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Veröffentlicht am 27.02.2025

Muttersein in allen Facetten

Die Tochter
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Für Laura gibt es nur zwei Gruppen von Freundinnen. Die, die bereit sind, ihre Freiheit aufzugeben. Und die, die bereit sind, in den Augen von Eltern und Gesellschaft in Ungnade zu fallen. Alina gehört ...

Für Laura gibt es nur zwei Gruppen von Freundinnen. Die, die bereit sind, ihre Freiheit aufzugeben. Und die, die bereit sind, in den Augen von Eltern und Gesellschaft in Ungnade zu fallen. Alina gehört zur ersten. Sie sind Mitte dreißig und haben sich klar gegen eigene Kinder entschieden. Laura hat das mit einer Sterilisation untermauert. Der Verlust der Freiheit, die Unmöglichkeit einer Karriere, der Stress, die Stillzeit, die schlaflosen Nächte, das alles schreckt sie ab.

Als Juan ihre Räume noch mit dem Geruch von Ölfarbe füllte, da hatte sie zarte Anwandlungen verspürt. Im Gegensatz zu ihr konnte er gut mit Kindern. Immer wenn er sie traf, sprach er mit ihnen, das nahm ihr die Angst, brachte sie ihr näher, so dass sie sie wohlwollend aus der Ferne beobachtete. Zu dieser Zeit fielen ihr auch schwangere Frauen auf. Wenn sie mit ihnen in der Kinoschlange stand, sprach sie sie an, wollte wissen, wie selbstbewusst sie sich dafür entschieden hatten. Nachdem Juan dann seine übergroße Bereitschaft zeigte, ein Kind zu zeugen, machte sie kurzen Prozess, ohne ihn einzuweihen. Danach stellten sie schnell fest, dass sie unterschiedliche Lebensentwürfe hatten und sie zog aus.

Und nun vertraut Alina ihr an, dass sie seit einem Jahr versucht, schwanger zu werden. Laura spürt den Riss, der sich durch ihre Freundschaft zieht intensiv, im Gegensatz zu Alina. Nach zahlreichen Fruchtbarkeitsbehandlungen erwartet Alina ein Mädchen und macht ihren Aurelio glücklich. Während der Schwangerschaft machen die Ärzte Alina Angst. Eine Ultraschalluntersuchung zeigt ein zu kleines Gehirn und man rät ihr ein MRT machen zu lassen. Obwohl Alina unter Platzangst leidet, will sie das Beste für ihr Kind, aber sie hält es in der geräuschvollen Röhre nicht lange genug aus. Obwohl die Bilder stark verpixelt sind, ist sich die Ärzteschaft einig. Ihre Tochter hat einen sehr seltenen Gendefekt und die Odyssee beginnt.

Fazit: Guadalupe Nettel hat eine außerordentliche Geschichte geschaffen. Sie schreibt über Mutterschaft in all ihren Facetten. Über die Sorge, das Glück, die Wehmut, den Schmerz, den Frust und die Liebe. Alinas Sorge bekommt berechtigterweise einen großzügigen Raum. Die ganze Tortur, der sie ausgesetzt ist, weil sie einen Kinderwunsch verspürte, ist herzzerreißend und nervenaufreibend erzählt. Die Ich-erzählende Protagonistin, aus deren Sicht die Geschichte gezeigt wird, wirkt zuerst abgeklärt und unterkühlt. Das Schicksal ihrer Freundin aber reißt sie emotional mit und sie wird eine große Unterstützung. Sie selbst macht ihre eigenen Erfahrungen mit einem ihr fremden Jungen und seiner überforderten Mutter und erlebt selbst Zuneigung und Liebe, die sie Welten bewegen lässt. Und auch das schwierige Verhältnis zur eigenen Mutter findet einen Platz. Die Autorin erzählt mit einer Leichtigkeit, die mich durch die Seiten hat fliegen lassen, mich trotz aller schwierigen Themen nicht erdrückt, sondern mir eine positive Entwicklung zeigt. Ich habe mich in jede Figur hineinversetzen können und tief mitgefühlt. Die Rolle der Mutter wird unterschätzt und erfährt kaum Wertschätzung sondern wird als selbstverständlich und natürlich erstrebenswert betrachtet. Dieses Buch vermittelt Empathie und Toleranz für alle weiblichen Entscheidungen.

