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Veröffentlicht am 04.06.2025

Rückkehr hinter den Eisernen Vorhang

Smiley
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Dafür, dass Nick Harkaway 1972 geboren ist, kann er in die Welt des Kalten Krieges und der Geheimdienste sehr glaubwürdig eintauchen. Mehr noch: Sein Spionageroman "Smiley" überzeugt mit Kontinuität, sprachlich ...

Dafür, dass Nick Harkaway 1972 geboren ist, kann er in die Welt des Kalten Krieges und der Geheimdienste sehr glaubwürdig eintauchen. Mehr noch: Sein Spionageroman "Smiley" überzeugt mit Kontinuität, sprachlich und stilistisch. Denn Smiley, das ist natürlich George Smiley, die wohl berühmteste Romanfigur von John Le Carré. Vielleicht liegt es daran, dass Harkaway gewissermaßen mit Smiley-Extrakten beim Frühstück und Mittagessen aufwuchs. Er ist der jüngste Sohn des berühmten Autors (beide benutzen ein Pseudonym) und sein Roman ist nicht nur eine Hommage an den berühmten, vor wenigen Jahren gestorbenen Vater, sondern auch eine literarische Rückkehr in die Welt des Eisernen Vorhangs, in der Smiley zu Hause war.

"Smiley" spielt in den frühen 60-er Jahren, nach "Der Spion, der aus der Kälte kam" und "Dame, König, As, Spion", was für Leser*innen von Le Carrés Romanen einen besonderen Reiz ausmachen dürfte. Denn einerseits nimmt der Roman Bezug auf bekannte Romanfiguren - Control, Peter Guillam, Jim Prideaux, Billy Haydon, Toby Esterhazy oder Connie Sachs. Zum anderen ist der Blick auf Smiley ein etwas anderer - etwa, weil er zumindest zu Beginn des Buches ein glückliches Eheleben genießen darf, hat er doch dem "Circus" den Rücken gekehrt.

Doch das Verschwinden eines ungarischen Literaturagenten, in dessen Büro ein russischer Auftragsmörder auftauchte führt zur Reaktivierung des eher unwilligen Smiley. Er soll die ebenfalls ungarische Assistentin des Vermissten verhören, Susanna, die sich als junge Frau mit Talenten und Instinkten erweist, die in der Welt der Geheimdienste nützlicher sein dürften als im Literaturbetrieb. Sie hat den Killer, der aufgrund einer religiösen Vision seinen Plan abblies, kurzerhand im Büro eingesperrt und die Behörden verständigt.

Täuschung, Verschleierung, Legenden und falsche Identitäten, Spionage und Gegenspionage und die Frage, was das alles mit einem vermuteten neuen Mann innerhalb der Ränge des sowjetischen Geheimdienstes zu tun hat, führen tief in das Smiley Universum. Dabei greift Harkaway auch die manierierten Sprachgewohnheiten der Geheimdienstler mit oft elitärem Hintergrund auf, ebenso wie den Stil einer Zeit in der politische Korrektheit noch ein Fremdwort war, wenn nicht gleich völlig undenkbar.

Berlin, Wien und Budapest sind Stationen von Smileys Suche, die ihn direkt an die Front des Kalten Kriegs und jenseits des Eisernen Vorhangs führt. Im Original heißt der Roman "Karla´s Choice" - und wie jeder Le Carré-Leser weiß, ist der geheimnisvolle Karla der große Gegenspieler, ja die Nemesis Smileys, dessen Hintergrund stets geheimnisvoll bleibt.

Mit "Smiley" ist Harkaway seinem Vater gerecht geworden - und weckt Neugier, ob Smiley auch weiterhin auf seine scheinbar pedantische Art mit Intelligenz und Beharrlichkeit die Geheimnisse seiner Gegner aufdeckt.

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Veröffentlicht am 30.05.2025

Familiendrama im Lockdown

Happiness Falls
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Angie Kim hat viel reingepackt in ihren Roman "Happiness Falls", dessen Titel, wie sich beim Lesen zeigen wird, vielschichtig das Drama einer amerikanisch-koreanischen Familie vorwegnimmt. Neben einem ...

Angie Kim hat viel reingepackt in ihren Roman "Happiness Falls", dessen Titel, wie sich beim Lesen zeigen wird, vielschichtig das Drama einer amerikanisch-koreanischen Familie vorwegnimmt. Neben einem Vermisstenfall und den Erschütterungen einer Familie handelt der Roman ebenso auch von Identität, Zuschreibung, Alltagsrassismus, Umgang mit Behinderten, ist durchaus auch eine Coming of Age Geschichte.

