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Veröffentlicht am 14.03.2021

Starkes und aufrüttelndes Buch

Female Choice
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„Das, womit wir im Moment hadern, ist die Erkenntnis, dass die Zivilisation fast nur für eine Sorte Mensch funktioniert: den Mann.“ (3%)

Die Zivilisation hat ihren Beginn in der Landwirtschaft und dem ...

„Das, womit wir im Moment hadern, ist die Erkenntnis, dass die Zivilisation fast nur für eine Sorte Mensch funktioniert: den Mann.“ (3%)

Die Zivilisation hat ihren Beginn in der Landwirtschaft und dem damit verbundenen Sesshaftwerden der Menschen. Davor herrscht ein anderes Prinzip der „Gesellschaftsordnung“ - eines, das uns aus dem Tierreich sehr bekannt ist -, nämlich das der Female Choice:
Die Frauen wählen ihre Sexualpartner (dabei gehen 80% der Männer leer aus) und das Zusammenleben gestaltet sich um stillende Mütter und ihren Nachwuchs.

Die Zivilisation, in der wir auch heute leben, ist vom Mann gestaltet und gründet darauf, das Prinzip der Female Choice ausgehebelt zu haben.
Dabei spiegelt sich das natürliche männliche Konkurrenzbestreben in den künstlich geschaffenen Hierarchien der Gesellschaft und des Arbeitslebens wider. Allerdings können es durch ein Mittel wie Geld nun auch Männer an die Spitze schaffen, die eigentlich nicht das Zeug zum von der Frau erwählten Alphamännchen gehabt hätten. In diesem System - in der Öffentlichkeit - spielen Frauen keine Rolle. Sie werden auf die Männer aufgeteilt (jeder bekommt eine) und verschwinden in der Häuslichkeit. Dass nun im Prinzip jeder Mann mit einer Sexualpartnerin versorgt ist, sorgt weitestgehend für Ruhe und Frieden.

Meike Stoverock beschreibt so in ihrem Buch die geschichtliche Entwicklung unserer heutigen Gesellschaft. Als promovierte Biologin weiß sie aber auch die Prinzipien zu erklären, die der Sexualität der Menschen zugrunde liegen.
In ihrer Beschreibung liegt unheimlich viel Sprengkraft - ihre Analyse ist entlarvend und bestimmt auch eine bittere Pille für manch einen, der gerne am Bekannten festhalten möchte (und sei es nur gedanklich). Aber alle Behauptungen kann sie begründen und erläutern.

Für mich war die Lektüre dieses Buches nicht nur mit einem hohen Erkenntnisgewinn verbunden, sondern auch mit viel Spaß: Dieses Sachbuch ist unterhaltend und humorvoll, denn der Ton der Autorin ist frech und sehr deutlich.

Die Autorin spricht dabei viele wichtige Themen an: Religion, die moderne Lohnarbeit, Mutterschaft und die Rolle der Frau, unterschiedliche sexuelle Bedürfnisse, hormonelle Verhütung, die Errungenschaften des Feminismus…

Dass der Feminismus schon einige wichtige gesellschaftliche Verbesserungen für Frauen erreicht hat, macht sie genau so deutlich wie sie es in den zeitlichen Kontext zu setzen weiß, dass da noch vieles kommen muss und wird. Dabei fordert sie nicht, dass zum Prinzip der Female Choice zurückgekehrt wird, wie es vor dem Sesshaftwerden des Menschen vorherrschte. Denn sie sagt auch sehr deutlich, dass dieses Prinzip in unserer modernen Zivilisation für Aggressivität und Gewalt sorgen würde.

Im letzten Viertel des Buches versucht Stoverock eines Ausblick zu geben, wie eine Gesellschaft funktionieren kann, in der die Frau eine aktive Rolle hat und selbst über ihre Sexualität bestimmt. Sie nennt dabei einige Ideen - auch, um die potentielle Gewalt abzufedern (die man übrigens heute schon beobachten kann, Stichwort „Incels“). Und diese Vorschläge waren mir größtenteils eher suspekt.

Das ist auch der Grund, warum ich diesem starken und wirklich gut argumentierten Sachbuch nur vier von fünf Sternen geben möchte.

Darüber hinaus lohnt es sich aber sehr, dieses Buch zu lesen, weil es die Gedanken öffnet und Mut macht.

