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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 27.05.2020

Vielversprechende Grundidee, großartiges Setting, aber leider auch viel verschwendetes Potential!

Das Dorf der toten Seelen
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Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Alice, eine Universitätsabsolventin, hat es satt, sich mit Aushilfsjobs durchzuschlagen und beschließt, sich ihren Traum, eine Dokumentation über die Geisterstadt Silvertjärn ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Alice, eine Universitätsabsolventin, hat es satt, sich mit Aushilfsjobs durchzuschlagen und beschließt, sich ihren Traum, eine Dokumentation über die Geisterstadt Silvertjärn zu drehen, zu erfüllen. Dort sind vor ca. 60 Jahren über 900 EinwohnerInnen spurlos verschwunden. Was ist damals geschehen? Alice fährt mit einem kleinen Filmteam ins Dorf, um dort einige Tage zu recherchieren. Mit dem vorläufigen Filmmaterial soll ein Trailer erstellt werden, um Sponsoren zu gewinnen, damit die Dokumentation im Herbst gedreht werden kann. Doch als Alice und ihr Team in Silvertjärn ankommen, scheinen dort seltsame Dinge zu passieren…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präsens
Perspektive: weibliche Perspektive
Kapitellänge: kurz
Tiere im Buch: + Es werden im Buch keine Tiere verletzt, gequält oder getötet. Zwei Mitglieder leben sogar vegetarisch, weswegen keine der Malzeiten Fleisch enthält.
Triggerwarnung: Tod von Menschen, psychische Krankheiten (Depression, Psychose), Selbstverletzung, Suizid, sex. Missbrauch, Behinderung, Erbrechen

Warum dieses Buch?

Der Klappentext klang so spannend und unheimlich, dass ich nicht widerstehen konnte!

Meine Meinung

Einstieg (5 Lilien ♥)

„Die Miene seines Kollegen zeigte eine Mischung aus Entsetzen und Ekel.
‚Was in Gottes Namen ist hier passiert?‘“ E-Book, Position 67

Nie ist mir der Einstieg in eine Geschichte leichter gefallen als bei diesem Buch. Der Thriller beginnt unheimlich stark mit einem Gänsehaut-Prolog und einer spannenden Projektbeschreibung. Man will sofort weiterlesen und die Geheimnisse des Dorfes ergründen!

Schreibstil (4 Lilien)

Ich mag den Schreibstil von Camilla Sten. Er ist einfach, schnörkellos, anschaulich und flüssig lesbar. Für einen kurzweiligen Thriller ist die Sprache also perfekt geeignet, auch wenn ich mir manchmal noch etwas mehr Tiefe gewünscht hätte. Achtung: Auch blutige und brutale Szenen werden detailliert beschrieben, weshalb das Buch für sensible Seelen nur bedingt geeignet ist.

Idee, Inhalt, Themen & Ende (3 Lilien)

„Silvertjärn ist eine ehemalige Bergarbeitersiedlung in Mittelnorrland, die seit 1959 so gut wie unberührt geblieben ist. Damals verschwanden sämtliche der rund 900 Einwohner unter ungeklärten Umständen.“ E-Book, Position 74

Durch unscheinbare Cover wäre ich beinahe nicht auf das Buch aufmerksam geworden. Doch der Klappentext ließ meine Erwartungen in die Höhe schnellen. Schließlich hatte die Grundidee unheimlich viel Potential! Ein abgeschiedenes Dörfchen, 900 verschwundene Menschen und ein kleines Filmteam, das sich auf die Spuren der Verschwundenen begibt – das klingt doch nach einem atemlos spannenden, großartigen Thriller, oder?

Die Geschichte wird auf drei Zeitebenen erzählt: Wir begleiteten abwechselnd Alice und ihr Filmteam in der Gegenwart und ihre Urgroßmutter Elsa im Jahre 1959. Zusätzlich lesen wir Briefe aus Silvertjärn. Obwohl ich Rückblenden oft skeptisch begegne, habe ich sie hier sogar lieber gelesen als die Handlung in der Gegenwart. Themen wie Freundschaft, Lebensträume, Ehrgeiz, die eigene Familiengeschichte und Geheimnisse stehen im Mittelpunkt des Thrillers. Diese Aspekte werden meist mit angemessener Tiefe behandelt. Auch das Thema „psychische Krankheiten“ wird im Buch angesprochen – ich bin unschlüssig, was ich davon halten soll, da die Ausarbeitung (eine Frau mit Psychose wird als eine Art „Monster“ inszeniert!) meiner Meinung nach das Stigma, unter dem Betroffene leiden, in gewisser Weise fördert.

Das Buch startet stark und vielversprechend, doch leider gelingt es der Autorin im Laufe der Geschichte immer weniger, das Potential ihrer Idee und ihres besonderen Settings zu nutzen. „Ewig schade!“, würde man hier in Österreich sagen. Statt sich auf die unheimlichen Vorkommnisse in Silvertjärn zu konzentrieren, verliert sich die Geschichte vor allem im schwächeren Mittelteil immer wieder in gruppeninternen Spannungen und Problemen. Zudem gibt es meiner Meinung nach viel zu früh Hinweise darauf, was damals passiert ist, sodass das Mitraten wegfällt und viele Wendungen nicht mehr überraschend können. Dadurch gehen die unheimliche Grundstimmung und die Spannung immer wieder verloren. Leider konnte mich die Geschichte, die mir manchmal etwas zu konstruiert und klischeehaft war, auch emotional nicht so packen, wie ich mir das gewünscht hätte. Gelegentliche Wiederholungen und die Tatsache, dass manche Aspekte nie aufgelöst werden (was ist z. B. mit den Hunden und Katzen geschehen?), haben mich ebenfalls gestört. Man merkt diesem Thriller doch an, dass es sich hier um einen Erstling handelt. Das Ende (mit seiner unerwarteten Wendung) hat mir gefallen, auch wenn ich mir noch einen Epilog gewünscht hätte.

Protagonistin (2,5 Lilien) & Figuren (3 Lilien)

Mit ihren Figuren konnte mich Camilla Sten nur bedingt überzeugen. Mit Alice, der Protagonistin, bin ich bis zum Schluss leider nicht richtig warm geworden. Dazu war sie mir einfach nicht sympathisch genug. Ich empfand sie teilweise als sehr egozentrisch, empfindlich und gereizt. Ständig sieht sie ihre Autorität untergraben, ist beleidigt und gibt schnippische Antworten, was nach einer Weile sehr anstrengend wird. Außerdem konnte ich ihre Gedanken, ihre Vorwürfe anderen (besonders Emmy) gegenüber und Handlungen oft nicht nachvollziehen und manchmal nur den Kopf schütteln. Wie kann man z. B. während der Nachtwache einschlafen, wenn man weiß, dass das Lebensgefahr bedeutet? Da stehe ich doch sofort auf und bewege mich, wenn ich merke, dass ich müde werde!

Auch die anderen Figuren sind leider nur teilweise gelungen. Manche von ihnen sind gut ausgearbeitet und überzeugen, andere wirkten auf mich blass und klischeehaft. Insgesamt werden sie mir wohl leider nicht lange in Erinnerung bleiben.

Spannung (3 Lilien) & Atmosphäre (3 Lilien)

„Als ich die Straßen entlanglaufe, an den Häusern vorbei, habe ich das Gefühl, als wäre jedes Haus eine Falle, jede offene Tür ein weit aufgerissener Schlund, als wollte das Dorf uns verschlingen.“ E-Book, Position 4376

Auch was Spannung und Atmosphäre betrifft, wurde leider viel Potential verschenkt: Die Geschichte beginnt unheimlich stark, doch der schwächere, spannungsarme Mittelteil zieht sich teilweise sehr, was ich schade fand. Mehr Tempo und einige Kürzungen hätten dem Thriller mit Sicherheit gutgetan. Punktuell gibt es zwar atemlos spannende, atmosphärische Momente und unheimliche Szenen, die eine Gänsehaut verursachen und schon fast in Richtung Horror gehen – doch insgesamt weiß die Autorin das großartige (!) Setting leider nicht richtig zu nutzen.