Kim erzählt aus der Perspektive der 20-Jährigen Mia. Der Corona-Lockdown hat die Studentin zurück ins Elternhaus zum Onlinestudium vertrieben. Mia und ihr Zwillingsbruder John sind beide hochbegabt, allerdings völlig unterschiedliche Charaktere: Während John ein eher musischer und optimistischer Mensch ist, der äußerlich seinem weißen amerikanischen Vater ähnelt, hat Zwillingsschwester Mia das asiatische Aussehen ihrer koreanischen Mutter geerbt. Sie ist vor allem technisch-analytisch begabt, neigt dazu, alles zu hinterfragen und ist mitunter anstrengend selbstgerecht. Und dann ist da noch Eugene, der 14-jährige Junior der Familie, der mit einem seltenen Gendefekt geboren wurde und obendrein autistisch ist. Eugene kann nicht sprechen, seine motorischen Fähigkeiten sind eingeschränkt.

Eines Morgens kommt Eugene allein von einer Wanderung mit seinem Vater in ein nahegelegenes Naturschutzgebiet zurück - mit blutiger Kleidung und offensichtlich verstört. Dass der Vater nicht heimgekommen ist, wird dem Rest der Familie erst nach stundenlanger Verzögerung klar, auch weil Mia eine falsche Wahrnehmung hatte. Als aus anfänglicher Unruhe Angst und Sorge werden, sucht die Familie zunächst auf eigene Faust, sucht nach einer natürlichen Erklärung für das Verschwinden des Vaters.

Dass Eugene sich nicht mitteilen kann, verkompliziert die Lage noch. Als die Polizei hinzugezogen wird, richtet sich die Aufmerksamkeit der Ermittler schnell auch auf Eugene, der bei Gefühlsausbrüchen auch aggressiv werden kann. Hat er etwas mit dem Verschwinden des Vaters zu tun? Und welche Geheimnisse hatte der Vater? Ist er womöglich untergetaucht? Wäre das eine erträglichere Lösung, als wenn er einem Verbrechen zum Opfer fiel oder verunglückte?

Mia entwirft wechselnde Szenarien, die ihr möglich erscheinen, auf der Grundlage von Erkenntnissen aus dem Notizbuch ihres Vaters. Der emotionale Rollercoaster Mias ist nicht nur der angespannten Situation geschuldet, sondern wohl auch der Tatsache, dass sie vor nicht allzu langer Zeit noch ein pubertierender Teenager war. Kim hat eine mitunter anstrengende und weitschweifige Protagonistin gewählt, doch gleichzeitig entsprechen die staccatoartigen Gedankengänge Mias der Dramatik einer Familie, die sich von einem Augenblick auf den anderen in einer Ausnahmesituation wiederfindet. Die Autorin sorgt trotz einiger Längen mit immer neuen Entwicklungen für Spannung.

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Veröffentlicht am 28.05.2025

Der Untergang des Hauses Coker

Nacht über Soho
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Es ist das Jahr 1926, die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg und das Sterben in den Schützengräben Flanderns ist noch frisch. Doch in den Clubs von Soho wird gekokst, getanzt und amüsiert, als gäbe es ...

Es ist das Jahr 1926, die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg und das Sterben in den Schützengräben Flanderns ist noch frisch. Doch in den Clubs von Soho wird gekokst, getanzt und amüsiert, als gäbe es kein Morgen. Halbwelt mischt sich mit Geldadel und Aristokratie, Pelz mit Pailletten. Hier ist Nellie Coker, frisch aus dem Gefängnis entlassen, die Königin der Clubs. Sechs Nachtklubs gehören zu ihrem Soho-Imperium, doch in der Abwesenheit der Matriarchin haben sich Konkurrenten bereits in Aufstellung gebracht. Eine feindliche Übernahme droht, und vielleicht der Untergang des Hauses Coker - denn Nelies sechs Kinder mischen zwar bereits im Geschäft mit, können aber größtenteils nicht mit dem Geschäftssinn und den eisernen Ellbogen ihrer Mutter mithalten.

Das ist die Szenerie in Kate Atkinsons historischem Roman "Nacht über Soho", der die glitzernden 1920-er Jahre zum Leben erweckt. Wäre es ein Berlin-Roman der gleichen Zeit, würde vielleicht noir-Stimmung dominieren, doch Atkinson erzählt auch Ernstes mit leichter Hand, einem gewissen Understatement und einer Prise Ironie. Britannia Cool statt deutscher Schwere gewissermaßen.

