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Veröffentlicht am 13.03.2025

Ein rundum gelungener Roman

Die erste halbe Stunde im Paradies
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Anne ist Anfang dreißig und arbeitet als Pharmavertreterin. Angefangen hat sie mit Hustensaft und sich mittlerweile zu Psychopharmaka hochgearbeitet Diazepam ist nach wie vor das Mittel zur Wahl und wird ...

Anne ist Anfang dreißig und arbeitet als Pharmavertreterin. Angefangen hat sie mit Hustensaft und sich mittlerweile zu Psychopharmaka hochgearbeitet Diazepam ist nach wie vor das Mittel zur Wahl und wird entsprechend oft verordnet. Anne hält sich für eine Benzodiazepinkoryphäe. Sie braucht nur noch zwanzig Credit Points, um sich für den Innendienst bewerben zu können und tausende Kilometer Asphalt hinter sich zu lassen. Sie ist unterwegs zu diesem Frischlingsseminar, weil die Firma mehr soziale und kommunikative Kompetenzen von ihr erwartet. Sie folgt diszipliniert ihrem Alltag nach Vorschrift, geht früh schlafen und steht früh auf. Ihre Morgenroutine beinhaltet das Laufen nach ihrer Fitness App. Sie ist überzeugter Single:

Keine Beziehung bedeutet auch kein schwarzes Loch, das Lebensenergie frisst und Verpflichtungen und Konflikte am laufenden Band produziert. S. 22

Zu ihrem etwas älteren Bruder hat sie keinen Kontakt mehr. Damals ging alles drunter und drüber. Sie hatten sich schon sehr früh, mit vereinten Kräften, um die chronisch kranke Mutter gekümmert, dann ist Kai einfach abgehauen und nicht zurückgekommen. Die Krankheit begann mit zitternden Händen. Die Oper engagierte sie schon längst nicht mehr. Und auf Hochzeiten oder kleineren Festen wollte sie auch bald niemand mehr singen hören. Dann fingen die Gleichgewichtsstörungen an, die sich dermaßen verstärkten, dass sie hinfiel. Sie durften mit niemandem darüber sprechen, weil Mutter Angst hatte, dass man ihr Anne wegnehmen würde. Also hörte Anne auf zu existieren. Offiziell gab es nur noch Kai.

Fazit: Janine Adomeit erzählt eine Geschichte über familiären Zusammenhalt und kindliche Prägung. Ihre Protagonistin musste früh Verantwortung übernehmen. Der einzige Orientierungspunkt war der ältere Bruder, der im gleichen falschen Film lebte. Anne, mit der Krankheit ihrer Mutter heillos überfordert, klammerte sich an die Hoffnungen, die Mutter und Ärzte ihr machten. Wirklich exzellent herausgearbeitet hat die Autorin die überbeanspruchten Kinder, die kein eigenes Leben haben und die egoistische Mutter, die das von ihnen verlangt und erwartet. Beide Kinder sind als Heranwachsende zutiefst gebeutelte Persönlichkeiten. Während Anne durch Perfektionismus glänzt, in sich selbst jedoch einsam und nähevermeidend ist, erliegt Kai einer intensiven Sucht. Ebenfalls arg gut gezeichnet fand ich den Charakter Annes. Ihre Überheblichkeit, das Kontrollbedürfnis, das darauf gründet, nie wieder die Fäden aus der Hand zu geben und fallen gelassen zu werden. Großartig! Und obwohl Anne mich als Leserin so unangenehm berührt, ist ihr Schmerz für mich spürbar und Kais Leid unübersehbar. Die Geschichte wird aus Sicht Annes erzählt. Die Autorin bedient sich einer Sprache, die so einfach wie wirkungsvoll ist. Sie verzichtet auf emotionale Übertreibungen und berührt mich genau damit. Ich mag die Dialoge sehr. Ein rundum gelungener Roman, den ich hundertprozentig empfehle.

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Veröffentlicht am 11.03.2025

Das war mir zu seicht

Wie du mich ansiehst
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Johanna sieht ihrer Tochter dabei zu, wie sie sich für eine Party schminkt. Sie erinnert sich zurück, als sie der zweijährigen Rosa das Zähneputzen beibrachte und sie dazu einfach ins Waschbecken setzen ...

