit haben.

Es ist ein Buch, für das ich empfehle, sich Zeit und Ruhe zu nehmen. Nicht nur aufgrund des durchaus beträchtlichen Umfangs von knapp 500 Seiten, sondern auch, weil es seine Qualität ganz besonders entfaltet, wenn man Zeit hat, die verschiedenen Worte, Perspektiven und Weisheiten auf sich wirken zu lassen, darüber nachzudenken, sie auf das eigene Leben zu beziehen und vielleicht auch mit anderen darüber zu sprechen. Dieses Buch kann man auch gut mehrmals lesen und wird immer wieder neue Erkenntnisperlen darin entdecken, es ist kein Fast-Food-Buch zum Schnell-Lesen, sondern ein Gourmet-Menü-Buch zum Genießen und Wirken-Lassen.

Hier ein paar Beispielzitate für die Sprache dieses Buches, die mir sehr gut gefallen hat und die voll von ganz besonderen Sätzen ist:

Ganz am Anfang, als Oskar merkt, dass er stirbt:

„Es ist offensichtlich, welches Ereignis sich vor ihm erstreckt. Das spürt er. Obwohl keiner von uns jemals zuvor gestorben ist, wissen wir im entsprechenden Moment, dass es geschieht, dass es begonnen hat.“ (S. 19)

Zu der herausfordernden Beziehung zwischen den beiden Schwestern: Tessel denkt über Cat nach und fühlt sich als älteste benachteiligt:

"Warum nur ist ihre Schwester von allem immer so befreit gewesen, so beschützt? Als sie wieder auf der Toilette sitzt, im sichersten Raum der Hauses, ertappt sie sich bei dem Gedanken: Aber hiervon wirst du dich nicht freimachen können. Jetzt bist du endlich eine von uns. Wenn wir stürzen, stürzt du mit uns.“ (S. 99)

Moor über die schwierige Beziehung zu seinem Vater:

„Ich bin überhaupt nicht in der Lage, dein Kind zu sein“ (S. 415)

Und noch eine der vielen Weisheiten in diesem Buch:

„Wenn man die Dinge berührt, berühren die Dinge auch einen.“ (S. 454)

Ein wertvolles, ein berührendes, ein besonderes Buch! Leseempfehlung für alle, die sich die Zeit nehmen möchten für die Tiefe, die dieses Buch hat, und bereit sind, sich davon berühren zu lassen!

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Veröffentlicht am 18.06.2025

Anspruchsvoll & tiefgründig, psychoanalytisch orientiert

Wofür wir Töchter unsere Mütter brauchen
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Sarah Trenztsch arbeitet seit vielen Jahren beratend mit Müttern und Töchtern, die Konflikte miteinander haben. Aufbauend auf ihrer Berufspraxis sowie auf verschiedenen psychoanalytischen Theorien hat ...

Sarah Trenztsch arbeitet seit vielen Jahren beratend mit Müttern und Töchtern, die Konflikte miteinander haben. Aufbauend auf ihrer Berufspraxis sowie auf verschiedenen psychoanalytischen Theorien hat sie nun dieses Buch geschrieben. Darin finden sich viele wertvolle Gedankenimpulse zur herausfordernden Mutter-Tochter-Beziehung.

Sehr viele Frauen heutzutage haben ein schwieriges Verhältnis zur eigenen Mutter, und unreflektiert können sie dazu neigen, zu glauben, das sei nur ein individuelles Problem und habe nur mit der komplizierten Persönlichkeit ihrer eigenen Mutter zu tun. Das Verdienst der Autorin ist, dass sie klar die gesellschaftliche und strukturelle Ebene dieser Thematik aufzeigt: was wir von unserer Mutter erwarten, was diese von sich selbst erwartet, wie sie zwangsläufig an den hohen und oft unvereinbaren Ansprüchen an Müttern scheitern muss, aber auch, wie es modern geworden ist, ihr das alles vorzuwerfen, viel mehr als dem Vater... das hat sehr wohl viel mit der Gesellschaft zu tun, in der wir leben und in der Mütter von allen Seiten kritisiert werden und es nicht recht machen können, egal, welches Lebensmodell sie wählen.

Die beruflich sehr engagierte Mutter kann dafür angegriffen werden, zu wenig Zeit mit den eigenen Kindern zu verbringen. Der Mutter, die nicht oder nur wenig beruflich tätig ist, wird vorgeworfen, ein abhängiges Hausmütterchen zu sein. Und versucht eine Frau, beides, so gut wie möglich, unter einen Hut zu bringen, dann ist sie oft erschöpft und müde, und dann kann ihr die Tochter wiederum genau das vorwerfen.