Feministischer Blickwinkel (5 Lilien ♥)

Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: Hu++

Zumindest was diesen Aspekt betrifft, hat die Autorin fast alles richtig gemacht. Bei anderen AutorInnen hätte das Filmteam wahrscheinlich nur aus Männern mit maximal einer Frau bestanden, hier ist das jedoch anders. Man merkt, dass die Autorin eine überzeugte Feministin ist, was ich toll finde! Das Buch besteht problemlos den Bechdel-Test und enthält zahlreiche starke, mutige und intelligente weibliche Figuren, die das Kommando haben und sehr durchsetzungsstark sind. Auch gibt es im Buch kaum Geschlechterstereotypen und toxische Männlichkeit, sondern Männer und Frauen wechseln sich beim Kochen ab und helfen beim Heben von schweren Gegenständen zusammen. Das alles hat mir sehr gut gefallen! Da verzeihe ich auch die traditionelle Rollenverteilung in der Vergangenheit (das ist leider authentisch!) und dieses eine „Hu++“. Etwas schade fand ich es nur, dass dieses Klischee vom besten Freund, der sich für seine Dienste eigentlich eine Gegenleistung in Form von Sex/Beziehung erwartet, im Buch vorkommt. Warum können nicht ein Mann und eine Frau einfach mal ohne Hintergedanken Freunde sein?

Mein Fazit

„Das Dorf der toten Seelen“ beginnt stark, doch leider gelingt es der Autorin im Laufe der Geschichte immer weniger, das Potential ihrer vielversprechenden Idee und ihres großartigen Settings zu nutzen. Camilla Stens Debüt ist ein kurzweiliger Thriller mit Stärken (Atmosphäre, unheimliche Szenen, flüssiger Schreibstil, besonderes Setting), aber auch Schwächen (Protagonistin, schwächerer Mittelteil, fehlende Spannung, frühe Auflösung, Klischees). Ich kann weder eine Leseempfehlung aussprechen noch möchte ich euch vom Buch abraten – wenn ihr Lust auf eine Reise nach Silvertjärn habt, gebt der Geschichte doch eine Chance – aber geht nicht (wie ich) mit zu hohen Erwartungen an sie heran.

Bewertung

Idee: 5 Lilien ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 3 Lilien
Umsetzung: 3 Lilien
Worldbuilding: 4 Lilien
Einstieg: 5 Lilien ♥
Ende / Auflösung: 3 Lilien
Schreibstil: 4 Lilien
Protagonistin: 2,5 Lilien
Figuren: 3 Lilien
Spannung: 3 Lilien
Atmosphäre: 3 Lilien
Emotionale Involviertheit: 3 Lilien
Feministischer Blickwinkel: 5 Lilien ♥

Insgesamt:

❀❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir drei Lilien!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 20.05.2020

3,5*: Kreativer dystopischer Reihen-Auftakt mit einer tollen Grundidee, aber auch Schwächen (spannungsarm, vorhersehbar, Luft nach oben)!

Vortex – Der Tag, an dem die Welt zerriss
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Die Rezension enthält leichte Spoiler, vor denen aber im Text (in der Überschrift) noch einmal gewarnt wird!

Inhalt

Im Jahre 2099 in einer dystopischen Zukunft: Ein großes Ereignis hat die ganze Welt ...

Die Rezension enthält leichte Spoiler, vor denen aber im Text (in der Überschrift) noch einmal gewarnt wird!

Inhalt

Im Jahre 2099 in einer dystopischen Zukunft: Ein großes Ereignis hat die ganze Welt verändert. Nun gibt es Vortexe, gefährliche Portale, mit denen man an andere Orte reisen kann, und Splittermenschen, die mit einem der vier Elemente verschmolzen sind und dadurch besondere Fähigkeiten besitzen. VortexläuferInnen beschützen die Menschen, indem sie diese Wesen einfangen und in eine der Zonen bringen, wo diese in Frieden leben können. Elaine will aus persönlichen Gründen eine Läuferin werden und ist bereit, dafür alles zu geben. Doch dazu muss sie zuerst die letzte Prüfung ihrer Ausbildung bestehen: das große Vortex-Rennen als eine der ersten 10 abschließen. Und dann geschieht etwas, das Elaines Leben für immer verändern wird …

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Band 1 einer Trilogie; Band 2 erscheint im September 2020, Band #3 im Frühjahr 2021
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präteritum
Perspektive: weibliche Perspektive
Kapitellänge: mittel bis lang
Tiere im Buch: - Es wird Fleisch gegessen und die Bejagung von Splittertieren wird kurz angesprochen. Ansonsten wird im Buch kein Tier verletzt, gequält oder getötet.
Triggerwarnung: Tod von Tieren, Tod von Menschen, Gewalt, Sexismus, Blut, Feuer

Warum dieses Buch?

Ich hatte im Vorfeld viel Gutes über dieses Buch gehört und der Klappentext klang nach einer sehr kreativen Welt. Außerdem habe ich mich darauf gefreut, einmal eine Dystopie von einer deutschen Autorin zu lesen!

Meine Meinung

Einstieg (4 Lilien)

„Nur wenige waren dazu bestimmt, ein Läufer zu werden.
Ich ‚musste‘ unbedingt dazugehören.“ E-Book, Position 134

Der Einstieg hätte zwar noch etwas temporeicher sein dürfen, und am Beginn fühlte ich mich mangels Erklärungen etwas verloren, aber ich habe recht schnell und problemlos in die Geschichte gefunden. Nach dem Start des Vortex-Rennens möchte man natürlich unbedingt wissen, wie es für Elaine ausgeht!

Schreibstil (4 Lilien)

Der Schreibstil der Autorin hat mir gut gefallen. Ihre Sprache ist einfach, flüssig, sehr anschaulich, aber nicht zu oberflächlich – und dadurch perfekt für ein Jugendbuch geeignet. Außerdem gibt es vereinzelt humorvolle Szenen, die mich zum Schmunzeln gebracht haben.

Idee, Inhalt, Themen & Ende (3,5 Lilien)

„‘Manche von euch mögen Grunder für langsam halten, Wirbler für zart, Schwimmer für scheu und Zünder für einfältig, doch ich rate euch, diese Schönredereien schnell abzulegen. Wenn wir unsere Kontrolle über die Vermengten auch nur für eine Sekunde lockern, könnte das den Untergang der menschlichen Zivilisation bedeuten.‘“ E-Book, Position 102

Nach den vielen positiven Rezensionen und da das Buch vom Verlag als „Future-Fantasy-Trilogie auf Weltklasseniveau“ beschrieben wurde, waren meine Erwartungen natürlich hoch. Zuerst zu den Aspekten, die mir gefallen haben: Ich finde die Grundidee der Autorin erfrischend und sehr kreativ. Auch das Worldbuilding überzeugt auf ganzer Linie: Häppchenweise erfährt man immer mehr über die dystopische Zukunft. Insgesamt haben mir auch der Aufbau der Geschichte und das Ende, das definitiv neugierig auf den zweiten Band macht, sehr gut gefallen. Themen wie Erwachsenwerden, Emanzipation, Wahrheit und Lüge, Rebellion, Vorurteile, Zeitreisen, Rassismus, Diskriminierung und Liebe behandelt das Buch angemessen tiefgründig und altersadäquat. Auch moralische Fragen und Gesellschaftskritik werden in die Geschichte auf gelungene Weise thematisiert. Praktisch fand ich außerdem die Karte und die kurzen Steckbriefe zu den verschiedenen Typen von Vermengten am Ende des Buches.