Kontrahenten hat Nellie Choker nicht nur in der Halb- und Unterwelt. Scotland Yard Detective Frobisher will ihr das Handwerk legen, gleichzeitig aber auch den Korruptionssumpf des örtlichen Polizeireviers trocken legen. Unerwartete Hilfe erhält er von einer Bibliothekarin aus York, die in die Großstadt gekommen ist, um zwei 14-jährige Ausreißerinnen zu finden, die von Bühnenruhm träumen und nur allzu schnell die Schattenseiten der Glitzermetropole kennenlernen. Dass die unscheinbare Bibliothekarin aus der Provinz nicht zu unterschätzen ist, stellt auch Cokers ältester Sohn schnell fest. Die junge Frau, die als Krankenschwester das Sterben im Ersten Weltkrieg miterlebte, hat eiserne Nerven und kann Krisensituationen bestens meistern.

Auch wenn es um verschiedene Verbrechen geht, ist "Nacht über Soho" eher Gesellschaftsroman und Porträt einer Ära als ein Kriminalroman. Die Clubs von Soho sind ein Ort von Selbstdarstellung und Lebenslust, aber auch eine Scheinwelt verlorener Illusionen und brutaler Gier. Spannende Unterhaltung ist hier mit überzeugendem Zeitkolorit kombiniert.

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Veröffentlicht am 27.05.2025

Whistleblower und Enthüllungen

Die Tesla-Files
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Als die Journalisten Sönke Iwersen und Michael Verfürden vom Investigativteam des Handelsblatts von einem zunächst anonymen Whistleblower kontaktiert wurden, ahnten sie noch nicht, dass der Gegenstand ...

Als die Journalisten Sönke Iwersen und Michael Verfürden vom Investigativteam des Handelsblatts von einem zunächst anonymen Whistleblower kontaktiert wurden, ahnten sie noch nicht, dass der Gegenstand ihrer Recherche in nur wenigen Jahren ganz dicht an den Schaltstellen der Macht sein würde. Doch Tesla-Chef Elon Musk war bereits zu diesem Zeitpunkt eine schillernde Figur. In ihrem Buch "Die Tesla-Files" schildern die beiden Journalisten die damalige Recherche - zunächst das ungläubige Staunen, wie sorglos bei Tesla anscheinend der Umgang mit sensiblen Daten gehandhabt wurde.

Zunächst waren sie skeptisch - die Unterlagen waren schließlich fast zu gut, um wahr zu sein. Auch die Rechtsabteilung sah den möglichen Fallout als bedrohlich an - was, wenn ein Schadensersatzprozess vor US-Gerichten drohen könnte? Die Reporter, die Zeitung, der Verlag mussten sich absichern, verifizieren, weitere Quellen finden, ehe der erste Artikel erscheinen konnte.

"Die Tesla Files" ist spannende Lektüre für alle, die auch "all the president´s men" zum Watergate-Skandal mochten, minur "Deep Throat" in der Tiefgarage. Zugleich beschreiben sie das langwierige Abklopfen, die vielen Hintergrundgespräche, die vor dem ersten Artikel standen. Daneben geht es auch immer wieder um die Biografie Musks, seine Unternehmen, seine Frauen, seine teils bizarren Auftritte.

"Die Tesla Files" ist nicht nur ein Buch über einen journalistischen Scoop, es nimmt auch einiges von dem vorweg, was Musk in den vergangenen Monaten im Weißen Haus brachial umsetzte. Sein Management- und Führungsstil, eine toxische Unternehmenskultur und ein monströses Ego offenbaren sich aus den ausgewerteten Daten, den Gesprächen mit Kunden, Mitarbeitern, Gewerkschaftern. Die Gier nach immer mehr Macht zeichnet sich dabei schon früh in Musks Biografie ab.

Mittlerweile scheint Musk in Weißen Haus keine größere Rolle mehr zu spielen. Angesichts der erratischen Verhältnisse in der Trump-Administration ist das sicherlich keine Gewissheit, dass Musk sich nun nur noch auf seine Unternehmen konzentriert. Beim Lesen von "Die Tesla-Files" wird das Phänomen Musk klarer, zugleich ist das Buch ein spannender Einblick in Investigativjournalismus.

Veröffentlicht am 26.05.2025

Familien- und Fluchtgeschichte

Wir Ostpreußen
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Wie lange hallt Vergangenheit, insbesondere ein Trauma aus der Vergangenheit, nach? Vor allem dann, wenn noch lebendige Erinnerung an unmittelbar Betroffene vorhanden ist, erhält sie sicher eine persönliche ...