Johanna sieht ihrer Tochter dabei zu, wie sie sich für eine Party schminkt. Sie erinnert sich zurück, als sie der zweijährigen Rosa das Zähneputzen beibrachte und sie dazu einfach ins Waschbecken setzen konnte. Oder wie sie sich beide mit der Kinderschminke Schmetterlinge ins Gesicht gemalt haben. Sie hatte Rosa immer die Zöpfe geflochten, bis auf einmal, da hat es die neue Kindergärtnerin gemacht und Rosa wollte sie sich partout nicht wieder lösen lassen. Johanna hatte es heimlich versucht, als sie dachte, Rosa sei eingeschlafen, aber die hatte ihr die Hände weggeschlagen und sie böse angeschaut. Das war wie ein Stich für Johanna, die auf ihrer Eifersucht herumkaute.

Hendrik ist wieder zur See gefahren und die beiden leben mindestens einen Monat allein miteinander. Johanna hat mit ihrem Blumenladen so viel zu tun, dass sie abends nicht mehr kochen mag und Rosa und sie arrangieren sich damit, essen Tiefkühlpizza oder Brote. Nur den Haushalt macht keine, darum kümmert sich immer Hendrik, wenn er zu Hause ist, bis dahin lassen sie es schleifen.

Johanna möchte sich ins Bett legen, sie ist furchtbar müde und muss sehr früh zum Großmarkt, aber sie weiß, dass sie nicht einschlafen kann, wenn ihre Tochter unterwegs ist. Rosa allerdings will vor dreiundzwanzig Uhr daheim sein. Sie stellt einen Wecker vor Johannas Schlafzimmertür und wird ihn später ausstellen, bevor er klingeln kann. Johanna schaut in den Spiegel und sieht die tiefe Zornesfalte über ihrem Nasenrücken. Sie ist gerade einmal Anfang vierzig und merkt im Alltag, wie sie verblasst und zu verschwinden droht. Sie zieht die Stirn nach oben und die Falte wird schmäler, vielleicht sollte sie etwas machen lassen, nur ein ganz klein wenig nachhelfen.

Fazit: Tja, wo fange ich an? Eva Lohmann hat hiermit ihren zweiten Roman geschrieben. Ich habe ihn gelesen, weil mir ihr erster „Das leise Platzen unserer Träume“ gut gefallen hat. In vorliegendem Buch erzählt die Autorin von einer Frau mittleren Alters, deren geliebte Tochter flügge wird. Die Protagonistin möchte die enge Bindung zu ihr beibehalten, möchte weiterhin gebraucht werden. Im Alltag fühlt sie sich alt, farblos und unsichtbar. Als sie etwas „machen lässt“ gerät sie mit Mann und vor allem Tochter in Konflikt. Sie beginnt zu hinterfragen, was wirklich zählt im Leben und ordnet ihre Prioritäten neu. Zu Anfang der Geschichte fand ich ihre Sorgen über das Älterwerden trivial, vielleicht liegt es am Erzählstil. Denn tatsächlich passieren im Körper einer Frau, die die Vierzig überschreitet ja unendlich viele neue und verunsichernde Prozesse, die für die Betroffenen alles andere als oberflächlich erlebt werden. Dann war mir die Klüngelei zwischen Mutter und Tochter zu viel, der perfekte Ehemann, die lange Zeit, die sie durch seinen Beruf getrennt sind so easy, weil sie gut allein sein kann. Und dann kam mir alles, was ich las fad vor, so heil und harmonisch. Hier und da ein paar kleine Herausforderungen, die halt gemeistert werden. Für mich ein flacher Unterhaltungsroman, der wichtige Themen anschneidet, aber nicht vertieft.

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Veröffentlicht am 10.03.2025

Die Idee hat mir gefallen, die Umsetzung nicht

Die Summe unserer Teile
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Nur noch ein Tag bis Semesterende und Lucy ist aufgedreht. Phil will ihr in den nächsten Tagen die Berliner Seenlandschaften zeigen. Weg von den Spielen, die sie programmieren wollen. Sie hüpft die Stufen ...