Leider gab es auch Aspekte, die mich nicht überzeugen konnten. Zum einen waren das einzelne Brüche in der Logik, die Vorhersehbarkeit der Geschichte und die Verwendung von Klischees. Viele Wendungen und Bausteine kannte ich aus vielen anderen (und besseren) Dystopien schon. Während die Welt also sehr innovativ aufgebaut war, hätte ich mir beim Handlungsverlauf mehr Kreativität gewünscht und zusätzlich im schwächeren Mittelteil mehr Tempo. Zum anderen konnte mich der Fantasy-Jugendroman auch emotional leider nicht immer so erreichen, wie ich mir das gewünscht hätte. Anna Benning hat mit „Vortex – Der Tag, an dem die Welt zerriss“ einen soliden Auftakt abgeliefert, der aber leider auch seine Schwächen hat und für mich nicht „Weltklasseniveau“ hat – dafür ist noch zu viel Luft nach oben. Ein guter Grundstein ist nun allerdings schon gelegt. Es bleibt zu hoffen, dass der zweite Band die vorhandenen Stärken weiter ausbauen und das gesamte Potential der Idee nutzen kann. Ob ich die Fortsetzung lesen werde, weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht genau.

Liebesgeschichte (3 Lilien) (Vorsicht Spoiler!)

Die Liebesgeschichte lässt mich innerlich zerrissen zurück. Einerseits fand ich Balians Verhalten Elaine gegenüber nicht immer nett, ich spürte über weite Teile der Geschichte kein Knistern zwischen den beiden und manche Szenen waren mir echt zu kitschig, andererseits gab es durchaus auch glaubhafte Entwicklungen und sehr süße Momente, die mir gefallen haben.

Protagonistin (4 Lilien) & Figuren (4 Lilien)

„‘Du willst immer, zu jeder Zeit, ohne jeden Zweifel das Richtige tun, oder?‘
‚Und das ist eine Charakterschwäche für dich, oder was?`, fragte ich angesäuert. “ E-Book, Position 3722

In einzelnen Rezensionen habe ich gelesen, dass manche Elaine als Protagonistin nicht mochten. Bei mir war das anders: Ich mochte sie, ihren Ehrgeiz, ihre Empathie und ihren Mut, habe mit ihr mitgefühlt und konnte verstehen, warum sie am Beginn so fixiert auf ihren großen Traum ist. Deshalb habe ich sie auch gerne begleitet. Trotzdem hat sie auch ihre Schwächen: Meiner Meinung nach hätte sie noch ein bisschen dreidimensionaler sein dürfen, ihre manchmal große Naivität und die Tatsache, dass sie ihre Meinung gefühlt alle 2 Sekunden ändert, haben mich außerdem in manchen Momenten ein bisschen genervt.

Die anderen Figuren sind ebenfalls gut gelungen, interessant und sympathisch. Am liebsten mochte ich den überschwänglichen Schneider und die fröhliche, leicht vergessliche Susi. Nur wenige Charaktere blieben etwas blass und hätten noch etwas mehr Farbe und etwas weniger Klischees vertragen können (z. B. Mia).

Spannung (2 Lilien) & Atmosphäre (4 Lilien)

Die über weite Strecken fehlende Spannung ist mein Hauptkritikpunkt. Die Geschichte fängt zwar stark an und erreicht schnell einen ersten Höhepunkt, doch der Mittelteil schwächelt stark und hätte sowohl mehr Tempo als auch mehr Spannung vertragen. Auch ruhige Szenen sind zwar (vor allem für die Figurenzeichnung) wichtig, aber mich konnte die Geschichte leider bis zum Ende nicht mehr so richtig packen. „Vortex – Der Tag, an dem die Welt zerriss“ ist meiner Meinung nach vom Spannungsniveau daher leider nicht mit Weltklasse-Dystopien wie „Die Tribute von Panem“ zu vergleichen.

Gefallen hat mir hingegen, wie anschaulich und atmosphärisch Anna Benning das Jahr 2099 zum Leben erweckt. Ihre bildlichen Beschreibungen des sterilen Kuratoriums, der fantastischen und gefährlichen Reisen durch die Vortexe in fremde Länder und der Menschen, die sich mit einem der vier Elemente verbunden haben, überzeugen! Es hat wirklich Spaß gemacht, diese fremde Welt zu entdecken.

Feministischer Blickwinkel (3 Lilien)

Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: Ziege, Zicke, Miststück

Die feministische Analyse des Buches lässt mich zwiegespalten zurück. Einerseits mochte ich Elaine als starke, mutige, ehrgeizige Protagonistin und die Tatsache, dass beide Geschlechter die gleichen Uniformen tragen und für den körperlich und seelisch anspruchsvollen Beruf der/des VortexläuferIn ausgebildet werden. Mir hat auch gefallen, dass die Geschichte auf Slutshaming verzichtet, dass sie den Bechdel-Test besteht und dass es viele gut gebildete Frauen im Buch gibt – in den höchsten Positionen finden sich allerdings seltsamerweise nur Männer (Stichwort: gläserne Decke!).

Andererseits mochte ich die Stutenbissigkeit und die klischeehafte Ausarbeitung von Mia nicht. Zudem empfinde ich es als problematisch, dass sich Elaine jahrelang in der Ausbildung zurückhält, um nicht das fragile Ego ihres Schwarms zu verletzen, indem sie ihn vom ersten Platz verdrängt. Außerdem war oft nur von „Vortexläufern“ die Rede – hier hätte es wirklich Sinn gemacht, zu gendern! Auch Balians latent sexistische, toxische Verhaltensweisen Elaine gegenüber haben mir nicht gefallen. Warum muss er sie unbedingt Barbie nennen und ständig behandeln, als wäre sie dumm? Auch wenn sich die Beziehung zwischen den beiden schließlich ändert, muss das zumindest angesprochen werden, da es sich hier immerhin um ein Jugendbuch handelt. Es gibt also schon einiges, was die Autorin richtig macht, da ist aber gleichzeitig noch Luft nach oben. Ich hoffe, dass Anna Benning im zweiten Band noch etwas sensibler mit diesen Themen umgeht!

Mein Fazit

Mit „Vortex – Der Tag, an dem die Welt zerriss“ hat Anna Benning einen Jugendroman mit vielen Stärken, aber leider auch einigen Schwächen geschrieben. Ich mochte den flüssigen, anschaulichen und altersgerechten Schreibstil der Autorin. Auch die kreative, erfrischende Grundidee, das überzeugende Worldbuilding, die dichte Atmosphäre und das Ende, das neugierig auf die Fortsetzung macht, haben mir sehr gut gefallen! Themen wie Erwachsenwerden, Diskriminierung und Liebe behandelt das Buch angemessen tiefgründig und altersadäquat. Auch moralische Fragen und Gesellschaftskritik werden in die Geschichte auf gelungene Weise thematisiert. Die Figuren sind gut ausgearbeitet und großteils sympathisch, nur manche bleiben blass. Elaine mochte ich als starke, ehrgeizige und mutige Protagonistin, auch wenn sie noch etwas dreidimensionaler sein hätte können und wenn mich ihre Naivität in manchen Momenten genervt hat. Zweigespalten lassen mich die Liebesgeschichte und die feministische Analyse zurück – manche Dinge sind hier gut, andere eher weniger gut gelungen (mehr dazu in meiner Rezension). Leider gab es auch Aspekte, die mich nicht überzeugen konnten: einzelne Brüche in der Logik, die Vorhersehbarkeit der Geschichte, die Verwendung von Klischees und bekannten Bausteinen und der Mangel an Spannung und Tempo. Anna Benning hat mit „Vortex – Der Tag, an dem die Welt zerriss“ einen soliden Reihenauftakt abgeliefert, der für mich aber nicht mit „Weltklasse“-Dystopien wie „Die Tribute von Panem“ vergleichbar ist. Vielleicht kann sich die Geschichte ja im zweiten Band noch steigern – ob ich ihn lesen werde, weiß ich noch nicht. Aber: Auch wenn mich das Jugendbuch nicht auf ganzer Linie überzeugen konnte, solltet ihr Anna Bennings faszinierender dystopischer Zukunft auf jeden Fall eine Chance geben – sonst verpasst ihr möglicherweise euer nächstes Lieblingsbuch!

