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Veröffentlicht am 27.08.2025

Faszinierende, rasante Straßenliteratur

Top Girls
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In der Badewanne liegt ein Typ, nicht schön anzusehen. Dana hatte ihn entdeckt, als sie Bier nachladen wollte. Sie macht sich keine Sorgen. Wenn man so viele Besoffene gesehen hat und sich selbst immer ...

In der Badewanne liegt ein Typ, nicht schön anzusehen. Dana hatte ihn entdeckt, als sie Bier nachladen wollte. Sie macht sich keine Sorgen. Wenn man so viele Besoffene gesehen hat und sich selbst immer wieder unter ihnen wähnt, dann denkt man nur noch selten darüber nach. Liv hört Danas Erstaunen mit einem Ohr zu, das andere hat sie wegen ihrer Gedanken verschlossen. Sie hat Nore gesucht, obwohl sie weiß, dass er nicht mehr kommen wird. Er hat es versprochen wie so vieles, das er nicht einhält. Im Flur vermischt sich die Musik mit den Menschen zu etwas Unerträglichem. Liv hat Schlagseite und Doppelbilder. Sie weiß, dass sie morgen mit stinkendem, aufgedunsenem Körper aufwachen wird, die Zunge am Gaumen festgeklebt und dass sie wieder nichts verpasst haben wird.

Am nächsten Morgen ist Liv noch nicht ganz bei sich, als Thom ins Zimmer rauscht und auf sie einquatscht. Dana ist in der Nacht abgehauen, sie müssen sie abholen. Liv steht auf und betrachtet kurz das Chaos in ihrer WG. Auf dem Sofa, auf dem Teppich, in Nores Bett, überall liegen Leute. Der Teppichboden ist ein stinkender Floor aus Bier, Scherben, Chips, Erbrochenem und Kippen. Sie will, dass die Leute verschwinden, will alles Saugen und Schrubben. Thom drängt. Sie geht nur mit, wenn er später die Alkoholleichen rausschmeißt. „Na klar.“ Unten in der Halbgasse wabert unfreundlicher Nebel, die Top Girls haben Schichtwechsel, knallige Farben, kurze rote Röcke, hohe Overknee Stiefel. Die Freier flanieren mit Autos.

Also los, Burggasse, Theater, Museum, Burggarten, Straßenbahnhaltestelle. Raus in die urbanen Randbezirke. Liv nickt kurz ein, dann sind sie da. Betonwald, grau, unübersichtlich, Thom weiß den Weg. Fünfte Etage, eine Frau namens Sascha am Bügelbrett. Ein sehr kleines Kind in einer Wanne mit wenig Wasser vor ihr. „Hinten links letzte Tür.“ Dana liegt in einem Bett, Thom schüttelt sie, Liv will sie ohrfeigen. Dana stöhnt, sie ziehen sie unter den Axeln nach oben, wanken ins Badezimmer, Dana, wie ein nasser Putzlumpen zwischen ihnen. Kaltes Wasser in der Dusche, rein in die Klamotten, runter auf die Straße. Taxi, sagt Liv. Sie wühlen in Danas Handtasche, finden ein paar Scheine. „Wenn sie mir ins Auto kotzt …“, „,… bezahlen wir die Reinigung, wir kennen das Prozedere!“

Fazit: Ana Drezga hat ein Romandebüt hingelegt, das mich mitgerissen hat. Ihre Hauptdarstellerin lebt in eine WG in Wien. Ihr Job am Theater als Tänzerin, den sie zufällig bekommen hat, ist schlecht bezahlt und der Choreograf verlangt ihr alles ab. Mit ihrer Mitbewohnerin und besten Freundin säuft sie auf ausufernden Partys ihren Alltagsfrust weg und landet in einer Spirale aus Suff, Ausnüchterung und Tanz. Mangels Alternativen hält sie an dieser Situation fest. Die frustrierende Beziehung zu Nore, in der er mehr Distanz hält, als Nähe zuzulassen, drückt sie ebenso nieder. Die Autorin hat mich mitgenommen auf einen harten Trip durch das urbane Wien der 2020er. Die Theaterszene besteht aus schlecht bezahlten Dienstleister*innen, alle sind austauschbar und erfahren keinerlei Wertschätzung. Eine No Future Stimmung wie in der Punkszene der 80er-Jahre macht sich breit. Beziehungen bleiben unpersönlich, Intimität ist gefährlich. Die Geschichte ist rasant und temporeich, sie bedient sich einer Sprache, die mitreißt. Trotz aller Destruktion sehr unterhaltsam.

