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Veröffentlicht am 28.10.2023

Virtuous erzählte Generationentragödie

Endstation Malma
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Der Klappentext macht sofort neugierig – drei Menschen, deren Schicksale verwoben sind, fahren mit dem Zug nach Malma. Weiter gibt es wenig Information (was angesichts der Geschichte verständlich ist – ...

Der Klappentext macht sofort neugierig – drei Menschen, deren Schicksale verwoben sind, fahren mit dem Zug nach Malma. Weiter gibt es wenig Information (was angesichts der Geschichte verständlich ist – endlich mal ein gelungener Klappentext, der weder verfälscht noch bereits wesentliche Wendungen mitteilt, leider keine Selbstverständlichkeit) und so war ich gespannt, was mich erwartete.
Der gelungene Schreibstil zieht die Leser sofort in die Geschichte, er ist zugänglich, lebensnah und gekonnt. Das Buch liest sich unglaublich leicht und trotz des tiefdunklen Sujets fast entspannend, weil der Stil so mühelos und angenehm unprätentiös wirkt. Es gibt keine umständlichen Formulierungen, keine kunstvoll aufgebauschten Passagen, alles ist schnörkellos und zeugt in genau dieser Reduziertheit von einem meisterhaften Umgang mit Sprache. Große Teile des Buches berichten aus der Sicht von Kindern, was mir normalerweise überhaupt nicht zusagt, aber hier wurde es mit einer glaubhaften Erzählstimme berichtet, ohne ins zu Kindische abzugleiten. Im Text verbergen sich viele kleine Satzjuwelen, die ich mehrfach las. Der Stil ist also eine wahre Freude.
Dieser Umgang mit Sprache verbindet sich dann mit einem virtuosen Spiel der Erzähl- und Zeitebenen. Wir erfahren die Geschichte aus drei Perspektiven, die sich einander immer mehr annähern. Am Anfang weiß man noch nicht, wie diese drei zusammengehören, aber das erschließt sich schnell. Stück für Stück komplettiert sich das Bild, und das ist so gelungen gemacht, daß ich es beim Lesen genossen habe. Die Leser begleiten alle drei Erzähler auf ihrer jeweiligen Reise nach Malma, erfahren sowohl das, was auf der Reise geschieht, wie auch vieles, was vorher geschehen ist, springen beim Lesen also ständig hin und her, ohne daß sich das verwirrend und ungeordnet anfühlt – im Gegenteil, alles gehört genau dorthin, wo es erzählt wird und trägt zum Gesamtbild bei. Ich kann mir vorstellen, wie schwierig es gewesen sein muß, die Geschichte auf diese Art zu konzipieren, und daß dies so geschmeidig funktioniert, zeigt das Können des Autors und begeisterte mich immer wieder.
Thematisch geht Schulman hier in traurige Tiefen – die Sünden der Eltern ziehen sich durch die Geschichte, in die nächste Generation, die angeschlagen ebenfalls in Fehler verfällt und eine weitere Generation beschädigt. Jede Seele in diesem Buch ist verletzt, jede geht ungesund damit um und manche Szenen lassen einen nur entsetzt den Kopf schütteln, insbesondere wenn es darum geht, was Eltern ihren Kindern antun können, das oft sogar ohne schlechte Absicht, sondern fast im Vorbeigehen, aus Gedankenlosigkeit oder selbst erfahrenem Leid. Manche Szenen waren mir etwas zu skurril und rissen mich eher aus der Geschichte, überwiegend aber blieben sie in dieser leisen Beiläufigkeit der Grausamkeit, die so tief wirkt – bei den Betroffenen ebenso wie bei den Lesern.
Manches ist am Anfang rätselhaft und erschließt sich erst viel später, ebenso wie die Charaktere oft neue Facetten offenbaren. So gehen nicht nur die Charaktere auf eine Reise, auch die Leser begeben sich in diesem Buch auf eine Reise der Erkenntnis, die ein wahres Erlebnis ist. Selbst wenn das etwas sentimentale Ende mich nicht komplett überzeugte, weil doch einige Fragen offenblieben und ich zu einigen Dingen gerne mehr gelesen hätte, war es eines jener Bücher, in die man ganz tief eintauchen kann und bei denen man wünschte, sie würden noch ein ganzes Stück länger sein, weil man noch gar nicht am Ende ankommen möchte.