Das Buch zeigt auch auf, wie mit der (wertvollen und notwendigen) Entwicklung des Feminismus leider auch der Respekt vor der traditionellen Mutterrolle gesellschaftlich in weiten Teilen verloren gegangen ist. Traditionell mütterliche und weibliche Qualitäten taugen somit für die Tochter nicht mehr zur Orientierung. Traditionell männlich besetzte Qualitäten, wie sie bis heute im Berufsleben stark gefordert sind, sind aber immer noch stärker mit dem Vater verknüpft... somit schaut die Tochter dann zu diesem hin, wenn sie sich in diese Richtung orientieren möchte, während die Position der Mutter geschwächt ist.

Diese und viele weitere Gedanken und Ideen finden sich in dem Buch. Dabei ist es auf theoretischer Ebene ein ziemlich anspruchsvolles Buch, das tief in die theoretischen Konstrukte speziell der Psychoanalyse eintaucht. Dazwischen finden sich zur Auflockerung und zum besseren Verständnis immer wieder konkrete Fallbeispiele aus der Berufspraxis der Autorin.

Aufgrund des hohen theoretischen Anspruches empfehle ich das Buch hauptsächlich einem Fachpublikum mit Vorwissen aus dem psychologischen und speziell psychoanalytischen Bereich. Weiters kann es auch für gebildete Laien interessiert sein, wenn diese bereit sind, sich gedanklich auf die psychoanalytischen Konzepte einzulassen. So wertvoll das Buch inhaltlich und mit seinen Aussagen ist, halte ich es doch sprachlich und inhaltlich für zu anspruchsvoll für eine breite Mehrheit der Bevölkerung, diese bräuchte ein weniger theoretisch und leichter zugänglich geschriebenes Buch zu dem Thema. Es ist somit eindeutig ein Fachbuch, und als solches sehr wertvoll und wichtig.

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Veröffentlicht am 17.06.2025

Vielfältige Perspektiven zum Thema Elternschaft

Rethinking Motherhood
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Im Sammelband "Rethinking Motherhood", herausgegeben von Anne Theiss, finden sich 19 verschiedene Beiträge unterschiedlicher Autorinnen und Autoren zum Thema "Elternschaft neu denken". Ich nenne es hier ...

Im Sammelband "Rethinking Motherhood", herausgegeben von Anne Theiss, finden sich 19 verschiedene Beiträge unterschiedlicher Autorinnen und Autoren zum Thema "Elternschaft neu denken". Ich nenne es hier bewusst Elternschaft und nicht nur Mutterschaft, denn tatsächlich kommen - entgegen der Erwartung, die der Titel wecken würde - in diesem Buch durchaus auch Väter und sogar ein homosexuelles Väterpaar, das einen kleinen Jungen adoptiert hat, zu Wort.

Es geht um so vielfältige Themen wie Elternschaft und Beruf, die Frage, welche Rolle erziehende Erwachsende, Mütter wie Väter, in einer modernen Gesellschaft einnehmen können, wie wir uns gegenseitig dabei unterstützen können und welche Rahmenbedingungen der Staat schaffen könnte, um Elternschaft weniger anstrengend und damit wieder attraktiver für junge Menschen zu machen - in einer Zeit der historisch niedrigen Geburtenraten.

Die Beiträge sind vielfältig, aber überwiegend sehr persönlich gestaltet: mal geht es um eine erwachsene Tochter und ihre Mutter, die sich schriftlich über das Thema unterhalten, mal erzählen Alleinerziehende, dann Künstlerinnen, die Mütter geworden sind und damit verbundene Diskriminierungen und Herausforderungen erlebt haben, und auch ein Paar, das mit Unfruchtbarkeit gekämpft hat und sich schließlich für eine Leihmutterschaft in den USA entschieden hat, kommt zu Wort. Damit zeigt das Buch insgesamt eine große und vielfältige Bandbreite an Stimmen zum Thema Elternschaft auf.

Zwei Einschränkungen gibt es allerdings: es sind zum einen ausschließlich progressive Stimmen - das konservative Meinungsspektrum wird ausschließlich kritisiert und als veraltet angesehen, aber auf deren Argumente gar nicht wirklich eingegangen. Dadurch kommt in vielen Beiträgen durch, dass es als nicht akzeptabel angesehen wird, wenn eine Frau daheim bei den Kindern bleiben möchte; macht das hingegen der Mann, ist es lobenswert und modern. Hier würde ich mir mehr Dialog zwischen den verschiedenen politischen Richtungen wünschen.