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Veröffentlicht am 26.08.2025

Chronische Krankheit

Schneckenkönigin
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An manchen Tagen schafft Klara den Weg in die Weinberge hinauf oder stundenlang mit Lea auf dem Spielplatz zu sein. Dann fühlt sie sich wach, ausgeschlafen. An anderen Tagen braucht sie zahlreiche Kaffees, ...

An manchen Tagen schafft Klara den Weg in die Weinberge hinauf oder stundenlang mit Lea auf dem Spielplatz zu sein. Dann fühlt sie sich wach, ausgeschlafen. An anderen Tagen braucht sie zahlreiche Kaffees, bevor sie überhaupt startklar ist oder ihr wird gleich nach dem Auffwachen schwarz vor Augen und dieser Schmerz kriecht ihre Wirbelsäule entlang. Sie war schon bei vielen Spezialisten, meistens ohne auffällige Befunde, leicht erhöhte Entzündungswerte, gesunkene Leukozytenzahlen, doch die zeigen sich immer nur kurz, schon vor der nächsten Kontrolle sind sie wieder verschwunden.

Matti versucht alle Variablen ihrer Zustände zu ergründen, um einen optimalen Plan zu erstellen, der eine Orientierung an ihre Kräfte zulässt. Sie weiß, dass er helfen will, trotzdem macht es sie manchmal wütend, am Kühlschrank einen Zettel, mit all ihren Symptomen vorzufinden. Wenn sie mit einem feuchten Tuch auf den Augen auf dem Sofa liegt, glaubt er etwas übersehen zu haben und fühlt sich schuldig. Ihr Körper entzieht sich einfach seinem Kontrollbedürfnis.

Klaras Schwester Lotte und die Mutter wissen, dass Klara schon als Kind schwerer genas, als andere. Mit den unzähligen Wadenwickeln, dem Geruch nach Essig und der Kälte, kann man sie heute jagen. Das schlimmste Gefühl ruft die Ungläubigkeit der anderen in ihr hervor, ihr ständiges Bedürfnis sich zu rechtfertigen.

Fazit: Sabine Schönfellner hat eine Protagonistin geschaffen, die unter einer Krankheit und oder einem Erschöpfungssyndrom, ähnlich dem Fatigue nach Long Covid oder dem Pfeifferschen Drüsenfieber, leidet. Wer weiß, wie Erschöpfung oder das Gefühl von Zerschlagenheit sich anfühlt, sollte mit Klara mitfühlen können. Mir fiel das Schwer, vielleicht , weil ich keinen Leidensdruck spürte. Klara zerdenkt viel, interpretiert, sie findet nicht die richtigen Worte und geht auf Abwehr. Ihr Umfeld ist überfordert, will helfen und neigt dabei zu Übergriffigkeit, Klara resigniert. Die Autorin lässt Klara immer wieder in die Rückschau gehen und die war für mich schwierig von der Gegenwart zu unterscheiden, dennoch plätschert die Geschichte vor sich hin. Ich finde ihren Mann Matti unpersönlich gezeichnet. Mich hat die Umsetzung nicht so angesprochen, ich hätte mir ein wenig mehr Dynamik gewünscht. Vielleicht ist das aber eine Geschmacksfrage. Wer allerdings selbst betroffen ist, von einem Gesundheitssystem, in dem Fachärzte nur schlecht über den Tellerrand blicken, viele Leistungen wegfallen, weil gespart werden muss und Frauen aus dem Raster der Norm rausfallen, weil die wichtigen Studien mit Männern erfasst werden (Medikamentenwirkung), der/die fühlt sich möglicherweise abgeholt.