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Veröffentlicht am 24.02.2025

Krass andere Lebenswirklichkeit

bruder, wenn wir nicht family sind, wer dann
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Marco ruft an, mitten in der Nacht: „Er ist tot!“ Ivor hört ihn weinen. Marco muss nichts mehr sagen, er weiß, wen er meint.

Marco und Ivor kennen sich seit der fünften. Ivor ist halbe Kartoffel, nur ...

Marco ruft an, mitten in der Nacht: „Er ist tot!“ Ivor hört ihn weinen. Marco muss nichts mehr sagen, er weiß, wen er meint.

Marco und Ivor kennen sich seit der fünften. Ivor ist halbe Kartoffel, nur seine Mutter kommt aus Kroatien. Marco ist schwarz wie die Nacht und muslimischer Somali. In der Schule hatten sie es voll drauf, Aufgaben gemacht, sich noch am späten Abend angerufen und ihre Ergebnisse abgeglichen. Ivor wollte Anwalt werden mit fetter Kanzlei und so. Sie baten die Lehrer, ihnen schwerer Aufgaben zu geben, weil sie sich langweilten. Aber die wollten das nicht, keiner sollte übervorteilt werden und dann quatschten sie eben und störten.

Irgendwann stieß Arjan zu ihnen und Marco brachte Jonas mit, den Jungen mit der cuten Piepsstimme. Ab da waren sie so ne Art Gang. In der neunten hat er Xanax geballert, hat sich gedacht, eine ist keine und dann das ganze Blister eingeworfen. Danach chillte er so richtig schön auf dem Sofa. Der Kollege wusste das und machte sich Sorgen, hat ihn angerufen, aber totenstill. Er ist dann mit der Leiter in den zweiten Stock durchs Fenster, sah Ivor ganz bleich auf dem Sofa hängen und hat ihn ins Leben zurückgeschüttelt.

Jonas wird immer von alten Säcken zugelabert, voll Pädo! Arjan macht ihn deswegen an.

Jonas: „Deine Stirn ist bbb-reitt-er als mein Bbbild-schsch-irm.

Arjan: „Ja klar, meine Stirn kriegt aber von seinem alten keine geballert.“

Jonas: „Ja, aber immerhin wollte mein Vvvvater mich.“

Alle schreien „burn“.

Fazit: Der zwanzigjährige norwegische Shootingstar hat sich in seiner Autobiografie, ich würde es Memoir nennen, selbst porträtiert. In kurzen Ausschnitten, die zum Teil auf dem Handy geschrieben wurden, erzählt er von den Erlebnissen mit seinen drei Freunden im Oslo der 2020er. In der Schule unterfordert und gelangweilt wird die Straße zunehmend zum Entwicklungsumfeld. Sie probieren alles an Drogen aus, was ihnen in die Hände fällt und werden zunehmend versierter in der Dosierung. Alle vier rutschen immer weiter in den selbstzerstörerischen Teufelskreis. Sie kompensieren ihr Gefühl der Wertlosigkeit durch Taubheit und ihre Wut durch Aggression. Den ständigen Geldmangel beheben sie durch Drogengeschäfte, werden dabei abgezockt und rächen sich. Alle vier haben keine geeignete Vaterfigur innerhalb der Familie und keine männlichen Vorbilder. Sie verhalten sich nach den Vorstellungen, die die Gesellschaft ihnen suggeriert hat. Die Abhängigkeit voneinander ist riesig. Jeder muss auf den anderen aufpassen, weil keiner auf sich selbst aufpassen kann. Die Geschichte ist aus Sicht des Ich-Erzählers gezeigt. Alle Worte sind konsequent klein geschrieben. Der Erzähler zieht mich rein in diesen kaputten Sog. Ich tauche einzig auf, um mir einzelne Wörter des Slangs zu übersetzen, weil sich die Drogenszene seit meiner Zeit in den 80er-Jahren weiterentwickelt hat. Erschütternd, dem Gesetz der Straße zuzusehen, dort, wo immer der Stärkere recht hat. So sieht heute die Lebensrealität vieler junger Menschen aus. Um in den genuss der Zeilen von Oliver Lovrenski kommen zu können, sollte man aufgeschlossen gegenüber anderen Lebenswirklichkeiten sein.

