Profilbild von zeilen_echo

zeilen_echo

Lesejury-Mitglied
offline

zeilen_echo ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit zeilen_echo über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 03.11.2025

Zwischen Fußball und Verdrängung

Erde
0

Mit "Erde" legt John Boyne den zweiten Band seiner geplanten Tetralogie vor. Thematisch ist dieser unabhängig vom ersten Teil und für sich allein lesbar.

Im Zentrum der Geschichte steht Evan, ein erfolgreicher ...

Mit "Erde" legt John Boyne den zweiten Band seiner geplanten Tetralogie vor. Thematisch ist dieser unabhängig vom ersten Teil und für sich allein lesbar.

Im Zentrum der Geschichte steht Evan, ein erfolgreicher Fußballprofi, der eigentlich Künstler werden wollte. Aufgewachsen auf einer kleinen irischen Insel, geprägt von einem homophoben, toxisch-männlichen Vater und einer passiven, zugleich liebevollen Mutter, entwickelt Evan früh das Gefühl, in seinem eigenen Leben gefangen zu sein.

Boyne erzählt die Geschichte in zwei Ebenen: den Rückblicken auf Evans Kindheit und Jugend sowie den Szenen in der Gegenwart, in denen er vor Gericht steht, weil er die Vergewaltigung einer Frau durch seinen Freund und Teamkollegen gefilmt haben soll.

Thematisch greift der Roman vieles auf: toxische Männlichkeit, das Schweigen in Familien, die Fassade von Moral im Profisport und die Abhängigkeit vom Geld. Gerade die scheinheilige Haltung des Vereins, der sich offiziell distanziert, insgeheim aber auf einen Freispruch hofft, liest sich wie ein bitterer Kommentar auf Macht und Doppelmoral.

Boynes Sprache bleibt kühl und knapp, was hervorragend zum Protagonisten passt, der nie gelernt hat, Gefühle zu zeigen. Diese Nüchternheit macht das Buch gleichzeitig bedrückend und eindrücklich. Evan selbst ist für mich eine eher ambivalente Figur: Man versteht ihn, ohne ihn aber wirklich zu mögen.

Kritisch anzumerken ist, dass "Erde" noch mehr Tiefe vertragen hätte: Manche Nebenfiguren blieben blass, und das Ende kommt fast zu schnell. Dennoch überzeugt der Roman durch seine Präzision und thematische Schärfe.

Mein Fazit: Ein intensiver, bedrückender Roman über toxische Strukturen im Sport und die Folgen einer Kindheit ohne Zuneigung. Empfehlenswert für alle, die gesellschaftskritische, knappe, auf den Punkt erzählte Romane schätzen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 14.10.2025

Ein Buch, das mich zerrissen zurückgelassen hat…

Haus zur Sonne
0

Selten hat mich ein Buch so ratlos gemacht wie „Haus zur Sonne“. Nicht, weil es mich emotional überfordert hätte sondern, weil ich bis zuletzt nicht wusste, was ich eigentlich davon halte.

Der Roman erzählt ...

Selten hat mich ein Buch so ratlos gemacht wie „Haus zur Sonne“. Nicht, weil es mich emotional überfordert hätte sondern, weil ich bis zuletzt nicht wusste, was ich eigentlich davon halte.

Der Roman erzählt von einem Mann, der seit Jahren an einer bipolaren Störung leidet. Zwischen manischen Höhenflügen und tiefsten Depressionen verliert er alles: Freunde, Job, Geld, sich selbst.
Er ist müde vom Leben und landet schließlich im „Haus zur Sonne“, einer staatlich geförderten Einrichtung, in der Menschen ihre letzten Wünsche in realitätsnahen Simulationen erleben dürfen, bevor sie aus dem Leben scheiden.
Die Idee hat mich sofort gepackt. Sie erinnerte mich an „Die Mitternachtsbibliothek“ nur in realer, härter und konsequenter.

Auch der Aufbau des Buches mit seinen kurzen Kapiteln und dem Wechsel zwischen Klinikalltag und Simulationen funktioniert gut. Das Buch liest sich flüssig, trotz seines schweren Themas.