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Veröffentlicht am 20.10.2023

Zauberhafte Zeichnungen mit zahlreichen liebevollen Details

Eine Weihnachtsgeschichte
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Dickens‘ Weihnachtsgeschichte begleitet mich seit meiner Kindheit und gehört zu den Büchern, die ich am häufigsten gelesen habe. Hier wird diese altbekannte Geschichte in Comicform umgesetzt und das auf ...

Dickens‘ Weihnachtsgeschichte begleitet mich seit meiner Kindheit und gehört zu den Büchern, die ich am häufigsten gelesen habe. Hier wird diese altbekannte Geschichte in Comicform umgesetzt und das auf zeichnerisch erfreuliche Weise. Schon der Einband erfreut mit silbernen Ornamenten, im Vorsatz vorne und hinten sieht man Scrooge einsam durch den Schnee gehen und unter jeder Kapitelüberschrift befindet sich ein kleines Bild aus diesem Kapitel – diese und weitere Details zeigen, wie liebevoll dieses Buch gemacht ist.

Die Zeichnungen überzeugen uneingeschränkt, sind eine wahre Freude. Besonders bemerkenswert ist es, wie hier mit Farben gearbeitet wird, um Stimmungen zu vermitteln. So sind die Szenen in Scrooges Kontor bräunlich gehalten, es mangelt ihnen an der Farbenfreudigkeit, welche die weihnachtlichen Straßenszenen auf der ersten beiden Seiten so ungemein heimelig machte (und in denen Ebenezer Scrooge als schwarz-graue Gestalt düster hervorsticht). Das Fest bei Scrooges Neffen ist in warmen, freundlichen Tönen unterlegt, bei traurigen oder unheimlichen Szenen ist alles in Schwarz-Grau gehalten, das letzte Kapitel mit Scrooges Wandlung erfreut mit hellen Farben und kräftigen Akzenten, wie dem leuchtenden Rot seines Morgenrocks. Es ist absolut bemerkenswert, wie diese Farbschattierungen eingesetzt werden.

Auch sonst sind die Zeichnungen gekonnt. Ein Bild von Scrooge als Kind über Scrooge als altem Mann zeigt herrliche Übereinstimmungen gerade in der Augenpartie und doch die Unterschiedlichkeit der Gesichtszüge, die sich mit dem Alter ergeben. Man sieht gleich: ja, das ist derselbe Mensch in verschiedenen Altersstufen. Scrooges Mimik ist im ganzen Buch ungemein aussagekräftig, es ist eine Freude, ihn und seine Reaktionen zu sehen, auch seine Körperhaltung ist herrlich getroffen, wie aber auch all die anderen Details, die ein köstliches Gesamtbild ergeben.

Textlich gab es hier und da einige Kleinigkeiten, die nicht gänzlich überzeugten, so redet man sich mit „Ihr“ und nicht mit „Sie“ an, was für die Zeit völlig falsch ist und mich beim Lesen jedes Mal irritierte. Der an sich lobenswerte kurze Text über Charles Dickens am Schluß enthält auf einer halben Seite gleich mehrere Fehler und auch eine Textstelle ist nicht richtig wiedergegeben. Allerdings war insgesamt erfreulich, wie gut der Comic die Geschichte auch textlich wiedergibt, einige Sätze stammen direkt aus dem Buch und gerade das letzte Bild ist textlich ganz nah am Buch. Manches wird etwas zu kurz behandelt, manches – wie die Kinder unter dem Umhang des zweiten Geists – fehlt ganz, was bedauerlich ist. Insgesamt aber lernt man Dickens‘ Weihnachtsgeschichte auf eine bezaubernde Art kennen und die Zeichnungen begeistern. Ich habe diese bildlich hinreißende Reise gerne gemacht und werde dieses Buch sicher noch oft ansehen.