Bewertung

Idee: 5 Lilien ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 4 Lilien
Umsetzung: 3,5 Lilien
Worldbuilding: 5 Lilien
Einstieg: 4 Lilien
Ende / Auflösung: 4 Lilien
Schreibstil: 4 Lilien
Protagonistin: 4 Lilien
Figuren: 4 Lilien
Liebesgeschichte: 3 Lilien
Spannung: 2 Lilien
Atmosphäre: 4 Lilien
Emotionale Involviertheit: 3 Lilien
Feministischer Blickwinkel: 3 Lilien

Insgesamt:

❀❀❀,5 Lilien

Dieses Buch bekommt von mir dreieinhalb Lilien!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 18.05.2020

Atemberaubend, intensiv, schmerzhaft, poetisch - das beste Buch des Jahres!

Das wirkliche Leben
0

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Ein Mädchen und ihr kleiner Bruder leiden unter der häuslichen Gewalt des Vaters und dem Desinteresse der Mutter. Als etwas Schreckliches passiert, das alles verändert, ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Ein Mädchen und ihr kleiner Bruder leiden unter der häuslichen Gewalt des Vaters und dem Desinteresse der Mutter. Als etwas Schreckliches passiert, das alles verändert, schwört sich die Schwester, dass sie ihren Bruder retten wird. Koste es, was es wolle…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präteritum
Perspektive: weibliche Perspektive
Kapitellänge: kurz
Tiere im Buch: -! Im Buch werden Tiere verletzt, gequält und getötet. Achtung, fast alle diese Dinge werden bis ins Detail beschrieben! Ein Wellensittich und ein Chinchilla leben zudem in einem Käfig in Einzelhaltung (bitte diese Tiere immer mindestens zu zweit halten!).
Triggerwarnung: Tierquälerei (!!!), Tod von Menschen und Tieren, Gewalt, Gewalt gegen Frauen, sexualisierte Gewalt, Missbrauch (? - Grenzfall, wer wissen möchte warum bzw. wer Fragen dazu hat, kann mich gerne anschreiben), Blut, Trauma, Jagd (Hetzjagd, Großwildjagd und ausgestopfte Tiere)

Warum dieses Buch?

Ganz einfach: Wenn die Rezensionen (oder eher Liebeserklärungen!) zu einem Buch dich schon fast zu Tränen rühren, musst du es einfach lesen!

Meine Meinung

Ich habe schon viele Liebeserklärungen an dieses Buch gelesen – hier kommt meine.

Einstieg (5 Lilien ♥)

„Bei uns zu Hause gab es vier Schlafzimmer. Meines. Das meines Bruders Gilles. Das meiner Eltern. Und das der Kadaver.“ Seite 7

Ich habe sofort und absolut problemlos ins Buch gefunden. Bereits auf den ersten Seiten entwickelt die Geschichte einen richtigen Sog!

Schreibstil (5 Lilien ♥)

Innerhalb weniger Kapitel habe ich mich in den wunderbaren Schreibstil von Adeline Dieudonné verliebt! Die Sprache ist roh, kraftvoll, atemberaubend und poetisch – mit einer authentischen kindlichen Note, die zur jungen Protagonistin passt. Großartig fand ich, dass man dem Schreibstil und der Innenwelt der Protagonistin anmerkt, wie sie langsam älter und reifer wird. Viele Vergleiche und Metaphern sind so innovativ, bildhaft und wunderschön, dass ich manchmal einfach nur dasaß und sprachlos war! Man will sich manche Stellen ausdrucken, einrahmen und an die Wand hängen!

„Das, was im Inneren der Hyäne gehaust hatte, war nach und nach in den Kopf meines kleinen Bruders gewandert. Eine Kolonie böser Kreaturen hatte sich dort eingenistet wie Geschmeiß und vermehrte sich wie wild, fraß die grünen Walder seines kindlichen Geistes und verwandelte sie in eine düstere, modernde Sumpflandschaft.“ Seite 46

Idee, Inhalt, Themen & Ende (5 Lilien ♥)

„Meine Wirklichkeit hatte sich aufgelöst, war zu einem schwindelerregenden Nichts geworden. Zu einem Nichts, aus dem ich kein Entkommen sah.“ Seite 28

Als VielleserIn liest man oft gute und manchmal sogar sehr gute Bücher – aber nur ganz selten gerät man an eine Geschichte, bei der man nicht weiß, wo man anfangen soll, weil sie so großartig ist. Es überrascht daher nicht, dass ich das Schreiben dieser Rezension tagelang hinausgezögert habe. „Kann ich überhaupt eine Rezension schreiben, die diesem Buch gerecht wird?“, fragte ich mich. Wahrscheinlich nicht, aber ich werde mein Bestes geben!

Adeline Dieudonné hat ein Romandebüt geschaffen, das eine unglaubliche Wucht hat! Ein Debüt, das den Verstand verzaubert und einem das Herz bricht. Einen Erstling, der unheimlich wütend macht und der zugleich schmerzhaft zu lesen und zu verdauen ist. Tierquälerei und die körperlichen Misshandlungen der Mutter werden bis ins kleinste Detail beschrieben, was mich beim Lesen sehr mitgenommen hat und teilweise fast unerträglich für mich war. Diese Triggerwarnung (im Buch selbst fehlt eine!) solltet ihr bei diesem Buch deshalb (zu eurem eigenen Schutz) auf jeden Fall ernst nehmen!

„Das wirkliche Leben“ spricht neben Aspekten wie Liebe, Wissensdurst und Kindheit wichtige Themen wie Sexismus, häusliche Gewalt, Missbrauch (?), Traumata und Tierquälerei an und behandelt diese tiefgründig und auf eine Weise, die sich einem für immer ins Gedächtnis brennt. Adeline Dieudonné schafft Bewusstsein für und kritisiert toxische Männlichkeit (inklusive ihrer furchtbaren Folgen) und häusliche Gewalt und zeigt auf, wie schnell die Situation eskalieren und sogar lebensbedrohlich werden kann. „Das wirkliche Leben“ ist eine kraftvolle, schockierende Warnung und Ermutigung für alle Opfer, sich Hilfe zu suchen, bevor es zu spät ist. Glücklicherweise gibt es jedoch auch immer einen Hoffnungsschimmer; zwischen den vielen düsteren und deprimierenden findet man immer wieder intensive Glücksmomente, die man mit der Protagonistin teilt. Die aufwühlende Geschichte mündet in ein gelungenes, hoch dramatisches, emotionales Ende.

„Das wirkliche Leben“ ist kurz, intensiv und ein kleiner Schock – so wie ein Bungee-Sprung – nach dem Ende ist man voller Adrenalin und begeistert, aber die Knie sind weich und die Hände zittern. Für mich ist „Das wirkliche Leben“ jetzt schon das beste Buch des Jahres – und damit ein absolutes Must-read, das ihr euch auf keinen Fall entgehen lassen solltet!