Aber irgendwann verlor es mich…

Die Simulationen, anfangs faszinierend, begannen sich zu wiederholen. Jede versprach Erkenntnis doch am Ende stand immer dieselbe Leere.
Vielleicht ist genau das der Punkt: dass sich Leid und Hoffnung eben nicht auflösen. Trotzdem blieb bei mir das Gefühl, dass hier erzählerisch mehr möglich gewesen wäre.

Und dann das Ende. Ohne zu spoilern: Es kam zu plötzlich, zu offen, zu wenig „auserzählt“. Es soll wohl zum Nachdenken anregen, aber der entscheidende Impuls kam bei mir erst im Gespräch mit anderen Leser*innen – nicht durchs Buch selbst.

Trotzdem: „Haus zur Sonne“ ist ein gutes und wichtiges Buch. Es zeigt psychische Erkrankungen ungeschönt, nahbar und erschütternd realistisch. Es spricht über Lebensmüdigkeit, Selbstbestimmung und die Frage, was ein „würdevolles Ende“ überhaupt sein kann.
Nur erzählerisch bleibt es für mich ambivalent – irgendwo zwischen „Inception“ und „Mitternachtsbibliothek“, zwischen Faszination und Überdruss.
Ich bin fasziniert, aber nicht begeistert.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 14.10.2025

Ein Buch, das mich schon auf den ersten 30 Seiten zum Weinen gebracht hat. Und das passiert mir selten…

Working Class Girl
0

Worum geht’s?
In ihrer Autobiografie erzählt Katriona O’Sullivan von ihrem Aufwachsen in Großbritannien/Irland geprägt von Klassismus, Armut, Diskriminierung und dem ständigen Wegschauen der Gesellschaft. ...

Worum geht’s?
In ihrer Autobiografie erzählt Katriona O’Sullivan von ihrem Aufwachsen in Großbritannien/Irland geprägt von Klassismus, Armut, Diskriminierung und dem ständigen Wegschauen der Gesellschaft. Der Titel „Working Class Girl“ ist dabei für meinen Geschmack noch viel zu harmlos - ein absolutes Understatement.
Wenn das Leben ein Computerspiel wäre, dann hätte Katriona auf dem höchsten Schwierigkeitsgrad gespielt!
Eltern abhängig von Drogen und Alkohol, völlige Verwahrlosung, Armut, Gewalt, kaum Liebe oder Geborgenheit. Und trotzdem bzw. vielleicht auch gerade deswegen schreibt sie mit einer beeindruckenden Klarheit über ihr Leben.

Das Buch ist schonungslos ehrlich, ohne jede Romantisierung. Katriona reflektiert ihr Leben mit einem Blick, der weder Selbstmitleid noch Sentimentalität kennt. Wir begleiten sie durch all die Stationen ihres Lebens – erleben Zurückweisung, aber auch Begegnungen mit Menschen, die ihr helfen. Und genau diese Momente haben mich am meisten berührt: Die, die selbst kaum etwas haben, teilen, was sie können. Während andere wegsehen oder nur helfen, um sich moralisch überlegen zu fühlen.

Ich habe mitgelitten, mich mitgefreut und hätte an manchen Stellen am liebsten laut geschrien, wenn sich die nächste Katastrophe anbahnte.

Fazit:
Ein absolut bewegendes Buch mit einer klaren, wichtigen Botschaft:
Wir werden nicht alle mit den gleichen Chancen geboren. Und es wird Zeit, dass wir das endlich anerkennen und hinschauen, wo die Probleme wirklich liegen!
Denn so viele Menschen fallen durchs Raster, nicht weil sie zu wenig können, sondern weil ihnen schlicht die Mittel fehlen, überhaupt anzufangen.
Und btw: Wieder einmal ein Buch aus dem @kjona.verlag, das mich komplett umgehauen hat.
Großartige Arbeit – und ein großes Danke für diese Veröffentlichung.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 06.10.2025

Klassismus trifft Skurrilität

Schwanentage
0

In „Schwanentage“ beleuchtet Zhang Yueran das Thema Klassismus in China am Beispiel eines Kindermädchens, das den Sohn ihrer wohlhabenden Arbeitgeber entführt, um Lösegeld zu erpressen. Doch der Plan scheitert, ...