Nur noch ein Tag bis Semesterende und Lucy ist aufgedreht. Phil will ihr in den nächsten Tagen die Berliner Seenlandschaften zeigen. Weg von den Spielen, die sie programmieren wollen. Sie hüpft die Stufen des Berliner Altbauflurs hinauf in die Wohnung, die sie sich mit Oliver teilt. Als sie die Tür ihres Zimmers öffnet, vergeht ihre gute Laune sofort. Ihr Schreibtisch und der Stuhl wurden zur Seite geschoben, um einem Konzertflügel Platz zu machen. Sie kennt den Steinway, der mehr als den halben Raum für sich beansprucht genau. Sie hatte lange darauf spielen müssen, zur Freude ihrer Mutter. Obwohl sie sicher ist, dass ihre Mutter ihr das Kindheitsmonster geschickt hat, wundert sie sich, dass auf dem Lieferschein der Mädchenname ihrer Großmutter steht.

Erst vor drei Jahren ist Lucy von München an die TU Berlin gegangen, um Mathematik zu studieren. Den Kontakt zu ihrer erdrückenden Mutter und den zu allem schweigenden Vater hat sie abgebrochen. Jetzt haben sie wohl doch herausgefunden, wo sie steckt. Lucy weiß nicht viel über ihre Großmutter, eigentlich nur, dass sie mehrfach abgehauen ist. Zuerst vor dem schreienden Vater und der erdrückenden Mutter nach Sopot, in die Danziger Bucht, zu ihrer Tante, aber die hat sie sofort in den Zug zurück gesetzt. Dann ist sie 1942 vor den Nazis geflüchtet. Jemand half ihr über die Grenze nach Ungarn, von dort in die Türkei und dann in den Libanon, wo sie Physik studierte.

Fazit: Paola Lopez hat in ihrem Debüt eine Familiengeschichte geschaffen, die drei Generationen zeigt. Kapitelweise erzählt sie aus dem Leben der jungen Lucy, ihrer Mutter Daria und deren Mutter Lyudmila. Alle drei Frauen haben sich für ein Studium entschieden, das sie ehrgeizig zu Ende bringen. Die Autorin hat einen Generationskonflikt geschaffen, wie es ihn häufig gibt. Lyudmila hat traumatische Erfahrungen gemacht, musste ihr Land verlassen und sich in einer fremden Kultur alleine durchbeißen. Sie fordert von anderen ebensoviel wie von sich selbst, aber das ist nur die halbe Wahrheit. Ihre Tochter Daria hadert mit ihrer Mutter, weil sie sich ungewünscht fühlt. Sie erinnert ihre Mutter hart und selbstbezogen. Die Jüngste im Bunde, Lucy, fühlt sich von ihrer Mutter unterdrückt und emotional erpresst. Es wirkt, als habe jede Generation den roten Herkunftsfaden an die Nächste weitergegeben und nur die Lebenden können das Dilemma auflösen. Ich muss gestehen, dass ich kaum in die Geschichte hineingefunden habe. Alle drei Frauencharaktere sind dominant, selbstbezogen, überheblich und selbstüberschätzend. Diese emotionale Kühle zieht sich durch den gesamten Roman. Wenn Gefühle gezeigt werden könnten, werden sie von Pathos überdeckt. Die Autorin hat viele Beschreibungen chemischer Experimente, mathematischer Gleichungen und ebensolche Metaphern genutzt, die mich aus dem Lesefluss gehauen haben. Ich habe mehr gedacht als gefühlt und häufig den Kopf geschüttelt. Die Idee der Geschichte hat mir gefallen, aber die Umsetzung gar nicht.

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Veröffentlicht am 06.03.2025

Verlusterfahrungen auf eindrückliche Weise verarbeitet

dreimeterdreißig
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Er saß reglos im Bett, mit einem Blick, den sie nie bei ihm gesehen hatte, den sie ihm nicht zugetraut hatte. Mit dem Oberkörper an das Kopfende gelehnt, die Arme schlaff neben sich. Sie schließt die Schlafzimmertür ...