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Veröffentlicht am 17.10.2023

Gelungener Blickwinkel, herrliche Informationsfülle, teilweise unzugänglicher Stil

Um 1500
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Die Zeit um 1500 wird den Lesern in 50 Kapiteln vermittelt, jedes davon widmet sich einem anderen Thema und jedem ist ein Bild Dürers vorangestellt. So begleitet uns Dürer durch sein Werk, aber auch durch ...

Die Zeit um 1500 wird den Lesern in 50 Kapiteln vermittelt, jedes davon widmet sich einem anderen Thema und jedem ist ein Bild Dürers vorangestellt. So begleitet uns Dürer durch sein Werk, aber auch durch sein eigenes Leben durch diese Zeit – eine ausgezeichnete Idee, die dem Inhalt einen persönlichen Fokus verleiht und uns zugleich das beeindruckende Werk dieses Künstlers näherbringt. Die erstklassige Ausstattung des Buches wird dem Sujet gerecht, ich war davon begeistert. Das Papier ist hochwertig, so daß die farbigen Abbildungen sehr gut zur Geltung kommen, auch sonst erfreut die visuelle Gestaltung. Die Bilder sind zudem ausgezeichnet ausgewählt, sie passen zum jeweiligen Thema und sind zudem vielfältig. Der Autor erklärt zu Beginn jedes Kapitels das jeweilige Bild und auch das ist sehr gut gemacht, denn so werden die Leser auf einiges hingewiesen, was einem beim reinen Betrachten eventuell entgeht, auch werden Zusammenhänge und Hintergründe erklärt – sehr erfreulich und schon anhand der Bilder erfährt man vieles über die Zeit.

Vom Bild geht der Text dann zu den allgemeineren Informationen des jeweiligen Themas über. Im Vorwort weist der Autor explizit darauf hin, das Wissen zugänglich vermitteln zu wollen. Das gelingt leider nicht durchgehend. Der Schreibstil konnte mich nur teilweise überzeugen. Er ist überwiegend eher gehoben, was ich erfreulich finde, aber allgemein ziemlich steif, bedient sich einer bei populärwissenschaftlichen Büchern ungewöhnlichen Häufung wenig gängiger Fremdworte und eines oft geradezu sperrigen Satzbaus, wie z.B. „Erst allmählich scheint insbesondere der Druck die Sprachform und das Denken über Sprache fixiert zu haben, was umgekehrt eine stärkere Wahrnehmung der Distinktion nach sich zog" oder „Vielmehr bezogen sich schleifenförmig die Erzählungen des Alten und Neuen Testaments auf die Gegenwart, die sie jeweils präfigurierten. Diese typologische Geschichtssicht war zugleich statisch, da sie mit Kohelet 1,9 postulierte ...".
Auch verliert sich der Autor häufig in theoretischen Exkursen, welche für das allgemeine Leserpublikum schlichtweg zu akademisch und trocken sind und bei manchen Themen zu Lasten interessanter praktischer Aspekte gehen.
Solchen wenig zugänglichen Passagen steht dann der Gebrauch von Denglisch gegenüber, so wird überlegt, ob jemand vielleicht „eine eigene Agency“ hatte, wir haben Begriffe wie In-Group, Honeymooners und Hotspots und aus nicht nachvollziehbaren Gründen wird der Begriff „Geschlecht“ durchweg mit „Gender“ ersetzt, z.B. „Kleidungsstücke konnten also (...) mit (...) dem Gender in direkte Korrelation gebracht werden“, und es geht nicht mehr um Geschlechterrollen, sondern Genderrollen. Das Denglisch paßt weder zum Thema des Buches noch zur Zielgruppe (bei einem speziell für Jugendliche geschriebenen Buch wäre es z.B. nachvollziehbarer) und schon gar nicht zum restlichen Schreibstil, so daß diese Begriffe gleich aus mehreren Gründen fehl am Platz wirken.
Dem stehen aber gut geschriebene und angenehm lesbare Passagen gegenüber, gerade in der letzten Hälfte des Buches wird der Text vom Inhalt her handfester und vom Stil her lesefreundlicher. Insgesamt wirkt der Schreibstil etwas uneinheitlich auf mich – hier hätte ein Lektorat noch einiges bewirken können und sollen.