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Veröffentlicht am 21.02.2025

Zeitgenössischer, humorvoller Einblick

Russische Spezialitäten
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Dimchik verzweifelt, weil Mama russisches Fernsehen in Warteschleife konsumiert. In Sibirien werden die Menschen von minus 30° Celsius beherrscht, sagt der Reporter. Daraufhin verkündet Mama stolz: „Na ...

Dimchik verzweifelt, weil Mama russisches Fernsehen in Warteschleife konsumiert. In Sibirien werden die Menschen von minus 30° Celsius beherrscht, sagt der Reporter. Daraufhin verkündet Mama stolz: „Na und, es waren auch schon minus 50°!“ Woraufhin Dimchik sich fragt, worauf Mama stolz ist, auf die russische Kälte? Mama wurde in Sibirien geboren und wurde von ihrer Mutter im zarten Alter von drei Jahren ins wärmere Moldawien gebracht. Mamas Vater war da schon abgehauen. Später ging sie nach Kyjiw, lernte Dimchiks Papa kennen und gebar Dimchik zu Hause. Außer der Sprache und dem Propagandafernsehen verbindet sie nichts mit dem russischen Staat.

Ende der 90er-Jahre gingen sie nach Sachsen und Dimchik erhielt die deutsche Staatsbürgerschaft. Die Eltern investierten in Telekomaktien und verloren bis auf 2.000 Mark alles Ersparte. Da wollte Mama einen Laden für russische Spezialitäten eröffnen. Magasin stand in dicken kyrillischen Buchstaben am Schaufenster. Die Eltern fuhren abwechselnd nach Kyjiw, um die russischen Leckereien zu erobern. Sie brachten Flusskrebse in Tomatensoße, Krimsekt, Kaviar, Kondensmilch, Mirhorodskaya (salziges Mineralwasser), Sauerkraut, Matrjoschkas und die CDs mit den größten (und traurigsten) Hits von Wladimir Wissotzky mit.

Jetzt bedient Papa die Kundschaft (was er nie wollte) und Mama sitzt im Kabuff und macht die Quartalssteuererklärung auf einem PC von 1997, der, nachdem er fünfzehn Minuten hochgefahren ist, um den Gnadenschuss fleht. Am Abend sitzt Mama vor dem Russlandfernseher, raucht Kette und wiederholt wetternd ihre gewonnenen Erkenntnisse: Die faschistischen Ukrainer seien geldgeil, während die heldenhaften Russen das Land wieder aufbauten, das die Ukrainer selbst zerstörten, um den Russen zu diskreditieren. Dimchik weiß, dass ihr Gerede nicht herzlos ist, aber wahrheitsverloren.

Fazit: Dmitrij Kapitelmann hat mit viel Liebe und Humor eine zeitgenössische Geschichte geschaffen, die mit den gängigen Vorurteilen aufräumt, aber nicht nur das. Die Mutter des Protagonisten orientiert sich einzig am russischen Propagandafernsehen, das seine Landsleute mit jeder Menge falscher Informationen füttert. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat Völker gespalten. Jederzeit können kampffähige Männer auf beiden Seiten eingezogen und Existenzen vernichtet werden, sowohl wirtschaftlich als auch körperlich. Die Ukrainer möchten die Sprache, die ihnen über Jahrzehnte aufgezwungen wurde, nicht mehr sprechen. Der Protagonist liebt die russische Sprache (ukrainisch hat er nie gelernt), die Kultur und Schriftsteller und jetzt wird sein Verhältnis zu seiner Muttersprache politisch entmündigt. Das Land, in dem er lebt, wählt erstmals Faschisten in den Bundestag und in ganz Europa findet ein Rechtsruck statt, während man seinen ukrainischen Landsleuten Faschismus vorwirft, das ist alles nicht ermutigend. Ich mag diese Geschichte sehr, weil der Autor mir seine Kultur, sowohl die elterlich russische als auch die ukrainische ganz nah bringt. Er macht das, indem er mir die Spezialitäten, aber auch seine Landsleute zeigt. Der humorvolle Ton macht die Geschichte so gut lesbar, ohne das eigentliche Elend und das ganze Dilemma zu bagatellisieren. Eine gute Geschichte zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Danke für den Einblick.