Er saß reglos im Bett, mit einem Blick, den sie nie bei ihm gesehen hatte, den sie ihm nicht zugetraut hatte. Mit dem Oberkörper an das Kopfende gelehnt, die Arme schlaff neben sich. Sie schließt die Schlafzimmertür hinter sich, läuft über die knarzenden Dielen im Flur bis in die Küche. Ihre Arme stützen ihren nach vorne gebeugten Oberkörper über der Spüle. Seine Tasse vom Frühstück fällt hinunter, der schwarze Inhalt verteilt sich auf dem Küchenboden. Ihre Gedanken krallen sich daran fest, wie ungewöhnlich das ist, denn Balázs zelebrierte Ordnung. Er war so ordnungsliebend, dass er es nicht ertragen konnte, dass ein Raum den Anschein erweckte, bewohnt zu sein. Wie oft Klaras Chaos ihn zur Weißglut gebracht hatte.

Er war Bühnentechniker. Sie hatten sich nach einer Feier auf dem Trottoir vor der Haustür getroffen. Sie lief fast in ihn hinein und sie kamen ins Gespräch. Nein, sie redete, während er einsilbig antwortete. Sie gingen ein Stück des Weges zusammen und als sie sich trennten, gab Klara ihm ihre Telefonnummer. Er war froh drüber, wusste, dass er sie nie gefragt hätte, denn er war zu schüchtern.

Balázs kam aus Ungarn. In den 1990ern breitete sich der Populismus aus, um den Kommunismus abzulösen. Russland marschierte in Ungarn ein, zerschlug die Revolution und hungerte das Land aus. Seit 2010 ist Victor Orban an der Macht. Als die Grenzen fielen, fing Balázs in einem Gasthof in Österreich an, in dem schon seine Großmutter gearbeitet hatte. Das spaltete ihn von seiner Familie, die im eigenen Land bleiben wollte und als Balázs nach Wien zog, verlor sich der Kontakt fast ganz.

Klara hat anfangs Schwierigkeiten, sich auf Balázs einzulassen. Es liegt nicht an ihm, weil er ein grundanständiger Kerl ist. Sie hat bisher immer die Flucht ergriffen, wenn Beziehungen zu eng wurden. Sie fürchtet sich vor der Verschmelzung und dem Gefühlschaos, vor der Abhängigkeit der Tagesform eines anderen. Ihre Therapeutin attestierte ihr innere Härte. Klara attestierte der Therapeutin eine lebhafte Fantasie.

Fazit: Jaqueline Scheiber verarbeitet in ihrem Debüt eigene Verlusterfahrungen auf sehr eindringliche Weise. Ihre Protagonistin lernt einen fleißigen, gütigen Mann kennen, dessen Heimatland Ungarn ist. Sie führt mich in die Anfänge ihrer Beziehung und zeigt mir zwei Menschen, die sehr zusammenzupassen scheinen. Beide haben in der Vergangenheit eindrückliche Erfahrungen gemacht, die aus ihm einen unsicheren Mann machen, der sich fürchtet, gesellschaftlichen Konventionen nicht zu genügen und aus ihr eine selbstbewusste Frau, die vor tiefen Bindungen zurückschreckt und Intimität vermeidet. Beide schaffen es, sich miteinander zu arrangieren und Vertrauen zu finden, doch dann passiert das Unvorstellbare. Klara verliert den Mann, dem sie sich zu zeigen traute, in dem Moment größter Abhängigkeit. Die Autorin zeichnet ihre Geschichte von dem Augenblick, als Klara neben ihm erwacht rückblickend, führt mich durch beider Leben und zeigt, was sie ausmacht, wie sehr sie zusammenwachsen. Die Aufarbeitung der politischen Situation in Ungarn und die Mentalität der Menschen dort fand ich spannend. Ich weiß nicht genau, was mich daran gehindert hat, mich emotional auf die Erzählung einzulassen. Sicher mein Unverständnis über Klaras anfängliche augenscheinliche Unfähigkeit zu handeln und stattdessen das Bad zu putzen. Zum Ende leuchten jedoch blitzlichtartig Episoden auf, wie Balázs Leben endete und ihre Wiederbelebungsversuche. Für mich eine Handlung, die mich irritiert und meinen Lesegenuss gestört hat. Seis drum, ich habe viele ganz wunderbare Besprechungen von anderen Rezensent*innen gelesen und damit kann ich leben. Meine Empfehlung für dieses Debüt.