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Veröffentlicht am 23.08.2025

Schwungvolle Story

Gym
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Ferhat sitzt hinter seinem Schreibtisch und druckst rum. „Also, wie soll ich es sagen?“ Es gefalle ihm, wenn sein Team die Fitnessbranche auch verkörpere, ob sie verstehe, was er meine? Klar verstand sie, ...

Ferhat sitzt hinter seinem Schreibtisch und druckst rum. „Also, wie soll ich es sagen?“ Es gefalle ihm, wenn sein Team die Fitnessbranche auch verkörpere, ob sie verstehe, was er meine? Klar verstand sie, mit den fettigen Haaren und der labbrigen Hose, die ihren Bauch nur ansatzweise versteckt, würde sie sich auch nicht einstellen. Und weil sie den Job unbedingt haben will, sagt sie, sie habe gerade erst entbunden. Es war ihr so rausgerutscht. Ferhads Augen leuchten, die Stirn glättet sich. Er gibt ihr die Hand, versteht wie schwer sie es hat, seine Schwester hat ja auch erst …

3.500 Quadratmeter Mega Gym, ein Palast aus glänzenden Oberflächen, Cardiofloor, Kraftfloor, Wellnessbereich und Sauna. Sie wird die Theke bedienen. Smoothies, lustig klingende Proteinshakes, wie den Muscle-Hustle, zaubern, isotonische Getränke anbieten und Riegel darreichen. Milli lernt sie an, rote Leggins mit passendem Oberteil, wippender Pferdeschwanz. Sie mache gerade eine Ausbildung zur Fitnesskauffrau.

Das Stehen fällt ihr schwer. Sie ist eher an Bürostühle, Bussitzplätze und ihr Sofa gewöhnt. Ferhat bietet ihr sein Büro an, um abzupumpen. Die nächste Mittagspause verscheucht sie den Gedanken, die Flucht zu ergreifen, sie hat schließlich schon Schlimmeres gestemmt. Sie wird das Spiel spielen, so gut sie kann. In der nächsten Apotheke ersteht sie eine elektrische Milchpumpe. Die zwei Fläschchen mit dem Fertigmilchpulver, das sie mit Wasser vermischt hat, stellt sie für alle sichtbar in den Kühlschrank. In ihrer Handtasche befinden sich jetzt Windeln, Schnuller und Feuchttücher, die sie mit erhobener Hand in die Luft hält, während sie Handy oder Portemonnaie sucht. Die gefakten Anrufe bei ihrer Mutter, lassen alle glauben zu wissen, wo ihr Baby ist.

Fazit: Verena Kessler hat in dieser Geschichte die Themen Selbstoptimierung und weibliche Selbstermächtigung performt. Ihre Protagonistin hat ihren Spitzenjob an eine jüngere Nebenbuhlerin verloren. Ihr ganzes Leben gerät aus den Fugen. Sie braucht dringend einen Arbeitsnachweis und heuert im Fitnessstudio an. Eine wirkungsvolle Notlüge zwingt die imaginär Entbundene, sich mit dem Thema Mutterschaft auseinanderzusetzen. Ihr Ehrgeiz spornt sie zu Höchstleistungen an, der Erfolg beim Muskelaufbau wird zur Obsession und nur der Wahnsinn kann sie eingrenzen. Die Autorin hat sich wieder mit dem Thema Frau in der Gesellschaft auseinandergesetzt. Sie schreibt in lakonisch, unterhaltsamen Ton über die Fitnessqualen. Schmerz, proteinreiche Ernährung und schließlich auch die Nebenwirkungen von Anabolika, bis alles aus dem Ruder läuft. Die namenlose Ich-Erzählerin ist ziemlich abgebrüht und die Diskrepanz zu den mitfühlenden Mitarbeiterinnen erzeugt einen spannenden Grundtenor. Gut gemacht fand ich auch die Interaktion zwischen der Hauptakteurin und der Nebenbuhlerin, das war so gut gezeigt, wie sie es einfach nicht kommen sah und plötzlich erkennen muss, dass sie entbehrlich ist. Mir hat die schwungvolle Story bombe gefallen. Mit dem offenen Ende kann ich leben. Ich mochte auch ihren Roman Eva gern, aber Gym hat mir noch besser gefallen.