Protagonistin (5 Lilien ♥) & Figuren (5 Lilien ♥)

Die tragische Protagonistin bleibt im ganzen Buch namenlos – und doch war da keine Distanz zu ihr. Ich habe intensiv mit ihr mitgefühlt und mitgelitten, habe mit ihr gehofft und bin mit ihr verzweifelt! Ihre Intelligenz, ihre Empathie, ihr gutes Herz, ihr Mut und ihre Kraft haben mich nachhaltig beeindruckt. Sie ist wie ein blühender Löwenzahn, der sich unter den widrigsten Umständen seinen Weg durch eine Spalte im Asphalt an die Sonne gekämpft hat.

Auch die anderen Figuren haben mich vollkommen überzeugt. Sie alle sind auf ihre Weise sehr präsent, interessant, dreidimensional, einmalig und liebevoll ausgearbeitet. Besonders gelungen sind meiner Meinung nach die passive Mutter, der traumatisierte Bruder und der übermächtige Vater.

Spannung (5 Lilien ♥) & Atmosphäre (5 Lilien ♥)

Ihr dachtet, wenigstens jetzt würde ein wenig Kritik kommen? Pustekuchen! Denn „Das wirkliche Leben“ beginnt schon auf den ersten Seiten, Spannung aufzubauen, und hält diese bis zum überzeugenden Ende! Man fliegt nur so durch die Seiten, kann sich dem Sog nicht entziehen und verschlingt die Geschichte gierig – wenn man sich nicht bremst, liest man alle 240 Seiten an einem Tag.

Vielleicht war es aber auch die unglaublich dichte Atmosphäre, die mich an die Seiten gefesselt hat. In Kombination mit dem bildlichen Schreibstil waren es die düsteren Beschreibungen der Hyäne, die unheimlichen Szenen, die atemlose Angst um die Protagonistin und die Gänsehautmomente, die es mir unmöglich machten, das Buch wegzulegen. Ich liebe es außerdem, wie die kindliche Phantasie und die Ängste der Heldin kreativ und kunstvoll in die Geschichte eingewebt und dadurch (im wahrsten Sinne des Wortes!) lebendig wurden.

„Doch wer oder was sich immer auf der anderen Seite des Baumes befand: Er oder es hatte keine Lust, das makabre Spiel zu beenden. Die Furcht floss von meiner Seele zu seiner und lustvoll und in aller Ruhe weidete er oder es sich daran.“ Seite 171

Feministischer Blickwinkel (5 Lilien ♥)

Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: Schlam++ (2x)

Zuerst habe ich die passive Mutter, die immer wieder als Amöbe beschrieben wird, als etwas problematisch angesehen, doch schnell wurde mir klar, dass es nötig war, sie so zu beschreiben, um zu zeigen, welche Auswirkungen häusliche Gewalt auf einen Menschen haben kann. Da die Protagonistin so stark, wild und intelligent ist, da das Buch den Bechdel-Test besteht und wichtige Themen wie Sexismus, Gewalt gegen Frauen und toxische Männlichkeit behandelt und kritisiert, bekommt „Das wirkliche Leben“ (trotz klischeehafter Rollenverteilung) auch hier alle Punkte.

„Und hin und wieder richtete er sogar das Wort an meine Mutter. Aber eigentlich hätte man sie auch durch einen Ficus ersetzen könne, er hätte den Unterschied nicht bemerkt. Denn meine Mutter hatte Angst. Angst vor meinem Vater.“ Seite 9

Mein Fazit

„Das wirkliche Leben“ ist kurz, intensiv und ein kleiner Schock – so wie ein Bungee-Sprung – nach dem Ende ist man voller Adrenalin und begeistert, aber die Knie sind weich und die Hände zittern. Ich liebe den rohen, kraftvollen und poetischen Schreibstil der Autorin, ihre wunderschönen Vergleiche und Metaphern, die liebevoll ausgearbeiteten, einmaligen Figuren, die großartige, intelligente und starke Protagonistin, die durchgehende Spannung und die unglaublich dichte Atmosphäre! Adeline Dieudonné hat ein Romandebüt geschaffen, das eine unglaubliche Wucht hat! Ein Debüt, das den Verstand verzaubert und einem das Herz bricht. Einen Erstling, der unheimlich wütend macht und der zugleich schmerzhaft zu lesen und zu verdauen ist. „Das wirkliche Leben“ hält einer feministischen Analyse stand, weil es Bewusstsein für toxische Männlichkeit und häusliche Gewalt schafft, diese Probleme kritisiert und sie auf eine Weise behandelt, die sich einem für immer ins Gedächtnis brennt. Für mich ist „Das wirkliche Leben“ jetzt schon das beste Buch des Jahres – und damit ein absolutes Must-read, das ihr euch auf keinen Fall entgehen lassen dürft!

Bewertung

Idee: 5 Lilien ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 5 Lilien ♥
Umsetzung: 5 Lilien ♥
Worldbuilding: 5 Lilien ♥
Einstieg: 5 Lilien ♥
Ende / Auflösung: 5 Lilien ♥
Schreibstil: 5 Lilien ♥
Protagonistin: 5 Lilien ♥
Figuren: 5 Lilien ♥
Spannung: 5 Lilien ♥
Atmosphäre: 5 Lilien ♥
Emotionale Involviertheit: 5 Lilien ♥
Feministischer Blickwinkel: 5 Lilien ♥

Insgesamt:

❀❀❀❀❀♥ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir fünf Lilien und ein Herz – und damit den Lieblingsbuchstatus!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 13.05.2020

Solider, unterhaltsamer Spannungsroman mit unerwarteten Wendungen, unheimlicher Atmosphäre und kleinen Schwächen!

Verity
0

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Lowen bekommt die Chance, die Psychothriller der gefeierten Autorin Verity Crawford zu Ende zu schreiben, die seit einem Autounfall im Wachkoma liegt und nicht mehr ansprechbar ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Lowen bekommt die Chance, die Psychothriller der gefeierten Autorin Verity Crawford zu Ende zu schreiben, die seit einem Autounfall im Wachkoma liegt und nicht mehr ansprechbar ist. Verity braucht den Job dringend, da sie finanziell in großer Not ist. Doch im Haus der Schriftstellerin scheinen seltsame Dinge zu passieren – oder spielt ihre Fantasie Lowen nur einen Streich? Und ein bei ihren Recherchen gefundenes Tagebuch offenbart Schreckliches…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präsens
Perspektive: weibliche Perspektive
Kapitellänge: kurz bis mittel
Tiere im Buch: + Es wird über den Tod einer Schildkröte gesprochen und Fleisch gegessen. Ansonsten werden keine Tiere verletzt, gequält oder getötet.
Triggerwarnung: Suizid, Tod von Menschen (auch von Kindern), Gewalt gegen Frauen, Blut, eventuell auch Medikamentenmissbrauch (?), Persönlichkeitsstörungen und psychische Krankheiten

Warum dieses Buch?

Zwei Dinge haben mich neugierig gemacht: einerseits der riesige Hype um dieses Buch und die vielen euphorischen Rezensionen und andererseits dass sich hinter diesem rosaroten New-Adult-Cover eine ganz und gar verstörende Geschichte verbergen soll.

Meine Meinung

Einstieg (5 Lilien ♥)

„Die meisten Leute, die nach New York kommen, legen es darauf an, entdeckt zu werden. Wir Übrigen kommen hierher, um uns zu verstecken.“ E-Book, Position 110

Ich habe sehr schnell und ohne Probleme ins Buch gefunden. Bereits das erste Kapitel, in dem Lowen Zeugin eines schrecklichen Unfalls wird, zog mich in seinen Bann, sodass ich unbedingt weiterlesen wollte!

