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Veröffentlicht am 18.12.2020

Easy like French summer nights

Queen July
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Manchmal war es besser, Menschen und Dinge ziehen zu lassen, anstatt ihnen hinterherzulaufen. (S. 103)

Alles begann in Paris, und da – genauer: in einer Badewanne gefüllt mit wohltuend kühlem Wasser und ...

Manchmal war es besser, Menschen und Dinge ziehen zu lassen, anstatt ihnen hinterherzulaufen. (S. 103)

Alles begann in Paris, und da – genauer: in einer Badewanne gefüllt mit wohltuend kühlem Wasser und einer Flasche Weißwein – soll es nun weitergehen: Aziza ist in Paris aufgewachsen, lebt aber nun in Dschibuti. Als sie mit ihrem Medizinstudium und der Ausbildung zur Anästhesistin fertig war, hat sie die Möglichkeit, Paris und die Geister der Vergangenheit hinter sich zu lassen, beim Schopfe gepackt und trat eine Stelle in einem chinesischen Krankenhaus an. Zwischen ihrer Arbeit, feucht-fröhlichen Partys und heißen, gemeinsamen Nächten mit einem attraktiven Kollegen aus Addis Abeba fällt ihr das auch nicht allzu schwer, bis sie eines Tages eine Nachricht ihrer Jugendliebe Strehler erhält. Einst ihre große Liebe, wendete er sich damals ohne ein Wort der Erklärung von ihr ab, und verletzte sie damit tief. Nun wollen sie sich nach all den Jahren, in denen sie beide neue Erfahrungen gemacht, ein anderes Leben geführt haben, in Paris wiedertreffen. Vor ihrem Treffen ist Aziza nervös, unsicher, und vertraut sich ihrer Gastgeberin July, der Freundin einer Freundin, neben einer Badewanne auf dem Boden sitzend, an.
Was mir zunächst wirr und fragmentiert erschien, fügte sich schnell zu einem stimmigen, atmosphärischen Ganzen zusammen, und unversehens war ich in Azizas Beschreibungen ihres Lebens versunken. Der fantastische Erzählverlauf, der Spannungsaufbau und die empathische Darstellung fesselten mich eines Soges gleich an die Seiten. Von außen betrachtet scheint es eine kitschige, wenn nicht sogar klischeebeladene Liebesgeschichte zu sein, doch es ist mehr: Stadelmaier greift gesellschaftspolitische Themen wie Terroranschläge, Krieg und Flucht auf, erzeugt eine bedrückende Art von Weltschmerz und stellt diesem junge, dickköpfige, aber aufgeweckte und gewitzte Protagonistinnen gegenüber. All das mündet in einer ausgeglichenen Symbiose aus Bedrückung und Zufriedenheit, Humor und Erotik. Azizas Gefühle werden spürbar in ihren Erzählungen transportiert, und regelmäßig von Julys teils vulgären, aber überlegten Kommentaren und Anmerkungen unterbrochen, was einen aufmerkenden Break gibt, trotz all der Schwermütigkeit den Optimismus bewahren lässt.

Das Buch hat mich mit seinem großen Gefühlsspektrum, der feinen Beobachtungsgabe und dem fesselnden Verlauf wirklich begeistert, und mir in diesen dunklen Zeiten ganz viel Sonne beschert.

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Veröffentlicht am 24.11.2020

Literarischer Leckerbissen

Der Koch
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Palak Gosht nach Punjabi-Art gegart, Aloo Gobi Adhraki mit leichter Ingwernote – für Maravan, einen tamilischen Asylbeweber und leidenschaftlichen Koch, gibt es nichts Schöneres als die indische Küche. ...

Palak Gosht nach Punjabi-Art gegart, Aloo Gobi Adhraki mit leichter Ingwernote – für Maravan, einen tamilischen Asylbeweber und leidenschaftlichen Koch, gibt es nichts Schöneres als die indische Küche. Doch in der Realität arbeitet er als Hilfskraft im Zürcher Sternelokal Chez Huwyler. Als er seiner Kollegin Andrea bei einem Rendezvous ein aphrodisisches Menü kocht, ermutigt sie ihn dazu, ein gemeinsames Catering für Liebesmenüs zu eröffnen. Zu Beginn kochen durch Vermittlung einer Sexualtherapeutin nur für Paare, die wieder das Feuer in der Beziehung zu entflammen versuchen, aber der Erfolg von „Love Food“ spricht sich bald herum: Wirtschaftsmogule, Politiker, Waffenhändler, alle wollen sich der kulinarischen – und letztlich auch physischen – Liebe hingeben. Schnell wird es Maravan zu viel, das Catering zu anrüchig, doch er braucht das Geld, um seiner Familie in Sri Lanka zu helfen.