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Veröffentlicht am 22.08.2025

Ein szenischer Knaller

Hotel Love
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Am 5. Mai 2031 checkt Roman im Hotel Love ein. In sechs Tagen wird er seine Traumfrau, eine geduldige, liebevolle Androidin, eigens für ihn hergestellt, heiraten. Tippgeber des Hotels ist Fabio aus dem ...

Am 5. Mai 2031 checkt Roman im Hotel Love ein. In sechs Tagen wird er seine Traumfrau, eine geduldige, liebevolle Androidin, eigens für ihn hergestellt, heiraten. Tippgeber des Hotels ist Fabio aus dem Männerministerium. Die Androidin an der Rezeption weist ihn ein. „Sie haben das Sieben Tage Programm Wifey Material – So erschaffe ich die perfekte Ehefrau gebucht?“ Bestätigendes Nicken. „Danke.“ „Heute um 16 Uhr findet das Einführungsseminar statt.“ „Sie finden ihr Single-Zimmer mit Blick auf die Jagdgründe im dritten Stock, bitte schauen sie kurz in den Scanner zum Netzhautabgleich, vielen Dank.“ „Im Untergeschoss befindet sich die Shopping-Mall und unsere derzeitige Kunstausstellung von der Gebärmutter zum Gebärvater, gleich gegenüber der Wedding Chapel.“ „Wir wünschen einen zauberhaften Aufenthalt im Hotel Love.“

In Zimmer 317 angekommen, heißt ihn die freundliche Zimmerservicestimme willkommen. Nachdem sein Blick das Zimmer erfasst hat, hält er vor dem Spiegel inne. Cute schaut er aus mit seinen stahlblauen Augen. Er könnte jede haben, will aber nur die eine. Seine Gedanken entschwinden in die Zeit, als er Julia kennengelernt hat. Er hat sie bei Tinder geswipt. Kurz zuvor hatte Jasmin ihn verlassen. Ganz gegen seine Gewohnheiten hatte er im Bett gegammelt und seine Wunden geleckt. Dann trat Julia in sein Leben und versüßte seinen Alltag. Und dann hat sie ihm in der Reality Show Temptation Paradise cool den Laufpass gegeben, die Schlampe. Er hat sie mehr geliebt als jemals jemand zuvor.

Laut Männerministerium hat jeder Mann ein Anrecht darauf, glücklich zu sein. Die Bezeichnung „Alte weiße Männer“ existiert nicht mehr. Die heißen jetzt alte weise Männer und das ist ja auch nicht mehr als richtig, denn schließlich haben wir ihnen den ganzen Fortschritt zu verdanken. Hier wird er die ideale Frau herstellen. Sie wird aussehen wie Julia, jedoch anders als sie keine Forderungen stellen, sondern ihre Pflichten als Frau mit Präzision und Hingabe erfüllen. In sechs Tagen wird geheiratet.

Fazit: Petra Piuk hat eine durch und durch dystopische Zukunftsversion erschaffen. Männer haben vollumfänglich die Macht übernommen. Echte Frauen dienen nur noch der Unterhaltungsindustrie des einzigen Fernsehsenders. Alles ist gleichgeschaltet. Jeder Mann kann sich am Laptop seine eigene Frau erschaffen, ganz nach seinem Idealbild. Die wird dann schnellstmöglich hergestellt und ausgeliefert. Silikon Valley lässt grüßen. Ihr Protagonist ist eine narzisstische Persönlichkeit, wie sie im Buche steht. Die Autorin bedient sich einiger genialer Stilrichtungen, springt von der Gegenwart im Hotel in die Vergangenheit und ich erfahre alles über die toxische Beziehung zwischen Roman und Julia. Die Androidin Julia 2.0 der Gegenwart tut alles, um Roman zu beglücken, aber es reicht ihm nicht. Die Geschichte ist so abgefahren, dass ich durch die meisten Seiten mit offenem Mund geflogen bin. Das war zynisch, heftig, lustig, nüchtern, aber vor allem bildreich. Ich war emotional voll dabei. Ein kunterbunter Silvesterknaller!