Manche Punkte werden im Text angerissen, aber nicht erklärt, z.B. wird erwähnt, daß es in manchen Häusern bereits fließendes Wasser gab oder andere Sprachen für Reisende keine Probleme darstellten, aber es wird nicht erläutert, wie das funktionierte. Der Autor bemüht sich, so viele Themen und Aspekte wie möglich anzusprechen, was lobenswert, aber bei diesem Format nicht immer durchführbar ist. Dies merkte ich besonders bei einem Kapitel über politische Hintergründe, welches versucht, auf wenig Raum zahlreiche Aspekte eines ohnehin komplexen Themas zu erklären und dadurch zu einer anstrengenden Aufzählung von Fakten und Namen wird, die den Leser schier erschlagen. Auch manche anderen Kapitel haben etwas Aufzählendes, während wieder andere herrlich anschauliche Informationen vermitteln und uns in die Lebenswelt jener Zeit eintauchen lassen.

Erfreulich ist, daß der Autor viele Zusammenhänge ausgezeichnet erklärt und somit zu einem Verständnis für diese Zeit beiträgt, welche über die reine Faktenvermittlung hinausgeht. Auch die Verknüpfungen von Dürers Leben zu allgemeinen Aspekten sind ausgezeichnet gelungen. Die Themenvielfalt ist bemerkenswert und wir erfahren hier sogar Dinge, die viele andere Bücher auslassen, so ist ein Thema dem Humor gewidmet, und wenn es um Sinneseindrücke geht, wird nicht nur lapidar erklärt, daß es auf den Straßen wenig angenehm gerochen haben muß, sondern wir werden geradezu auf eine Sinnesreise mitgenommen. Hier liest man nicht nur, man erlebt es fast schon mit.

Im Anhang findet sich ein umfangreiches, nach Themen geordnetes Literaturverzeichnis, welches nur ein weiteres Zeichen für die unglaubliche Hingabe, Arbeit und Sorgfalt ist, die in dieses Buch mit seiner enormen Informationsfülle einflossen. Auch wenn sich stilistisch manches lesefreundlicher gestalten ließe, würde ich das Experiment, sich der Epoche durch Dürer und seine Werke zu nähern, als gelungen bezeichnen. Ich habe viel Neues gelernt, wurde mir über manche Zusammenhänge bewußt, habe einen neuen Zugang zu den Menschen jener Zeit bekommen und eine enorme Hochachtung vor Dürer und seinem Werk erlangt.

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Veröffentlicht am 03.10.2023

Von der Idee her ausgezeichnet

Dreieinhalb Stunden
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Der Gedanke des Buches gefiel mir ausgezeichnet, die Geschichte stellte die Protagonisten vor Entscheidungen, die sicher jeder Leser nachempfinden kann und bei denen sicher auch fast jeder überlegt: "Was ...

Der Gedanke des Buches gefiel mir ausgezeichnet, die Geschichte stellte die Protagonisten vor Entscheidungen, die sicher jeder Leser nachempfinden kann und bei denen sicher auch fast jeder überlegt: "Was würde ich tun?"