Schreibstil (5 Lilien)

Es war mein erstes Buch von dieser Autorin und ich muss sagen, dass mich der Schreibstil auf ganzer Linie überzeugen konnte. Er ist zwar nicht hochkomplex oder poetisch, aber für einen kurzweiligen Spannungsroman (in diese Kategorie würde ich das Buch einordnen) ist er perfekt geeignet. Colleen Hoover schreibt nämlich unheimlich flüssig und anschaulich, sodass sich das Buch wirklich schnell lesen lässt. Man fliegt nur so durch die Seiten!

„Die linke Seite des Hauses ist von Efeu bewachsen, der hier aber nichts Märchenhaftes an sich hat, sondern so bedrohlich wirkt wie ein langsam wucherndes Krebsgeschwür.“ E-Book, Position 672

Idee, Inhalt, Themen & Ende (4 Lilien)

Da es so einen Hype um dieses Buch gibt, waren meine Erwartungen natürlich sehr hoch. Vielleicht liegt es daran, dass mich die Geschichte zwar gut unterhalten, aber nicht vollkommen begeistern konnte. „Verity“ ist ein solider Spannungsroman, der mit seinen unerwarteten Wendungen und seiner dichten Atmosphäre punkten kann. Besonders die Szenen zwischen Lowen und Jeremy – dieses Knistern zwischen ihnen! – beschreibt die Autorin gekonnt und intensiv. Hier merkt man, dass sie eigentlich aus dem Liebesroman-Genre kommt. Die Liebesgeschichte zwischen Lowen und Jeremy konnte mich auf jeden Fall überzeugen, auch wenn mir das Buch insgesamt (vor allem im Mittelteil) etwas zu viele explizite Sexszenen enthält. Etwas gestört haben mich auch manche Ungereimtheiten, unlogischen Verhaltensweisen der Figuren und Logiklöcher, die in Kauf genommen wurden, um die Geschichte voranzutreiben.

Das Cover ist auf jeden Fall irreführend. Wer normalerweise hauptsächlich im Liebesroman- oder New-Adult-Bereich unterwegs ist, den wird dieses Buch bestimmt verstören und schockieren. Eine abgebrühte Thriller-Liebhaberin wie mich schockt allerdings nichts so schnell! Daher fand ich das Buch auch nicht so verstörend, außergewöhnlich und spannend, wie ich mir das nach den positiven Rezensionen erhofft hatte. Den Hype kann ich also nur bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen. Dennoch ist der Spannungsroman gut gelungen, auch wenn meiner Meinung nach noch etwas Luft nach oben war. Wer ein Buch mit einem ähnlichen Spannungslevel sucht, dem kann ich übrigens „Der Kinderflüsterer“ von Alex North empfehlen!

Themen wie das Leben als AutorIn (inklusive Prokrastination), Selbstzweifel, schwierige moralische Entscheidungen, Liebe, Trauer und alte Wunden aus der Kindheit stehen im Mittelpunkt und werden mit angemessener Tiefe behandelt. Das Buch enthält außerdem auch einige humorvolle Momente, die mich zum Schmunzeln gebracht haben. Das Ende empfand ich als spannend, dramatisch und sehr gelungen. Besonders gut hat mir gefallen, dass es eine gewisse Offenheit aufweist, die Raum für eigene Interpretationen lässt.

Protagonistin (5 Lilien) & Figuren (5 Lilien)

„Viele Autorinnen und Autoren genießen den direkten Kontakt mit ihren Lesern, aber ich bin sozial so unbeholfen, dass ich Angst habe, meine Leser könnten meinen Büchern für immer abschwören, sobald sie mich einmal ‚in echt‘ erlebt hätten.“ E-Book, Position 374

Menschenscheu, emotional kompliziert und sarkastisch – so beschreibt sich die Protagonistin selbst. Schon auf den ersten Seiten wusste ich daher, dass wir zwei Freundinnen werden würden! Lowen ist sehr gut ausgearbeitet und wirkt dreidimensional. Sie ist intelligent und hilfsbereit, aber nicht perfekt, hat Schwächen im Umgang mit anderen Menschen und leidet immer noch unter ihrer schwierigen Kindheit und der unterkühlten Beziehung zu ihrer Mutter. Mir war sie gleich sympathisch und ich habe sie sehr gerne in der Geschichte begleitet, auch wenn sie sich im Laufe des Buches meiner Meinung nach negativ verändert hat. Die Autorin beschreibt ihre Innenwelt (ihre Gedanken und Gefühle) so greifbar und überzeugend, dass ich mich sehr gut in sie hineinversetzen und mit ihr mitfühlen konnte.

Auch die anderen Figuren konnten mich durch die Bank überzeugen, auch wenn viele nur kleine Rollen spielen. Besonders gut gelungen ist meiner Meinung nach Jeremy, ein fürsorglicher, liebevoller Vorzeige-Vater, passionierter Haus- und selbstbewusster Traummann, der Lowen ständig mit leckerem Essen verwöhnt und dessen Charme man auch als LeserIn recht schnell erliegt.

Spannung (4 Lilien) & Atmosphäre (5 Lilien ♥)

„Das Manuskript liegt jetzt schon seit zwei Tagen unangetastet ganz unten in der Schreibtischschublade versteckt. Aber ich spüre, dass es da ist. Es ist, als würde ich es unter den Blättern, zwischen denen ich es begraben habe, leise atmen hören.“ E-Book, Position 1661

„Verity“ ist von einer durchgehenden, unterschwelligen psychologischen Spannung durchzogen. Der Spannungsbogen bricht auch im schwächeren Mittelteil niemals ganz ein, sondern schnellt immer wieder punktuell in die Höhe. Dennoch war meiner Meinung nach vor allem im mittleren Drittel noch Luft nach oben. Die Geschichte konzentriert sich da auf die Liebesgeschichte und plätschert etwas dahin, ohne dass wirklich viel passiert. Mehr Tempo hätte dem Buch an dieser Stelle gutgetan. Das Potential der Geschichte konnte also nicht vollständig genutzt werden. Da es sich aber offiziell um einen Roman handelt, bin ich hier nicht so streng.

Die Atmosphäre im Buch konnte mich hingegen vollkommen überzeugen! Die Autorin weiß das Setting – ein abgeschiedenes, altes, düsteres Haus – perfekt zu nutzen und erzeugt eine unheimliche, beklemmende Atmosphäre. Zudem gibt es einige unerwartete Wendungen und manche gruselige Momente, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen (für alle die das Buch schon gelesen haben: die Bettszene!)!

Feministischer Blickwinkel (4 Lilien)

Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: Schlam++ (einmal für Frau und einmal für Mann verwendet), Fo+++

Das Buch besteht den Bechdel-Test und hat einige starke, intelligente und erfolgreiche weibliche Figuren zu bieten. Großartig fand ich natürlich, dass hier einmal die Frau die Familie finanziell erhält und dass sich der Vater so engagiert um die Kinder und den Haushalt kümmert und dabei trotzdem als sehr sexy dargestellt wird! Die Denkweise von Verity war mir allerdings manchmal etwas zu unterwürfig und auch die vereinzelten Genderstereotypen („Männer sind so, Frauen sind so“) haben mich gestört. Schade ist auch, dass das Buch nicht ganz ohne gegenderte Beleidigungen auskommt. Trotzdem bin ich insgesamt mit „Verity“ sehr zufrieden und vergebe hier vier Lilien!