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Veröffentlicht am 02.02.2021

Ein Zoom-Bilderbuch mit wichtiger Aussage

Von riesengroß bis klitzeklein
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„Doch manche Probleme sind riesengroß. Am besten geht man sie gemeinsam an.“

Sabine Rothmund hat ein ganz besonderes Bilderbuch geschaffen: Seite für Seite zoomen wir uns weiter raus, verändern die Perspektive, ...

„Doch manche Probleme sind riesengroß. Am besten geht man sie gemeinsam an.“

Sabine Rothmund hat ein ganz besonderes Bilderbuch geschaffen: Seite für Seite zoomen wir uns weiter raus, verändern die Perspektive, verlieren aber nie den Zusammenhang zum ersten Bild. Wir beginnen auf einer Wiese zwischen lauter Insekten, landen als Aufdruck auf einer Milchtüte, die im Ozean schwimmt, auf einer Zeitung die als Verpackungsmaterial genutzt wird und schließlich auf einer Briefmarke, die auf einer Postkarte klebt und an einem Luftballon hoch hinaus fliegt.

Dieses Buch lebt von seinen Bildern, denn es gibt im eigentlichen Sinne keine Geschichte, die erzählt wird. (Dabei muss ich leider anmerken, dass die Bilder zwar ganz nett, aber in meinen Augen keine besonders guten Illustrationen sind.) Die Texte im Buch sind sehr kurz - viele Doppelseiten kommen sogar ganz ohne Texte aus.

Und doch ist die Aussage dieses Bilderbuches eine große und wichtige:

Jedes Detail steht im Zusammenhang zum Großen und Ganzen. Jede Kleinigkeit bewegt und verändert das große Gefüge.

Als Erwachsene bin ich begeistert, von diesem kunstvollen Buch. Ich finde es toll, wie mit den Zusammenhängen gespielt wird und ganz nebenbei deutlich gemacht wird, dass wir alle etwas zum Umweltschutz beitragen können.

Aber ist das wirklich ein Bilderbuch für Kinder? Für die Allerkleinsten bestimmt noch nicht, auch wenn es kaum Text enthält. Mein Sohn wird in einigen Monaten fünf und gehört damit zur Zielgruppe des Buches. Für ihn war es im ersten Moment schwierig, den Zoom-Effekt auf den analogen Buchseiten zu erkennen. Nachdem er das verstanden hatte, fand er das Buch faszinierend. Er blätterte es dreimal durch und nun wird es wohl das Regal hüten.

Denn dieses Buch lebt von seinem Überraschungseffekt und von der genialen Idee, die ihm zugrunde liegt.

Auch bezweifle ich, dass meinem Sohn klar geworden ist, dass es hier um Umweltschutz geht. Es sind viele Erklärungen notwendig. Aber dass eine Milchtüte nichts im Meer verloren hat und dass es durch sie gefährlich für den Wal im Bild wird, das erkennt jedes Kind auf den ersten Blick.

Deshalb vergebe ich auch - trotz der Kritik - verdiente fünf Sterne für dieses wunderbare Bilderbuch. Hier wurden eine tolle, neue Idee und ein wichtiges Thema sehr kunstvoll umgesetzt. Und wenn der faszinierte junge Leser auch nur am Rande mitnimmt, dass Müll nicht im Meer landen sollte, dann ist doch auch schon viel gewonnen.

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Veröffentlicht am 06.11.2020

Ein herausragender historischer Roman!

Judith und Hamnet
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Jedes Leben hat seinen Kern, seinen Dreh- und Angelpunkt, von dem alles ausgeht, zu dem alles zurückkehrt. Für die abwesende Mutter ist es dieser Moment: der Junge, das leere Haus, der verwaiste Hof, der ...

Jedes Leben hat seinen Kern, seinen Dreh- und Angelpunkt, von dem alles ausgeht, zu dem alles zurückkehrt. Für die abwesende Mutter ist es dieser Moment: der Junge, das leere Haus, der verwaiste Hof, der ungehörte Schrei. (2%)

Agnes ist eine eher wilde und ungezügelte junge Frau. Sie trägt ihr Haar offen und zieht mit ihrem Falken durch die Wälder. Sie ist naturverbunden, unabhängig und unberührt von der Meinung anderer und hat die Gabe Dinge zu sehen, die anderen verborgen bleiben. Sie nutzt diese Gabe und ihr Wissen über Heilkräuter, um den Menschen zu helfen.
Als ihr eines Tages der Lateinlehrer ihrer Brüder begegnet, wissen die beiden schnell, dass sie entgegen der Meinung ihrer Familien zusammenleben möchten. Sie heiraten, ziehen zu Agnes’ Schwiegereltern und bekommen drei Kinder.