Die zweite Einschränkung ist, dass es, mit wenigen Ausnahmen, überwiegend Menschen aus der sehr privilegierten Bildungsschicht sind, die hier zu Wort kommen, während die Perspektiven von marginalisierten Menschen und solchen aus Arbeitermilieus, wie so oft in solchen Sammelbänden, unterrepräsentiert sind. Wenn man das aber weiß und gerne einen weiteren Sammelband von Künstlerinnen, Schauspielerinnen, Moderatorinnen, Schriftstellerinnen - den klassischen Berufen, die sehr gewandt im Umgang mit Worten sind und sich deshalb oft zu Wort melden - lesen möchte, ist es ein interessantes und lohnenswertes Buch, das zum Nachdenken anregt.

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Veröffentlicht am 17.06.2025

Wie wir unsere gedankliche Realität verzerren und uns innerlich verrückt machen

Das Zeitalter des magischen Zerdenkens. Notizen zur modernen Irrationalität
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"Das Zeitalter des magischen Zerdenkens" ist das dritte Buch der amerikanischen Linguistin Amanda Montell. Schon in ihrem zweiten Buch, in dem es um Sekten und Kulte geht, hat sie sich intensiv mit den ...

"Das Zeitalter des magischen Zerdenkens" ist das dritte Buch der amerikanischen Linguistin Amanda Montell. Schon in ihrem zweiten Buch, in dem es um Sekten und Kulte geht, hat sie sich intensiv mit den psychologischen Mechanismen beschäftigt, die dazu führen, dass wir scheinbar irrationale Entscheidungen treffen.

Dieses Buch führt diese Ideen nun fort, beschäftigt sich aber thematisch mit einer wesentlich größeren Bandbreite. Es beginnt damit, dass in den letzten Jahren die Häufigkeit psychischer Probleme enorm angestiegen ist, insbesondere unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen, und wie das damit zu tun haben könnte, dass wir - angespornt durch Social-Media-Algorithmen - unser Leben und die Welt immer mehr zerdenken.

Auf dieser Idee aufbauend geht es um verschiedene Alltagsphänomene, beispielsweise die vielen "Stans" (ein Kunstwort aus "Stalker" und "Fan", das auf Eminems gleichnamiges Lied zurückgeht), die eine regelrechte Besessenheit für ihre Idole, etwa Taylor Swift, aufbauen und diese glühend verehren, sich aber ebenso schnell und drastisch von diesen abwenden oder Shit-Storms starten können, wenn die unrealistische Projektion, die sie um ihr Idol aufgebaut haben, zusammenbricht. Weiters geht es um Themen wie toxische Beziehungen, Idealisierung der eigenen Eltern, Glaube an Verschwörungstheorien und so einiges mehr. Interessant ist, wie die Autorin jeweils bekannte psychologische Theorien mit ihren eigenen Gedanken zum Thema und ihren persönlichen Erlebnissen verbindet.

Wer gerne solche persönlichen Geschichten mag, der findet hier ein unterhaltsames Buch vor, in dem die Autorin nahbar und persönlich etwa von ihrer distanzierten und idealisierten Beziehung zu ihrer extrem leistungsstarken, aber nur selten Gefühle zeigenden Mutter erzählt, genauso wie von ihrer problematischen ersten Beziehung, aus der sie sich erst nach sieben Jahren lösen konnte, von ihren eigenen Selbstwertproblemen in Bezug auf ihr Äußeres oder ihren Schwierigkeiten beim Einstieg in den Arbeitsmarkt nach dem Studium.

Die Autorin ist selbst Jahrgang 1992 und damit am Anfang ihrer 30er. Darum geht es im Buch natürlicherweise hauptsächlich um die Themen, Interessen und Probleme junger Menschen, und es ist somit auch am besten für Lesende in diesem Alter geeignet. Nebenbei lernt man noch so einiges Interessantes über psychologische Theorien, die erklären, warum Menschen scheinbar irrationale Entscheidungen treffen.

Für ihr Buch hat die Autorin sorgfältig recherchiert und sowohl im Fließtext als auch im Quellenverzeichnis sind viele Details zu den entsprechenden Studien und Experimenten zu finden, sodass man sich bei Interesse leicht noch weiter in die eine oder andere Theorie vertiefen kann. Ein durchaus unterhaltsames und dabei lehrreiches Buch zur Alltagspsychologie, das ich insbesondere jenen Menschen empfehlen kann, die es sehr mögen, nicht nur theoretisch über psychologische Phänomene zu lesen, sondern diese eingebettet in eine konkrete Lebensgeschichte und verbunden mit den persönlichen Gedanken einer jungen Frau zu erleben.