Wir begleiten diverse Personen auf der Fahrt des Interzonenzugs von München nach Berlin, und während dieser Fahrt sickert nun durch, daß in Berlin gerade die Mauer gebaut wird und man somit gerade die letzte Chance hat, der menschenverachtenden SED-Diktatur zu entfliehen. Die Entscheidung wird somit sehr plötzlich akut, es bleiben nur wenige Stunden bis zur Erreichung der Grenze. In wenigen Stunden über das ganze künftige Leben zu entscheiden - bei einem Verbleib im Westen so viel zurückzulassen, das setzt die Protagonisten unter erheblichen Druck.

Gelungen ist, daß hier sehr verschiedene Menschen unterwegs sind, die sich sowohl von ihrem Alter als auch von ihrer Vergangenheit und jetzigen Position unterscheiden. Jemand, der einen guten, regierungsnahen Posten in der DDR hat und bereits in einem regimetreuen Elternhaus aufwuchs, geht das Thema natürlich anders an als jemand, der nicht ganz in der Bild des angepaßten, gehorsamen DDR-Bürgers paßt und deshalb bereits Nachteile erlitten hat, oder jemand, dem dort seine berufliche Zukunft genommen wurde.

All diese Geschichten und Überlegungen lernen wir nun also kennen. Man merkt dem Buch m.E. an, daß es aus einem Drehbuch hervorgegangen ist. Die Szenenwechsel sind schnell, die einzelnen Szenen oft etwas oberflächlich, der Schreibstil eher einfach. Es liest sich leicht und nett weg, mehr aber auch nicht.

Für mich war ein großes Manko, daß es letztlich wenig Handlung gab und versucht wurde, die Geschichte langzuziehen. Vielleicht klappt das bei einem Film besser, aber im Buch war sehr viel Füllmaterial. So haben wir hier den Handlungsstrang zweier Polizisten, die für sehr viele blasse Füllszenen sorgen, in denen sie mehr oder weniger dasselbe oder eben gar nichts tun. Die Handlungsstrang wechselt zum Ende die Perspektive zu zwei anderen Charakteren, die mir aber viel zu blass geblieben sind, da der Fokus ihres Handlungsstrangs bei den beiden Polizisten lag. Dieser Handlungsstrang, der Potential gehabt hätte, wirkte dadurch unentschlossen und, wie gesagt, wie Füllmaterial. Wir lernen auch die Lokführerin kennen, welche aus dem Osten zur Grenze fährt, um den Zug nach der Grenze nach Berlin zu fahren. Sie wird von einem Jounalisten begleitet, der über ihre Arbeit berichten soll, und das Geplänkel und Geplauder der beiden zieht sich unendlich und trägt sehr wenig zur Geschichte bei, auch hier wirkt vieles wie Füllmaterial.

Im Zug geschieht auch recht wenig. Immer wieder wird betont, wie wenig Zeit noch bleibt, immer wieder kreisen die Gedanken der Protagonisten um dieselben Themen und alle von ihnen blicken plötzlich in ihre Vergangenheit zurück. Das ist teilweise interessant, weil wir so mehr über die Charaktere erfahren, aber auch hier ist vieles ausgewalzt, vieles unnötig und es ist auch etwas seltsam, daß diese Zugfahrt plötzlich bei mehreren Kriegserinnerungen freisetzt. Es wirkt alles etwas konstruiert. Vieles andere bleibt dagegen oberflächlich und viele wiederholt sich.

Es gibt berührende Momente und es wird gut dargebracht, wie grausam die gewaltsame Teilung Deutschlands und das Einsperren der Menschen in der DDR war, wie viel Leid es verursachte. Auch die Proteste in Berlin werden geschildert - ein wenig blass, da wir alles nur durch einen Polizisten in seinem Büro mitbekommen und nicht durch das tatsächliche Geschehen.