Agnes steht absolut sicher in ihrem Leben. Sie sorgt dafür, dass ihr Mann nach London ziehen und dort arbeiten kann, weil sie spürt, dass ihn sein Elternhaus einengt und unglücklich macht. Selbst bleibt sie mit ihren drei Kindern aber bei ihren Schwiegereltern.

„Sie weiß noch, dass sie einmal eine Frau war, für die sich das Leben und alles, was es für sie bereithielt, wie eine Gewissheit anfühlte; sie hatte ihre Kinder, sie hatte ihren Mann, sie hatte ihr Zuhause.“ (81%)

Nur die Sorge um Judith, ihre jüngste Tochter und Zwillingsschwester von Hamnet, treibt sie seit deren Geburt um. Judith ist ein schwaches, kleines Kind und Agnes fürchtet immer wieder um Judiths Leben. Als ihre Tochter im Alter von elf Jahren die Beulenpest bekommt, setzt Agnes alles dran, sie zu heilen, den Tod irgendwie abzuwenden. Ihr entgeht dabei, dass auch Hamnet sich mit der schrecklichen Krankheit angesteckt hat…

Atemlos liest man diese spannende und etwas mystische Geschichte über Trauerbewältigung und eine eine ganz besondere Partnerschaft. Vor allem ist dieser Roman aber das beeindruckende Porträt einer eigenwilligen Frau, die im England des 16. Jahrhundert ihren Weg geht. Einer Mutter, die ihre Kinder liebevoll großzieht und die so einen schrecklichen Schicksalsschlag hinzunehmen hat. Sie, die immer glaubte, die Zügel selbst in der Hand zu haben.

O’Farrell erzählt nebenbei eine unkitschige, wunderschöne Liebesgeschichte. Und, ach ja, der namenlose Ehemann ist übrigens kein Geringerer als William Shakespeare.
Doch hier wird Agnes’ Geschichte erzählt, ihr berühmter Mann ist ein Teil ihrer Geschichte. Und das ist irgendwie eine ganz bezaubernde, starke Perspektive! Der Name Shakespeares glitzert im Hintergrund, aber O’Farrell hat es nicht nötig, ihn auch nur ansatzweise aus seiner Nebenrolle herauszuholen oder gar zu benennen, denn ihre Protagonistin ist groß und wichtig genug, um ihre Geschichte selbst zu tragen.

Manchmal „zoomt“ die Erzählperspektive den Leser sogar in eine Außenansicht und wir erfahren zum Beispiel, wie sich die Pest ihren Weg bin hin zu Judith und Hamnet gebannt hat. Oder aber, wie Hamnet den Weg in die Theaterwelt Londons gefunden hat und zu einem Stück Weltliteratur wurde.

„Judith und Hamnet“ ist mein literarisches Highlight für dieses Jahr und von Maggie O’Farrell muss ich unbedingt mehr lesen. Ein herausragender historischer Roman!

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Veröffentlicht am 05.10.2020

Agatha in Bestform

Agatha Raisin und der tote Auftragskiller
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»Ich bin übrigens selbst Detektivin«, sagte Agatha. »Ach ja?« Don Quijote zeigte einen Funken Interesse. »Und bei welcher Polizeistelle in England arbeiten Sie?« »Bei keiner. Ich meine, ich eröffne meine ...

»Ich bin übrigens selbst Detektivin«, sagte Agatha. »Ach ja?« Don Quijote zeigte einen Funken Interesse. »Und bei welcher Polizeistelle in England arbeiten Sie?« »Bei keiner. Ich meine, ich eröffne meine eigene Detektei.« Das Interesse erlosch. »Warten Sie hier«, sagte der Mann. (3%)

Endlich ist es so weit! Agatha Raisin beschließt den großen Schritt zu wagen und ihre eigene Detektei zu eröffnen. Vorbei sein sollen die Zeiten, in denen sie nur nebenbei Fälle löst und dabei nicht ernst genommen geschweige denn entlohnt wird.
Doch die Entzauberung dieses Vorhabens folgt sogleich: Zuerst findet sie keine passende Assistentin - stattdessen drängt sich ihr ihre neue Nachbarin Emma für diese Position auf - und dann ist ihr erster „Fall“ nur eine entlaufene Katze!
Bald schon kommen aber auch die ersten echten Fälle rein und Agatha gerät nicht nur in Stress sondern auch selbst in die Schusslinie...