Wer denkt, in dieser Geschichte ginge es lediglich ums Kochen, das Verführen, den feinen Gaumen, der täuscht: Martin Suter hat mit seinem unvergleichlichen schweizerischen Charme ein modernes Märchen komponiert, das unter dem Deckmantel einer seichten Liebesgeschichte intensive Themen behandelt. Neben dem damals schon länger andauernden Bürgerkrieg in Sri Lanka, der Maravans Familie direkt betrifft, beeinflussen die zeitaktuellen Geschehnisse im Jahr 2008 Handlungsverlauf und -intentionen, seien es die Wahl von Präsident Obama oder der Börsencrash der Lehman Brothers. Sprachlich brilliant und mit erzählerischer Finesse beschreibt er, wie Maravan und Andrea ihren Catering-Service etablieren, mit welchen Problemen er zu kämpfen hat und nicht zuletzt, welche grandiosen Gerichte er für „Love Food“ zaubert. Alleine bei der Vorstellung wurde mein innerer Pawlow’scher Hund wach und verlangte sehnsüchtig nach indischem Essen. Die Charaktere bilden ein bunt-diverses Potpourri und fügen sich optimal in die komplexe Handlung ein. Teils zog sich diese ein wenig in die Länge, aber letztlich hat mir die Geschichte rund um Maravan und seine Kochkünste sehr gefallen.

Vielen Dank an den @diogenesverlag für das #Rezensionsexemplar!

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Veröffentlicht am 24.11.2020

Berührende Geschichte

Dieses ganze Leben
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Werden die Dinge, die dir heute passieren, morgen weh tun? (S. 216)

Die 16-jährige Paola passt nicht in diese Welt – findet sie. Nicht in das große Haus, nicht in dieses Leben, das ihre Mutter ihr versucht, ...

Werden die Dinge, die dir heute passieren, morgen weh tun? (S. 216)

Die 16-jährige Paola passt nicht in diese Welt – findet sie. Nicht in das große Haus, nicht in dieses Leben, das ihre Mutter ihr versucht, aufzudrängen, wo tadellos auszusehen hat, erfolgreich und beliebt sein soll. Freunde hat sie keine, verbringt viel lieber die Zeit mit ihrem Bruder Richi, der im Rollstuhl sitzt. Damit sie nicht dick wird, fordert ihre Mutter von ihr, täglich mit ihrem Bruder spazieren zu gehen – und so findet sie sich jenseits der schicken Einfamilienhäuser wieder. Gemeinsam erkunden sie die Fabrikhallen und die Sozialwohnsiedlung, wo Paola das wahre, lebenswerte Leben vermutet und Antonia, einen Jungen aus ihrer Schule trifft. Hier erfährt sie schließlich mehr, als ihr lieb ist: über sich selbst und über ihre Familie.

Aus der Sicht von Paola erzählt Raffaella Romagnolo empathisch und mit jungen Gedanken und Worten, wie sie „dieses ganze Leben“ wahrnimmt. Sie schreibt aufmüpfig, keck, und spiegelt so unfassbar gut wieder, dass sie ganz anders ist als die Anderen. Häufig wirft sie popkulturelle Referenzen ein, die teils wirklich drollig sind, aber manchmal auch fehl am Platz erscheinen. Die Detailliertheit der Erzählung spricht für die wache Auffassungsgabe des Mädchens und dass sie nicht so naiv ist, wie die Erwachsenen um sie rum es vermuten würden. Ich konnte mich sehr gut in Paolas Charakter einfinden und ihre Handlungen nachvollziehen, war ich selbst ja auch in der Pubertät. Leider zogen sich manche Passagen sehr und die Erzählung schweifte oft von der eigentlichen Handlung ab. Doch das kann eigentlich nicht als Kritik angesehen werden, denn ihre Erlebnisse hat Paola für eine imaginäre Freundin aufgeschrieben, und sagt selbst von sich, dass sie beim Erzählen und Schreiben gerne abschweift; daher ist es so gesehen ein stilistisches Mittel. Insgesamt fand ich den Roman sehr unterhaltsam, wenn auch manchmal sehr anstrengend zu lesen, fordert er doch volle Konzentration der Handlung folgen zu können, den roten Faden zu bewahren.

Vielen Dank an den @diogenesverlag für das Rezensionsexemplar!

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Veröffentlicht am 24.11.2020

Toll!

Ich fühl’s nicht
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Sich zu verlieben bedeutet ja, dass man völlig machtlos ist, ohne Arme und Beine, sozusagen wie Dönerfleisch, dass (sic!) sich in einer fettigen Imbissbude immer im Kreis dreht (…).

Wieso hat der eigentlich ...

Sich zu verlieben bedeutet ja, dass man völlig machtlos ist, ohne Arme und Beine, sozusagen wie Dönerfleisch, dass (sic!) sich in einer fettigen Imbissbude immer im Kreis dreht (…).