Mein Fazit

Meine Erwartungen an dieses Hype-Buch waren sehr hoch. „Verity“ ist ein solider Spannungsroman, der mich zwar gut unterhalten, aber nicht vollkommen begeistern konnte. Ich mochte den unheimlich flüssigen, anschaulichen Schreibstil (man fliegt nur so durch die Seiten!), dieses intensive Knistern und die Liebesgeschichte zwischen Lowen und Jeremy, die humorvollen Momente, die beklemmende, dichte und unheimliche Atmosphäre, die unerwarteten Wendungen, die gruseligen Momente, das interessante Setting, die unterschwellige, psychologische Spannung und die angemessen tiefgründige Behandlung von Themen wie Trauer, Selbstzweifel und Liebe. Auch einer feministischen Analyse hält das Buch stand. Die Figuren sind ebenfalls sehr gut ausgearbeitet und haben glaubwürdige Schwächen. Die Autorin beschreibt die Innenwelt der intelligenten, menschenscheuen, aber sympathischen Protagonistin sehr greifbar und überzeugend. Gestört haben mich manche unlogischen Verhaltensweisen der Figuren und die Logiklöcher. Auch etwas weniger explizite Sexszenen und mehr Spannung hätten es im Mittelteil sein dürfen. Meiner Meinung nach war insgesamt noch Luft nach oben, ich habe mehr erwartet. Den Hype kann ich nur bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen. Wenn ihr hauptsächlich Liebesromane oder New Adult lest, kann ich euch dieses Buch uneingeschränkt empfehlen, wenn ihr aber Thriller-Fans seid, solltet ihr nicht mit zu hohen Erwartungen an „Verity“ herangehen, damit ihr nicht enttäuscht werdet!

Wer ein Buch mit einem ähnlichen Spannungslevel sucht, dem kann ich übrigens „Der Kinderflüsterer“ von Alex North empfehlen!

Bewertung

Idee: 5 Lilien ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 4 Lilien
Umsetzung: 4 Lilien
Worldbuilding: 4 Lilien
Einstieg: 5 Lilien ♥
Ende / Auflösung: 5 Lilien
Schreibstil: 5 Lilien
Protagonistin: 5 Lilien
Figuren: 5 Lilien
Spannung: 4 Lilien
Atmosphäre: 5 Lilien ♥
Emotionale Involviertheit: 5 Lilien ♥
Feministischer Blickwinkel: 4 Lilien

Insgesamt:

❀❀❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir vier Lilien!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 10.05.2020

Charmante, mit viel Liebe geschriebene Genre-Mischung – skurril, humorvoll und mit wunderbaren Figuren!

Die Ewigkeit in einem Glas
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Inhalt

London im Jahre 1863. Die beherzte Privatdetektivin Bridie Devine erhält einen dringlichen neuen Auftrag: Sie soll die entführte Tochter des Adligen Sir Edmund finden und zurückbringen. Doch Christabel ...

Inhalt

London im Jahre 1863. Die beherzte Privatdetektivin Bridie Devine erhält einen dringlichen neuen Auftrag: Sie soll die entführte Tochter des Adligen Sir Edmund finden und zurückbringen. Doch Christabel ist kein normales Kind – und Bridie ist nicht die Einzige, die sie finden will. Hilfe erhält die Detektivin unter anderem von einem sympathischen Toten, einem zwei Meter großen Hausmädchen mit Backenbart und von einem begabten, alten Chemiker, der Tabakmischungen mit nicht abschätzbaren Nebenwirkungen verkauft...

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: auktorialer Erzähler, Präsens
Perspektive: weibliche und männliche Perspektive
Kapitellänge: mittel
Tiere im Buch: - Im Buch werden Tiere (Molch, Schnecken, Hunde, Katze) verletzt, gequält und getötet (Gift, Tierkämpfe, Enthauptung). Auch Fleisch wird gegessen.
Triggerwarnung: sexualisierte Gewalt (u. a. versuchte Vergewaltigung), Gewalt (auch gegen Kinder), Blut, Tierquälerei, Feuer

Warum dieses Buch?

Dieses Mal überzeugten mich der Klappentext und die positiven Rezensionen. Das Versprechen, dass es sich hierbei um einen modernen Schauerroman handeln sollte, machte mich zusätzlich neugierig!

Meine Meinung

Einstieg (3 Lilien)

„Sie findet seine Erinnerungen, eine nach der anderen. Sie sammelt sie in der hohlen Hand, jede eine vollkommene, schimmernde Träne.“ E-Book, Position 49

Zugegeben: Es hat eine Weile gedauert, bis ich in die Geschichte gefunden hatte. Doch bereits nach einigen Kapiteln wusste ich, dass ich ein ganz besonderes, außergewöhnliches Buch vor mir hatte!

Schreibstil (5 Lilien ♥)

„Sie holt eine Pfeife aus der Tasche. Das ist interessant: Eine so ‚anstößige‘ Angewohnheit bei einer so ‚schicklich‘ wirkenden Frau?“ E-Book, Position 137

Ich liebe Jess Kidds bildlichen, erfrischend anderen Schreibstil! Sie ist eine unglaublich talentierte Geschichtenerzählerin, die sich mit diesem Buch ohne Umwege mein Herz geschrieben hat. Ihre Sprache ist einfach und sehr angenehm lesbar, dabei aber auch poetisch und eindringlich – ja, geradezu magisch! Dabei geht Jess Kidd oft ungewöhnliche, innovative Wege, was ich großartig finde. Man liest in ihren Büchern Vergleiche und Metaphern, die man so noch in keiner anderen Geschichte gesehen hat. Auch emotional hat mich das Buch immer wieder berührt und total mitgerissen. Man merkt jeder Zeile an, mit wie viel Liebe und Herzblut sie geschrieben wurde!

„Dr. Harbin hebt eine Hand, um seine Koteletten zu streicheln, erst eine Seite und dann die andere, sanft, beruhigend, als wären sie schreckhafte Haustiere, die ihm sonst aus dem Gesicht springen würden.“ E-Book, Position 435

Idee, Inhalt, Themen & Ende (5 Lilien ♥)

„Hier wird die Zeit in der Schwebe gehalten.
Das Gestern konserviert.
Die Ewigkeit in einem Glas.“ E-Book, Position 2165

„Die Ewigkeit in einem Glas“ ist ein unheimlich charmantes Stück Literatur, das mich wunderbar unterhalten hat! Es handelt sich hierbei um eine ungewöhnliche, aber runde und gelungene Mischung aus Krimi, historischem Roman und Fantasy mit Elementen des Horror- und Schauerromans. Die Handlung spielt auf zwei Ebenen: Wir begleiten einerseits Bridie bei ihren Nachforschungen in der Gegenwart, andererseits gibt es aber auch immer wieder interessante Rückblenden in ihre bewegte Kindheit. Die sehr präsente Erzählerfigur, die uns immer wieder direkt anspricht und Kommentare abgibt, und die vielen Perspektivwechsel (oft auch innerhalb der Kapitel) sind sicher nicht für jeden etwas. Ich mochte aber beides!

Vieles hat mir an „Die Ewigkeit in einem Glas“ sehr gut gefallen: Der subtile Humor (mit seinen Running Gags), die Situationskomik und die leichte Ironie, die oft mitschwingen, machten für mich das Lesen zu einem wahren Genuss! Eines meiner Highlights war mit Sicherheit Lufkin – ein Zirkusdirektor, der eine Schwäche für Frauen hat, die ihn verachten. Ich musste beim Lesen einige Male schmunzeln oder sogar lachen! Am besten hat mir jedoch etwas gefallen, das dieses Buch zu einem absoluten Wohlfühlroman für mich macht: In einem Zitat, mit dem für das Buch geworben wird, lobt die Autorin Claire McGlasson die „Zärtlichkeit, die an unerwarteten Orten zu finden ist“. Dem kann ich nur absolut zustimmen! Dieses Buch ist voller Wärme und überrascht immer wieder mit emotionalen, stillen und zärtlichen Momenten, die ans Herz gehen. Wunderbar!