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Veröffentlicht am 20.02.2025

Ein vielschichtiges Debüt

In ihrem Haus
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Niederlande 1961

Isabel hat im Garten gegraben und eine Porzellanscherbe gefunden. Sie sieht aus wie ein Stück des teuren Services, das sie wie einen Schatz in der Vitrine hütet. Sie weiß, dass es vollzählig ...

Niederlande 1961

Isabel hat im Garten gegraben und eine Porzellanscherbe gefunden. Sie sieht aus wie ein Stück des teuren Services, das sie wie einen Schatz in der Vitrine hütet. Sie weiß, dass es vollzählig ist. Sie ist Ende zwanzig und hat vor einem Jahr ihre Mutter beim Sterben begleitet. Jetzt lebt sie allein in dem großen Haus. Ihre einzigen Kontakte sind die selten gewordenen Abendessen mit ihren Brüdern Hendrik und Louis, ihrer Haushaltshilfe Neelke und dem Nachbarn Johan, der ihr aufdringliche Avancen macht.

Sie fühlt sich von ihren Dienstmädchen bestohlen und kontrolliert argwöhnisch den Bestand. Ihr Bruder Hendrik scherzt, dass es in der Provinz bald kein Dienstmädchen mehr gäbe. Sie haben sich mit Louis zum Abendessen verabredet, der die Dreistigkeit besitzt, sie warten zu lassen. Als er das Lokal betritt, gestikuliert er aufgeregt mit dem Kellner. Er hat eine Frau dabei, die wievielte wissen sie nicht. Isabel ist verärgert, weil Louis nicht Bescheid gesagt hat. Seine Eroberung hat goldgelb gefärbte Haare, am Ansatz braun. Ihr Kleid ist zu eng und der Saum verschlissen. Isabell findet sie billig, peinlich und durchschaubar, sie wendet sich ab. Louis nennt sie Eva, sie wirft die Vase um, als sie sich über den Tisch beugt und ihnen die Hand geben will, entschuldigt sich, kichert, blickt zu Boden, setzt sich. Isabel fragt sich, wo Louis diese Frauen auftreibt. Im Damen-WC macht sie Eva klar, dass sie sie nicht eingeladen hat, sie bald eh Geschichte sein wird und sie sich nicht wiedersehen werden.

Louis muss auf eine Geschäftsreise, etwa vier Wochen gedenkt er fortzubleiben. Er bringt Eva zu Isabel, weil die ihre Wohnung gekündigt hat und nicht mit Louis Mitbewohner alleinbleiben möchte. Isabel ist empört. Sie wehrt sich gegen seine Pläne, aber das Haus ist Louis versprochen, sobald er heiratet, kann er das Haus für sich beanspruchen. Isabel fügt sich.

Eva erwacht spät, kommt in die Küche, wenn Isabel längst gefrühstückt hat. Sie wohnt in dem ehemaligen Zimmer Isabels Mutter und lässt ihre Kleider überall herumliegen.

Schmutz war der Mutter ein Dorn im Auge. S. 49

Eva fasst alles an und Isabel vermisst silberne Kaffeelöffel.

Eva war raumgreifend auf eine laute, rastlose Art, wie eine eingesperrte Biene. S. 47

Fazit: Yael van der Wouden hat ein vielschichtiges Debüt geschaffen, dessen Tiefe sich erst nach und nach entblättert. Der Erzählstil ist eigen und folgt souverän dem Verlauf der Geschichte. Die Hauptprotagonistin ist eine spröde junge Frau, die das Leben ihrer Mutter nachlebt. Sie hütet das Haus und dessen Inhalt (Andenken an die Mutter) wie ein Museum. Ihre rigiden Vorstellungen lassen sie steif und ungelenk wirken. Männer leben noch ganz im Zuge der Selbstermächtigung und Rücksichtslosigkeit, als Herren der Schöpfung. Isabels Familie ist durch den Krieg aus Amsterdam vertrieben worden. Der Onkel hat ihnen ein großes Haus besorgt, ein neues Heim für Mutter und Kinder. Isabel erinnert sich an Unstimmigkeiten in ihrer Kindheit, möchte sie aber nicht ergründen. Eva hat ebenfalls eine Geschichte, die sie in nächtlichen Albträumen quält. Der Konflikt besteht nicht nur in der Unterschiedlichkeit der beiden Frauen. Und dann lässt mich die Autorin an so überraschenden Entwicklungen teilnehmen, die dem Roman so eine Sinnhaftigkeit geben, dass ich aus dem Staunen und dem Fühlen gar nicht mehr herauskomme. Selten habe ich eine so intensive und versöhnliche Vergangenheitsbewältigung gelesen. Muss man lesen!