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Veröffentlicht am 03.03.2025

Eine anspruchsvolle Geschichte, der ich gerne gefolgt bin

Woran ich lieber nicht denke
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Ihr erster Gedanke gilt ihrem Zwillingsbruder. Wenn sie am Morgen erwacht, ist er da. Wie sie damals Waterboarding gemacht hatten. Er legte sich aufs Sofa und sie legte ihm ein Geschirrtuch über das Gesicht. ...

Ihr erster Gedanke gilt ihrem Zwillingsbruder. Wenn sie am Morgen erwacht, ist er da. Wie sie damals Waterboarding gemacht hatten. Er legte sich aufs Sofa und sie legte ihm ein Geschirrtuch über das Gesicht. Dann ließ sie Wasser in seinen Mund laufen, in einem feinen Rinnsal. Er hielt nicht lange aus, dann fesselte sie seine Hände und er bat sie aufzuhören. Danach war sie dran, aber sie zappelte und wand sich aus den Fesseln. Sie wollten wissen, wie die Leute in Guantanamo empfanden, wenn sie gefoltert wurden.

Die Mutter machte sich Sorgen um sie, weil sie keine Schönheit war. Um den Sohn musste sie sich nicht sorgen, der konnte alles und sie wusste: Aus dem wird einmal was. Er war zwanzig Minuten vor ihr geboren, als wäre das eine Erklärung für alles.

Nach einem Workshop bei Oshos Anhängern war ihr Bruder erleuchtet. Danach wusste er, dass das Leben keine Linie, sondern ein Kreis war. Sterben und wieder von vorne anfangen. Es gab nur zwei Aspekte des Lebens, die völlige Hingabe oder die akzeptierte Selbsttötung, um der Enge des Egos zu entkommen.

Mit achtzehn zogen sie aus, jeder in eine eigene Wohnung, nur dreihundert Meter voneinander entfernt. Sie studierte Englisch und jobbte in einem Secondhandshop. Er studierte Englisch und jobbte in einer Schwulenbar. Dann gefiel es ihm dort so gut, dass er sich exmatrikulierte und fest anstellen ließ.

Er wurde mit neun gemobbt. Auf einem Foto aus dieser Zeit sieht man, dass seine Augen langsam an Glanz verloren. Sie erinnert sich, wie er ganz allein auf dem Schulhof in der Ecke stand und sie ihn ignorierte. Sie spürte seine Bedürftigkeit und das passte nicht dazu, dass er ihr zuhause in allem überlegen war. Seine Sorgen, Ängste und Albträume begannen schon, als er zwölf war.

Fazit: Die Niederländerin Jente Posthuma hat eine fein abgestimmte Erzählung ähnlich eines Memoirs geschaffen. Darin zeigt sie ihre fiktive Protagonistin in ihrem Alltag, während sie sie immer wieder zurückblicken lässt. Sie versucht den Tod des geliebten Bruders zu verstehen. Ohne Bewertung blickt sie auf die vielen Ereignisse, die möglicherweise dazu führten, dass ihr Bruder depressiv geworden ist. Die Mutter, die Nähe schwer zulassen und keine schenken konnte. Der Vater, der die Familie frühzeitig verließ. Wie der Bruder glorifiziert wurde und ein Quell der mütterlichen Freude war. Der frühe Hang zur Melancholie beider Geschwister. Die Geschichte plätschert leise vor sich hin und erzeugt auch mit humorvollen, komischen Anekdoten eine einnehmende Stimmung. Die Tragik ist spürbar und die Verarbeitung des Verlustes tief und lang anhaltend. Eine anspruchsvolle Geschichte, der ich sehr gerne gefolgt bin.

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