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Veröffentlicht am 21.08.2025

Großartig originell

Treppe aus Papier
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Bei Familie Bittner gibt es Pizza. Thomas erwartet den Fahrradcourier an der Wohnungstür der dritten Etage. Er gibt dem Mann Trinkgeld, weil er nicht will, dass es heißt, er wäre knausrig. Er stellt die ...

Bei Familie Bittner gibt es Pizza. Thomas erwartet den Fahrradcourier an der Wohnungstür der dritten Etage. Er gibt dem Mann Trinkgeld, weil er nicht will, dass es heißt, er wäre knausrig. Er stellt die Kartons auf den Küchentisch und sofort entsteht eine Choreografie aus Nele, die den Tisch deckt und Martina, die einen Dip zusammenrührt. Nele schaut auf ihr Display, Laura antwortet nicht. Martina sieht zu Nele, die das Handy verschwinden lässt. Wie es in der Schule war, fragt Thomas. „Gut“. Nele isst schneller. Die Hormone machen aus Neles Gefühlen eine Achterbahn. Es geht so schnell auf- und abwärts, dass selbst Nele dem Chaos in ihr hilflos zuschaut.

Irma Thon kocht jeden Mittwoch Zwiebelsuppe, neunzig ist sie jetzt und vor vielen Jahren in die Wohnung ihrer Eltern zurückgekehrt. Als sich die Schreihälse aus der Zweiten beschweren, kocht Irma jeden Tag Zwiebelsuppe, eine Woche lang. Jeder Hausbewohner bekommt eine Kostprobe aus dem guten alten Geschirr, dann ist Ruhe. Jetzt steht sie an den Briefkästen. Eine Hand auf dem Stock, mit der anderen versucht sie den Schlüssel ins Schloss zu zittern. Nele kommt mit Balu vom Gassigehen herein, grüßt freundlich, ortet die Situation und fragt, ob sie helfen kann. Sie kann. Im Kasten ist zu Irmas Zufriedenheit nichts.

Das Haus erinnert sich, dass im Vergangenen hier an dieser Stelle Alwin Sternheim mit seiner Frau Golda und der kleinen Ruth gestanden hat, umringt von Männern der Gestapo. Damals hatte die kleine Irma eine ganz eigene Rolle in dem Drama gespielt, denn ihr Vater hatte die Aufgabe des Blockwarts übernommen und an enormer Wichtigkeit zugelegt. Das Haus erinnert sich an vieles. Es hat die Energie all der Bewohner der letzten hundert Jahre gespeichert und atmet sie nun aus.

Fazit: Henrik Szanto hat ein so originelles Debüt geschrieben, wie ich es selten gelesen habe. Schon auf den ersten zehn Seiten passiert erstaunlich viel. Seine Ausdrucksweise ist eine Wonne, die mir über den Rücken streichelt. Der Autor hat die Gabe, unterschiedlichste Menschen aus Gegenwart und Vergangenheit, auf der Treppe, aneinander vorbeiziehen zu lassen. Im Grunde beschwört er die Vergangenheit herauf, damit wir uns erinnern und das macht er gnadenlos gut. Er lässt das alte Gemäuer voller Mitgefühl, aber auch ohne zu beschönigen, in den alten Zeiten schwelgen. So lerne ich jeden Bewohnerin kennen, die je dort gelebt hat. Zugleich gelingt dem Autor der Spagat, Parallelen zwischen unserer Nazivergangenheit und dem heutigen Aufblühen alter Ideale zu zeigen. Mühelos lässt er die alte Irma über die misslungene Entnazifizierung sprechen und Nele fragen, warum ihr Opa auf einem Familienfoto ein Hakenkreuz trägt. Und damit trifft er einen wichtigen Kern unseres Landes, nämlich den, dass wir uns nie wirklich mit unserer Vergangenheit auseinandergesetzt haben. Scham und Schuld sind nicht die Erkenntnisse, die verhindern können, dass alte Ideologien entstehen. Dieses Buch ist definitiv eine der besten Aufarbeitungen unserer Nazivergangenheit, die mich je erreicht hat. Diese Geschichte hätte sich auch gut auf der Long- oder gar Shortlist des deutschen Buchpreises dieses Jahres gemacht. Es hat es verdient. Unbedingt lesen!

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