Jess Kidd gelingt es, Themen wie Freundschaft, Familie, Feminismus, Schmerz und Einsamkeit tiefgründig und berührend zu verarbeiten. Auch die wissenschaftlichen und medizinischen Fortschritte der damaligen Zeit (z. B. erste Operationen unter Narkose) stehen im Mittelpunkt, sodass ich einiges dazulernen konnte. Wusstet ihr zum Beispiel, dass reiche Leute damals wochenlang die Gräber ihrer Lieben bewachen ließen, damit die Leichen nicht für wissenschaftliche Zwecke gestohlen wurden? Der Schluss, der auf den würdigen Showdown folgt und fast alle losen Enden verknüpft, ließ mich glücklich und zufrieden zurück – aber auch ein wenig wehmütig, weil ich die liebgewonnenen Figuren verlassen musste. Es wird bestimmt nicht mein letztes Buch von der Autorin gewesen sein!

Protagonistin (5 Lilien ♥) & Figuren (5 Lilien ♥)

„Seine Experimentierfreude ist ungebrochen seit dem Tag, an dem er als Medizinstudent an einem Fleck auf einem Bettlaken leckte, um festzustellen, mit welcher Tinktur eine reiche Witwe ins Jenseits befördert worden war.“ E-Book, Position 2050

Ich glaube, ich bin verliebt! Und zwar in die liebevoll ausgearbeiteten, dreidimensionalen und wunderbar skurrilen und eigenwilligen Figuren in diesem Buch. Sie sind sympathisch, einmalig und wachsen einem unglaublich schnell ans Herz. Auch die äußeren Besonderheiten beschreibt die Autorin detailreich und anschaulich. Besonders großartig fand ich Cora, das riesige Hausmädchen mit dem Backenbart, der harten Schale und dem weichen Kern, das immer wieder anbietet, Bridies Kundschaft „durchzuschütteln, bis die Wahrheit rausfällt“ (merkt man eigentlich, dass ich schon wieder lache, während ich das tippe?).

Bridie fand ich als Protagonistin mit ihrer Schwäche fürs Pfeiferauchen großartig! Sie entspricht nicht dem typischen Schönheitsideal, sondern wird als „drall“ und „kräftig“, aber gleichzeitig schön beschrieben, was ich erfrischend fand. Bridie ist intelligent, humorvoll, empathisch und tough und lässt sich weder einschüchtern noch etwas gefallen. Um im damaligen London ungestört ihrer Tätigkeit nachgehen zu können, erfindet sie kurzerhand einen verstorbenen Ehemann, damit sie als Witwe ernst genommen wird, und verkleidet sich gerne als „Sir“. Als Frau, Feministin und Liebhaberin von starken weiblichen Figuren geht einem da das Herz auf!

Spannung (3 Lilien) & Atmosphäre (5 Lilien ♥)

„‘Und anscheinend haben alle was zu verbergen.‘
‚So ist es für gewöhnlich.‘“ E-Book, Position 1785

Es gelingt der Autorin hervorragend, in ihrem Buch das viktorianische London mit all seinen Sonnen-, aber auch Schattenseiten zum Leben zu erwecken und eine dichte, lebendige Atmosphäre zu kreieren. Es hat Spaß gemacht, in die Geschichte einzutauchen und mit Birdie durch die dreckigen, lauten Londoner Straßen zu marschieren.

Die Spannung ist der einzige Schwachpunkt von „Die Ewigkeit in einem Glas“. Die Geschichte kommt nur langsam in Schwung und der Spannungsbogen bricht im Mittelteil ein, wodurch sich manche Abschnitte etwas langatmig anfühlten. An diesen Stellen hätte das Buch mehr Tempo vertragen. Da es jedoch auf so viele Ebenen bei mir punkten konnte, fällt diese Schwäche wirklich nicht ins Gewicht. Wer allerdings keine ruhigen Geschichten mag, sondern nach atemloser Spannung und Action sucht, wird mit „Die Ewigkeit in einem Glas“ nicht glücklich werden.

Feministischer Blickwinkel (5 Lilien ♥)

Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: Hu++ und Dirne (nicht als Beleidigung verwendet, sondern als normale Berufsbezeichnung in der damaligen Zeit), Luder (nicht als Beleidigung verwendet), Schnepfe

Die weiblichen Figuren in „Die Ewigkeit in einem Glas“ sind eigenwillig, stark, mutig und facettenreich (von der toughen Detektivin über den skrupellosen weiblichen Bösewicht bis hin zur riesigen Frau mit Bart ist eine große Bandbreite an interessanten Frauen vorhanden!), und das Buch besteht mit Leichtigkeit den Bechdel-Test. Zudem werden der Feminismus und das damals schwierige Leben als Frau thematisiert. Dafür gibt es von mir natürlich alle Punkte und ein großes Lob!

Mein Fazit

„Die Ewigkeit in einem Glas“ ist ein charmantes Stück Literatur, das mich wunderbar unterhalten hat! Es handelt sich hierbei um eine ungewöhnliche, aber gelungene Mischung aus Krimi, historischem Roman und Fantasy mit Elementen des Horror- und Schauerromans. Jess Kidd ist eine unglaublich talentierte Geschichtenerzählerin, die sich mit diesem Buch ohne Umwege mein Herz geschrieben hat. Man merkt jeder Zeile an, mit wie viel Liebe und Herzblut sie geschrieben wurde! Der Schreibstil des Wohlfühlromans ist angenehm, poetisch, kreativ und eindringlich (ja, geradezu magisch!), der Humor brachte mich zum Schmunzeln und Lachen, die emotionalen, stillen und zärtlichen Momente überraschen und berühren und Themen wie die medizinischen Errungenschaften der damaligen Zeit, Freundschaft und Einsamkeit werden tiefgründig verarbeitet. Es gelingt der Autorin hervorragend, das viktorianische London zum Leben zu erwecken und eine dichte, lebendige Atmosphäre zu kreieren. Der einzige Schwachpunkt des Buches – das Buch hätte deutlich mehr Spannung und Tempo vertragen – fällt nicht ins Gewicht. Das Beste am Buch sind die eigenwilligen, liebevoll ausgearbeiteten und unvergesslichen Figuren, die einem unglaublich schnell ans Herz wachsen. Als Frau, Feministin und Liebhaberin von starken weiblichen Figuren geht einem bei diesem Buch wirklich das Herz auf! Ich kann euch „Die Ewigkeit in einem Glas“ nur wärmstens ans Herz legen. Lasst euch ins viktorianische London entführen, sucht mit Bridie ein Mädchen und verliert dabei euer Herz – und zwar an die liebevoll ausgearbeiteten Figuren!

Bewertung

Idee: 5 Lilien ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 5 Lilien ♥
Umsetzung: 5 Lilien ♥
Worldbuilding: 5 Lilien ♥
Einstieg: 3 Lilien
Ende / Auflösung: 5 Lilien ♥
Schreibstil: 5 Lilien ♥
Protagonistin: 5 Lilien ♥
Figuren: 5 Lilien ♥
Spannung: 3 Lilien
Atmosphäre: 5 Lilien ♥
Emotionale Involviertheit: 5 Lilien ♥
Feministischer Blickwinkel: 5 Lilien ♥

Insgesamt:

❀❀❀❀❀♥ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir fünf Lilien und ein Herz – und somit den Lieblingsbuchstatus!

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