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Veröffentlicht am 19.02.2025

Epische Geschichte in der Klangfarbe Österreichs

Wild wuchern
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Marie hat ihn blutend zurückgelassen. Sie hat auf die Schnelle wenige Sachen in ihren Rucksack gestopft und ist zum Bahnhof gefahren. Zuerst wollte sie nach Italien, aber da hat er sie schon dreimal gefunden, ...

Marie hat ihn blutend zurückgelassen. Sie hat auf die Schnelle wenige Sachen in ihren Rucksack gestopft und ist zum Bahnhof gefahren. Zuerst wollte sie nach Italien, aber da hat er sie schon dreimal gefunden, obwohl sie immer an anderen Orten war. Dann steigt sie in den Zug, der vor ihr steht und das ist ein Glück, denn jetzt ist sie auf dem Weg zu Johanna. Da kann er sie nicht vermuten, denn er weiß nichts von Johanna.

Marie ist am Fuß des Berges angekommen, es ist stockfinstere Nacht und das Glas ihres Handys ist zerbrochen. Sie war lange nicht mehr hier und jetzt wird sie sich mit den Schemen begnügen. Es raschelt im Laub, Tiere schreien, ihr Atem überschlägt sich, die Ohren dröhnen. Sie muss ein Stück durch den Wald, es klingt dumpf, sie sieht die Hand vor Augen nicht. Jemand keucht. Panik. Sie weiß, dass sie einen Hang hinaufmuss. Da ist der Bach, sie erinnert sich, watet durch das eiskalte Wasser, wird fast umgerissen. Jetzt erklimmt sie den Hang auf allen vieren, sieht die Hütte und das Licht im Fenster, nein, doch nicht, eine Mondspiegelung. Sie klopft aber nichts passiert, drückt die Klinke herunter und schiebt die schwere Tür auf. Dunkelheit. Im Mondlicht sieht sie den großen Holztisch, Stühle. Ein Feuer glimmt im Ofen. In der Ecke steht ein Kleiderständer, den sie nicht kennt. Das passt gar nicht zur Johanna, dass sie ihn hier hochgeschleppt hat und da bewegt er sich, dreht sich um und die Johanna erscheint.

Es ist früher Morgen. Sie sitzen am Tisch und essen Polenta, die Johanna zubereitet hat. Wie lange sie bleiben will, will Johanna wissen. Ob sie wegen ihr gekommen sei. Natürlich nicht, denn dann würde Marie Wanderschuhe und keine Riemchensandalen tragen, es wäre nicht mitten in der Nacht gewesen und sie hätte etwas Nützliches mitgebracht, etwas zu essen, aber das sagt Marie der Johanna nicht.

Fazit: Katharina Köller hat eine epische Geschichte in der Klangfarbe Österreichs geschaffen. Die Protagonistin flüchtet aus einem Leben, das kopfsteht. Aus Not hat sie eine Dummheit begangen. Bei ihrer wortkargen und menschenfeindlichen Cousine sucht sie Zuflucht. Die anpassungsfähige Stadtfrau, die zu Selbstironie neigt, versucht sich dem harten, entbehrungsreichen Landleben der sich selbst versorgenden Johanna unterzuordnen, aber sie bleiben zu verschieden. Die Autorin hat mich mitgenommen in die Tiroler Alpen und mir die unberechenbare Natur gezeigt. Ich habe sie selber erlebt und mich gerne zurückerinnert. Sprachwitz und Metaphern lockern das schwierige Thema Kindheitsprägung auf. Die einfache Sprache erleichtert den Lesefluss und hat mich geschwind durch die Zeilen fliegen lassen. Für mich ein emotionaler Lesegenuss, den ich besonders empfehlen kann.

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