Letztlich überraschte mich keine der Entscheidungen. Jeder agierte so, wie es zuvor aufgrund Position, Alter, Lebenssituation zu vermuten gewesen wäre. Hier und da wurde zwar versucht, durch einige Wendungen oder Warten bis zur letzten Minute etwas Spannung zu erzeugen, und das gelang auch manchmal, aber letztlich merkt man dem Buch einfach an, daß es auf einem Fernsehfilm basidert, der unterhaltsam und gut verdaulich sein soll. Die Kniffe, die bei Drehbüchern funktionieren, lassen sich nicht auf Bücher übertragen. Man hätte diese Geschichte als Buch wesentlich besser, berührender und weniger auf Effekt gequält erzählen können. Als unterhaltsame Lektüre, die durchaus zwischendurch zum Nachdenken anregt, reicht es aber allemal.

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Veröffentlicht am 15.09.2023

Die Geschichte bewegt sich zäh im Kreis

Als wir an Wunder glaubten
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Nachdem ich Helga Bürsters „Luzies Erbe“ sehr genossen habe und es in vielerlei Hinsicht eines jener seltenen Bücher war, die einen ganz besonderen Eindruck hinterließen, war ich auf dieses neue Buch gespannt. ...

Nachdem ich Helga Bürsters „Luzies Erbe“ sehr genossen habe und es in vielerlei Hinsicht eines jener seltenen Bücher war, die einen ganz besonderen Eindruck hinterließen, war ich auf dieses neue Buch gespannt. Zu Beginn gefiel mir die geschilderte Moordorf- und Nachkriegsatmosphäre, die Leser werden allmählich in die Geschichte, das Dorf und seine Einwohner hineingeführt und es gab schon vielversprechende Ansätze, die neugierig machten. Allerdings trat das Buch dann schnell auf der Stelle. Die Geschehnisse im Dorf werden mit zäher Ausführlichkeit berichtet, jede kleine Handlung füllt Seite um Seite um Seite. Was anfänglich zur Einführung durchaus angenehm war, wurde dann bald langweilig, was auch an den vielen Wiederholungen lag. Wir beobachten die Dorfbewohner bei ihren Alltäglichkeiten und zwar immer und immer wieder.
Wesentlich interessanter fand ich anfänglich den Erzählstrang des Kriegsheimkehrers mit Amnesie, allerdings wird hier die überraschende Wendung bereits im Klappentext verraten. Es ist mir ein Rätsel, warum ein Verlag eine unerwartete Wendung, die erst nach etwa einem Drittel des Buches vorkommt, bereits im Klappentext verrät, somit einen wesentlichen Aspekt vorausnimmt und auch einen wesentlichen Teil der Spannung raubt. Das hat mich sehr geärgert.
Dieser Erzählstrang versickert dann auch bald im Dorfeinerlei. Ab der Hälfte des Buches merkte ich, daß mich weder die Geschichte noch die Charaktere noch interessierten. Einige der Charaktere hatten mich anfangs berührt und interessiert, aber sie wurden mit jeder Seite blasser. Die vielversprechenden Ansätze der Geschichte verloren sich in der zähen Erzählweise. Viele Szenen waren einander so ähnlich, daß ich ständig dachte: „Ja, das habe ich bereits mehrfach gelesen.“ Es mag Absicht gewesen sein, um das Eintönige hervorzuheben, aber ein Lesevergnügen ist es nicht, wenn die Geschichte langsam im Kreis dahintrottet. Auch die Entwicklungen am Ende, die im Gegensatz dann zu überzogen daherkamen, haben es für mich nicht mehr rausgerissen, weil das Buch mich schon längst verloren hatte.
Ich mag es durchaus, wenn atmosphärisch erzählt wird, in „Luzies Erbe“ ist dies sehr gelungen. Dort gab es aber auch mehr Handlung. Hier wird eine sehr handlungsarme Geschichte behäbig ausgewalzt und ich muß zugeben, daß ich mich beim Lesen sehr gelangweilt habe. Dabei ist die Idee an sich interessant. Auch die authentische Darstellung des Dorfes und der Hoffnungslosigkeit der Nachkriegszeit waren gelungen. Die Geschichte des Kriegsheimkehrers hatte viele berührende Facetten. Insgesamt aber konnte mich dieses Buch leider nur wenig überzeugen.

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