Wie lange hallt Vergangenheit, insbesondere ein Trauma aus der Vergangenheit, nach? Vor allem dann, wenn noch lebendige Erinnerung an unmittelbar Betroffene vorhanden ist, erhält sie sicher eine persönliche Note. Das ist mir beim Lesen von "Wir Ostpreußen" von Jochen Buchsteiner deutlich geworden. Das Buch ist sowohl eine Familiengeschichte als auch die Geschichte der Flucht mit einem Treck aus Ostpreußen, über das Haff, beispielhaft für das Schicksal von 14 Millionen Menschen aus den früheren deutschen Ostgebieten am Ende des Zweiten Weltkrieges und in den Jahren danach.

Buchsteiners Großmutter, die aus einer Gutsbesitzerfamilie stammte, hatte kurz vor ihrem 90. Geburtstag die Geschichte ihrer Flucht für die Enkel aufgeschrieben - Jahre später machte sich Buchsteiner zusammen mit seinem Vater und seinem ältesten Sohn selbst auf den Weg, diese verlorene Heimat kennenzulernen und auf umgekehrtem Weg der Route der Großmutter zu folgen. Gleichzeitig erzählt er die Lebensgeschichte seiner Großeltern und die Wurzeln der Familie. Es ist ein persönlicher Blick, mit manchem Sentiment, aber unsentimental.

Nicht alles, was er sehen wollte, war erreichbar: Das historische Ostpreußen gehört mittlerweile teils zur russischen Exklave Kaliningrad - das frühere Königsberg, andere Teile sind heute polnisch oder litauisch. Und während eine Reise in die EU-Staaten Polen und Litauen unproblematisch ist, ist ein Besuch im russischen Gebiet auch schon vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine mit viel komplizierter Bürokratie verbunden. Insofern ist mancher Sehnsuchtsort für Buchsteiner unerreichbar.

Und ein Sehnsuchtsort ist Ostpreußen für den Autor wohl bis in die Gegenwart - nicht im Sinne revanchistischer Ansprüche, sondern in einem verklärten Bild eines geheimnisvollen Landes voller Schönheit, mit einem weiten Himmel und ländlicher Idylle. Das ist vielleicht auch der Herkunft geschuldet. Das Leben einer Gutsbesitzerfamilie sah anders aus als das ihrer Landarbeiter, oder eines schlesischen Bauern oder der Stahlarbeiter oder Bergleute in Oberschlesien. Für die einen war die Fallhöhe besonders groß, weil sie viel mehr Wohlstand und angenehmen Lebensstil zu verlieren hatten, aber am Ende waren sie alle entwurzelt und als Flüchtlinge in einem zerstörten Land, in dem sie nicht unbedingt als willkommene Landleute galten.

Dass die Geschichte weitergegangen ist, ist bei der Reise der Erinnerung für den Autor mitunter bedauerlich: Statt ländlicher Alleen eine Schnellstraße, riesige Werbeplakate am Straßenrand, Fertighaussiedlungen und Verkehrskreuze. "Polen umarmt das Neue mit der grimmigen Entschlossenheit des Erben, der Abstand zur Vergangenheit schaffen will", schreibt Buchsteiner, sehnt sich ein bißchen nach dem schäbigen Idyll, das Ralph Giordano bei einer Jahre 30 Jahre zuvor beschrieb, "Etwas Banales hat sich eingeschlichen, die Banalität der Globalisierung, die man mit dem mythischen Ostpreußen nicht recht in Verbindung bringen will."

Das erinnert an die Enttäuschung der Nachkommen deutscher Auswanderer, die Deutschland nur aus Familienüberlieferungen kennen und bei einem Besuch erstaunt sind, statt der erwarteten Fachwerkidylle ein ganz anderes und deutlich internationaleres Land vorzufinden. Gespräche mit den heutigen Einwohnern bleiben an der Oberfläche, oder scheinen der Beschreibung zufolge ein wenig verkrampft. Insofern bleibt es ein deutscher Blick auf Ostpreußen. Schade eigentlich, denn in den vergangenen 20 bis 30 Jahren haben sich in Polen viele Initiativen in den Gebieten gegründet, die "poniemieckie" sind, wo früher Deutsche lebten. Und junge Menschen, die dort längst ihre Wurzeln haben, arbeiten die Geschichte über das Erbe derjenigen auf, die dort einst lebten.