Wieso hat der eigentlich andauernd ‘ne Neue? Alles beginnt bei Leonardo DiCaprio, der der Boulevardpresse nach in den letzten Jahren unzählige Beziehungen mit immer demselben Typ Frau hatte – doch nie hielt es für länger. Ausgehend von einer heteronormativen Liebesbeziehung geht Liv Strömquist in ihrer neusten Graphic Novel „Ich fühl’s nicht“ den möglichen Ursachen für die Kurzweiligkeit und sprunghaften Entscheidungen moderner Beziehungen im Zeitalter des Spätkapitalismus auf den Grund.
Sie zieht kluge Vergleiche zu früheren Epochen, in denen Männer* noch Gefühle zeigten und um die Gunst der Dame buhlten, während diese heutzutage eher verkopft sind, sich über jede Aussage und Geste den Kopf zerbrechen. Und was tun bei Liebeskummer, wenn die Beziehung zu scheitern droht? Anhand von Beyoncés „Irreplaceable“ analysiert sie, wie mit Herzschmerz umgegangen sollte und wie nicht, plädiert dafür, dass jede Frau zu sich selbst stehen, ihren Prinzipien treu bleiben sollte. Kritisch beäugt die Autorin Aussagen verschiedener PhilosophInnen, AutorInnen und DenkerInnen vergangener Zeiten, eine bunte Mischung aus der griechischen Antike bis hin zum viktorianischen Zeitalter, aus Lyrik und Prosa. Doch so schwerwiegend und tiefgründig die behandelten Themen auch klingen mögen, mit ihren großartigen Zeichnungen, kecken Kommentaren und popkulturellen Anspielungen transportiert sie ihre Message eindrucksvoll und voller Lockerheit und Selbstbewusstsein. Natürlich hat sie viele Aspekte verallgemeinert und überspitzt dargestellt, fordert den Leser zum Reflektieren und Diskutieren auf, trifft damit aber den aktuellen Zeitgeist und die junge Gesellschaft effektvoll. Insgesamt eine grandiose Graphic Novel – „oh the love, I feel it!“

Herzlichen Dank an den @avant_verlag!

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Veröffentlicht am 24.11.2020

Berührend und wichtig!

Herzfaden
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Wohin gehen, wenn es keinen Weg gibt? Welche Richtung schlägt man ein ohne Ziel? (S. 103)

Jeder sollte einmal reisen in das schöne Lummerland… Allerdings hatte sich das ein kleines Mädchen so nicht vorgestellt: ...

Wohin gehen, wenn es keinen Weg gibt? Welche Richtung schlägt man ein ohne Ziel? (S. 103)

Jeder sollte einmal reisen in das schöne Lummerland… Allerdings hatte sich das ein kleines Mädchen so nicht vorgestellt: Durch Zufall gerät sie nach einer Vorstellung der Augsburger Puppenkiste auf einen geheimnisvollen Dachboden, der von den hölzernen Darstellern, den Marionetten, bewohnt wird. Doch sie sind nicht alleine, denn Hatü Oehmichen, die sie alle gemeinsam mit ihrem Vater geschnitzt hat, ist bei ihnen und erzählt die Geschichte ihrer Familie und der Entstehung des transportablen Theaters. Mitten im Zweiten Weltkrieg lernte Walter, ihr Vater und Schauspieler des Augsburger Stadttheaters, in der Kriegsgefangenschaft einen Puppenschnitzer kennen und baute gemeinsam mit ihm ein Marionettentheater für die eigene Familie – bis es in der Bombennacht 1944 zerstört wird. Nach dem Krieg bauen sie es gemeinsam wieder auf, lassen die Puppenfamilie wachsen und gehören schon bald zum Kulturgut, als die Augsburger Puppenkiste die erste TV-Serie im westdeutschen Fernsehen wird.

Einfühlsam und liebevoll einerseits, erschütternd und mit intensiven Bildern auf der anderen Seite erzählt Thomas Hettche von der Entstehung des wohl bekanntesten deutschsprachigen Marionettentheaters, dem Aufwachsen und den zeitgeschichtlichen Ereignissen inmitten des Zweiten Weltkriegs. Schon früh wurde Hannelore von ihren Eltern Empathie und Wärme gelehrt, und so setzte ihre Familie inmitten all dem Elend und der Armut des Krieges alles daran, den Menschen Aufmunterung und Ablenkung zu verschaffen.
Von der Entstehung der Puppenkiste, den damals herrschenden Umständen und der zugrunde liegenden Intention der Familie Oehmichen zu erfahren, hat mich bewegt und begeistert. Der Schreibstil ist rhythmisch, angenehm zu verfolgen und der Wechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart und die sich so aufbauende Spannung erzeugen eine eingehende Grundspannung. Die liebevollen Zeichnungen von Matthias Beckmann haben die Lektüre ungemein bereichert und aufgelockert. Insgesamt hat mir der Roman besonders seiner geschichtshistorischen Tragweite und künstlerischen Elemente, aber auch der sprachlichen Gestaltung wegen unglaublich gut gefallen – nicht umsonst war „Herzfaden“ für den Buchpreis 2020 nominiert.

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