Dieser Agatha Raisin Band bringt frischen Wind in die Buchreihe! Agatha ist inzwischen in Carsley absolut Zuhause. Sie hat gerade keine lästigen Männergeschichten am Hals und sie versucht sich durch ihre eigene Detektei mehr Ansehen zu verschaffen.
Es kommen interessante neue Figuren ins Spiel, aber auch unsere alten Bekannten wie Roy, Bill Wong und Mrs. Bloxby tauchen auf.

Ein sehr unterhaltsamer und charmanter kleiner Krimi. Agatha ist liebenswert-schrullig wie immer. Wer die Serie schon länger mitverfolgt, wird sich über die kleine Kursänderung freuen. Aber auch als Neueinsteiger in die Buchreihe kann man diesen Band genießen und Agatha kennenlernen.

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Veröffentlicht am 16.09.2020

Eine schöne Liebesgeschichte

Just Like You
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„Die Zukunft des Landes ist für dich sinnlos?« »Ziemlich. Sind wir nicht sowieso alle am Arsch?« »Warum das denn?« »Wenn der Meeresspiegel um dreißig Zentimeter steigt und wir alle überschwemmt werden? ...

„Die Zukunft des Landes ist für dich sinnlos?« »Ziemlich. Sind wir nicht sowieso alle am Arsch?« »Warum das denn?« »Wenn der Meeresspiegel um dreißig Zentimeter steigt und wir alle überschwemmt werden? Das ist mir nicht egal.“ (85%)

Das sagt Joseph, 22, zu Lucy, 42, als sie ihn fragt ob er für oder gegen den Brexit stimmen wird. Die beiden kommen aus unterschiedlichen sozialen Milieus, haben unterschiedliche Hautfarben und einen großen Altersunterschied. Doch sie verlieben sich ineinander und beginnen eine Beziehung.

Natürlich ist das eine Beziehung, die auf recht wackeligen Beinen steht. Vor allem Lucy denkt zunächst viel über all die möglichen Probleme dieser Partnerschaft nach. Und die Probleme sind mannigfaltig: Sie bewegen sich in unterschiedlichen Kreisen und befinden sich in unterschiedlichen Lebenssituationen. Ganze Lebensplanungen wie z.B. eine mögliche Familiengründung auf Josephs Seite könnten in dieser Beziehung nicht umgesetzt werden. Hinzu kommt, dass die beiden oftmals nicht auf Augenhöhe kommunizieren und sind.

Die Darstellung dieser komplexen Partnerschaft und Liebe finde ich recht gelungen. Sie ist ganz und gar unkitschig. Wir sehen hier zwei Menschen, die sich lieben - egal, wie unterschiedlich sie sind - und die versuchen, diese Liebe zu leben.

Deshalb drei von fünf Sternen.

Doch dann kommt noch eine ganze Menge an wirklich großen Themen hinzu. Allen voran der Brexit. Leider bleibt dieses Thema im Roman ziemlich auf der Strecke. Am Ende sind die Aussagen dazu dann etwa: Leute aus der Arbeiterschicht sind für den Austritt, Bildungsbürger nicht. Zwei Kreuze zu machen ist besser als gar nicht wählen zu gehen. Und Trump ist ein größeres Problem als der Brexit.

Wenn Hornby einen jungen Engländer mit dunkler Hautfarbe über den Brexit nachdenken lässt und dabei aufzeigt, dass Rassismus viele Facetten haben kann, und warum der EU-Austritt auch für unter dem Rassismus leidende Briten in Frage kommen konnte - dann ist das wiederum sehr klug und spannend.

Es kommen aber noch Themen wie das Altern, Scheidung, Trennungskinder, Alkoholismus, Musik, das Schulwesen und das Bildungssystem hinzu. Ach ja, und dann noch... Sex, Sex, Sex. (Darüber wird die ganze Zeit geredet, ohne dass es wirklich spannend wäre oder was Aufregendes passieren würde.)

Der Roman will zu viel auf einmal und Hornby bleibt hinter seinen Möglichkeiten zurück. Finde ich. Und bin deshalb ein bisschen enttäuscht.

Doch wie gesagt: Die Liebesgeschichte ist ganz schön und dafür lohnt sich der Roman dann doch.

„Sie war glücklich, glücklich in einer Blase, und der einzige Grund, sie platzen zu lassen, war, dass Blasen nicht das wahre Leben waren. Aber Blasen ließen das Leben erträglich werden, und der Trick bestand darin, so viele wie möglich zu machen.“ (33%)

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