Muttersein in allen Facetten
Die TochterFür Laura gibt es nur zwei Gruppen von Freundinnen. Die, die bereit sind, ihre Freiheit aufzugeben. Und die, die bereit sind, in den Augen von Eltern und Gesellschaft in Ungnade zu fallen. Alina gehört ...
Für Laura gibt es nur zwei Gruppen von Freundinnen. Die, die bereit sind, ihre Freiheit aufzugeben. Und die, die bereit sind, in den Augen von Eltern und Gesellschaft in Ungnade zu fallen. Alina gehört zur ersten. Sie sind Mitte dreißig und haben sich klar gegen eigene Kinder entschieden. Laura hat das mit einer Sterilisation untermauert. Der Verlust der Freiheit, die Unmöglichkeit einer Karriere, der Stress, die Stillzeit, die schlaflosen Nächte, das alles schreckt sie ab.
Als Juan ihre Räume noch mit dem Geruch von Ölfarbe füllte, da hatte sie zarte Anwandlungen verspürt. Im Gegensatz zu ihr konnte er gut mit Kindern. Immer wenn er sie traf, sprach er mit ihnen, das nahm ihr die Angst, brachte sie ihr näher, so dass sie sie wohlwollend aus der Ferne beobachtete. Zu dieser Zeit fielen ihr auch schwangere Frauen auf. Wenn sie mit ihnen in der Kinoschlange stand, sprach sie sie an, wollte wissen, wie selbstbewusst sie sich dafür entschieden hatten. Nachdem Juan dann seine übergroße Bereitschaft zeigte, ein Kind zu zeugen, machte sie kurzen Prozess, ohne ihn einzuweihen. Danach stellten sie schnell fest, dass sie unterschiedliche Lebensentwürfe hatten und sie zog aus.
Und nun vertraut Alina ihr an, dass sie seit einem Jahr versucht, schwanger zu werden. Laura spürt den Riss, der sich durch ihre Freundschaft zieht intensiv, im Gegensatz zu Alina. Nach zahlreichen Fruchtbarkeitsbehandlungen erwartet Alina ein Mädchen und macht ihren Aurelio glücklich. Während der Schwangerschaft machen die Ärzte Alina Angst. Eine Ultraschalluntersuchung zeigt ein zu kleines Gehirn und man rät ihr ein MRT machen zu lassen. Obwohl Alina unter Platzangst leidet, will sie das Beste für ihr Kind, aber sie hält es in der geräuschvollen Röhre nicht lange genug aus. Obwohl die Bilder stark verpixelt sind, ist sich die Ärzteschaft einig. Ihre Tochter hat einen sehr seltenen Gendefekt und die Odyssee beginnt.
Fazit: Guadalupe Nettel hat eine außerordentliche Geschichte geschaffen. Sie schreibt über Mutterschaft in all ihren Facetten. Über die Sorge, das Glück, die Wehmut, den Schmerz, den Frust und die Liebe. Alinas Sorge bekommt berechtigterweise einen großzügigen Raum. Die ganze Tortur, der sie ausgesetzt ist, weil sie einen Kinderwunsch verspürte, ist herzzerreißend und nervenaufreibend erzählt. Die Ich-erzählende Protagonistin, aus deren Sicht die Geschichte gezeigt wird, wirkt zuerst abgeklärt und unterkühlt. Das Schicksal ihrer Freundin aber reißt sie emotional mit und sie wird eine große Unterstützung. Sie selbst macht ihre eigenen Erfahrungen mit einem ihr fremden Jungen und seiner überforderten Mutter und erlebt selbst Zuneigung und Liebe, die sie Welten bewegen lässt. Und auch das schwierige Verhältnis zur eigenen Mutter findet einen Platz. Die Autorin erzählt mit einer Leichtigkeit, die mich durch die Seiten hat fliegen lassen, mich trotz aller schwierigen Themen nicht erdrückt, sondern mir eine positive Entwicklung zeigt. Ich habe mich in jede Figur hineinversetzen können und tief mitgefühlt. Die Rolle der Mutter wird unterschätzt und erfährt kaum Wertschätzung sondern wird als selbstverständlich und natürlich erstrebenswert betrachtet. Dieses Buch vermittelt Empathie und Toleranz für alle weiblichen Entscheidungen.