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Veröffentlicht am 16.06.2025

Was es bedeutet, fast sprachlos zu sein in einem fremden Land

»Mama, bitte lern Deutsch«
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Tahsim Durgun hat mit "Mama, bitte lern Deutsch" ein berührendes Memoir geschrieben, das zu Herzen geht. Er lässt uns in diesem persönlichen Buch an seiner eigenen Kindheit und Jugend teilnehmen. Der Autor ...

Tahsim Durgun hat mit "Mama, bitte lern Deutsch" ein berührendes Memoir geschrieben, das zu Herzen geht. Er lässt uns in diesem persönlichen Buch an seiner eigenen Kindheit und Jugend teilnehmen. Der Autor wächst mit drei Geschwistern und seinen Eltern in einer trostlosen Plattenbausiedlung in Deutschland auf.

Die Kinder sind in Deutschland geboren, es ist die einzige Heimat, die sie kennen - und doch müssen sie viele Erfahrungen damit machen, als fremd angesehen zu werden, und auch ihr Aufenthaltsstatus ist immer wieder bedroht, wenn die Behörde entscheidet, Yesiden würden gerade in der Türkei nicht mehr verfolgt werden und somit der ursprüngliche Asylgrund wegfallen.

Schon als kleine Kinder müssen sie immer wieder für die Eltern übersetzen oder dolmetschen, denn auch nach 20 Jahren in Deutschland sprechen die beiden, insbesondere die Mutter, kaum Deutsch.

Was für ein Kontrast das für den Autor ist: einerseits daheim seine (in der kurdischen Muttersprache) intelligente und sprachlich sehr gewandte Mutter zu erleben, die in ihrer Muttersprache niemals um Worte verlegen ist, selbstbewusst ist und sich gut ausdrücken und durchsetzen kann. Und dann andererseits im Vergleich dazu die schüchterne, gedemütigte, um Worte ringende Frau zu begleiten, in die die Mutter sich zum Beispiel auf Ämtern, aber auch auf Schulfesten im Kontakt mit Deutschen verwandelt. Für diese Mutter einstehen und auch bei schwierigen und überfordernden Themen im juristischen oder medizinischen Bereich übersetzen zu müssen, ist oft sehr überfordernd für die Kinder, ebenso wie die vielfältigen Diskriminierungs- und Abwertungserfahrungen, die sie erleben müssen.

Während all dem hat sich der Autor einen ganz wunderbaren Humor bewahrt und das Buch ist lebendig geschrieben und voll von Liebe zu seiner Mutter und seiner Familie. Das Buch ist so nahbar und persönlich erzählt, mit vielen kleinen Geschichten aus dem Leben der Familie, sodass man sich beim Lesen mit der Familie sehr verbunden fühlt und mit ihnen hofft und bangt.

Selbst hat der Autor einen beeindruckenden sozialen Aufstieg hingelegt, Abitur gemacht und Germanistik studiert. Seine Geschichte ist auch eine Geschichte der Selbstermächtigung, wie z.B. dieses eindrucksvolle Zitat zeigt: "Ich begann, Bücher zu lesen - und irgendwann auch Zeitungen. (...) ... weil ich mir die Sprache der Menschen aneignen wollte, die über uns verfügen konnten. Ich wollte dafür sorgen, dass ich, dass wir, irgendwann genug sein würden. Die Ungerechtigkeit, die uns widerfahren war, spornte mich an, meine Leistungen in der Schule zu verbessern." (S. 96 von 167 im E-Book)

Was den Titel des Buches und seine Mutter und deren nach Jahrzehnten noch mangelnde Deutschkenntnisse angeht, so zeigt der Autor differenziert auf, dass er sich gewünscht hätte, sie hätte engagierter und aktiver Deutsch gelernt und ihr das auch mal wütend vorgeworfen hat, aber dass er im Gespräch mit ihr und in der Reflexion über die gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Familie auch erkannt hat, welche Hürden ihr dabei im Weg gestanden sind: neben einem auslaugenden, körperlich anstrengenden Job ohne Urlaub und Feiertage, die Familie mit vier Kindern versorgend, mit geringem Bildungsstand und einer als eher abweisend empfundenen Gesellschaft im neuen Land ist das nicht leicht.

Damit regt das Buch auch zum Nachdenken an, was wir alle - auch die, die das Glück haben, in privilegierteren gesellschaftlichen Positionen aufwachsen zu dürfen - dazu beitragen können, aktiv Integration und ein gelingendes Miteinander zu fördern. Ein wertvolles Buch, dem ich breite Verbreitung wünsche!

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