In „Schwanentage“ beleuchtet Zhang Yueran das Thema Klassismus in China am Beispiel eines Kindermädchens, das den Sohn ihrer wohlhabenden Arbeitgeber entführt, um Lösegeld zu erpressen. Doch der Plan scheitert, als die Familie just in diesem Moment wegen Korruptionsvorwürfen verhaftet wird. Was folgt, ist eine dichte, teilweise bedrückende Erzählung über soziale Ungleichheit, Schuld und Machtverhältnisse.

Man wird sehr abrupt in die Geschichte hineingeworfen und begegnet einer Reihe teils skurriler Momente (etwa einer Gans, die der Junge von einem Tiertransport „rettet“ und liebevoll „Schwan“ nennt). Dieses absurde Detail sorgt zwar für eine gewisse Leichtigkeit, wirkte aber auf mich eher deplatziert und bricht die Ernsthaftigkeit des Themas. Insgesamt hätte ich mir etwas mehr Tempo und eine stärkere Fokussierung auf die gesellschaftliche Dimension gewünscht.

Zhang Yuerans Stil ist sehr beschreibend und detailreich, was gut zur introspektiven Erzählweise passt. Besonders eindringlich fand ich den Hintergrund der Protagonistin Yu Ling:
Ihr Weg zeigt deutlich, wie ungleich Bildungschancen verteilt sind und wie selbstverständlich wir hier in Deutschland oft Privilegien betrachten, die anderswo unerreichbar bleiben!

Trotz dieser spannenden Ansätze konnte mich das Buch emotional nicht ganz abholen. Das Ende ließ mich etwas ratlos zurück, und der skurrile Ton hat den ernsten Kern für mich teilweise überdeckt.

Fazit: „Schwanentage“ ist empfehlenswert für alle, die einen ersten Einblick in den chinesischen Klassismus suchen und sich für soziale Realitäten unterhalb der Oberschicht interessieren. Wer jedoch auf der Suche nach Tiefgang und klarer gesellschaftlicher Analyse ist, oder mit surrealen Elementen wenig anfangen kann, dürfte hier nicht ganz auf seine Kosten kommen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 22.09.2025

Fünf Menschen, ein Wochenende, ein Haus – und jede Menge unausgesprochene Wahrheiten.

Schöne Scham
0

In Schöne Scham prallen unterschiedliche Beziehungen, Herkunft und Selbstbilder aufeinander.
Erzählt wird abwechselnd aus den Perspektiven von drei Frauen: Amalia, Kata und Ola. Dieser Wechsel macht den ...

In Schöne Scham prallen unterschiedliche Beziehungen, Herkunft und Selbstbilder aufeinander.
Erzählt wird abwechselnd aus den Perspektiven von drei Frauen: Amalia, Kata und Ola. Dieser Wechsel macht den Roman sehr zugänglich, weil man nah an ihren Gedanken ist – und dabei erkennt, wie unterschiedlich Wahrnehmungen sein können.

Amalia stammt aus einfachen Verhältnissen und blickt mit Staunen (und auch Unsicherheit) auf den Wohlstand ihrer Freundin Kata. Klassismus ist damit zwar nicht das zentrale Thema des Romans, aber er durchzieht die Geschichte wie ein unterschwelliger Ton.

Im Fokus stehen vor allem die Beziehungsdynamiken:

– Amalias Partner Christian wirkt nach außen liebevoll, offenbart aber schnell ein hoch toxisches, narzisstisches Muster. Dass seine Herkunft dabei mitbeleuchtet wird, macht ihn komplexer und gleichzeitig noch unangenehmer.

– Besonders spannend fand ich, wie klar gezeigt wird, dass Freund:innen zwar oft merken, wenn etwas nicht stimmt, aber trotzdem wegsehen. Ein heikles, wichtiges Thema.

– Kata und Lenny, das vermeintlich „schlechtere“ Paar, entpuppen sich dagegen als Beispiel dafür, dass Alltag nicht gleich Stillstand ist. Ihre gesunde Kommunikation fand ich sehr erfrischend.

– Mein persönliches Highlight: Ola. Selbstbewusst, glücklich single und die Einzige, die Amalias Zwickmühle wirklich wahrnimmt. Sie ist eine Figur, die zeigt, dass Selbstbestimmung nicht nur möglich, sondern kraftvoll sein kann. Schade nur, dass ihre eigene Story um „Lotti“ offen bleibt.

Fazit: Schöne Scham ist leicht zugänglich geschrieben, hat mich komplett mitgerissen und regt dazu an, Beziehungsdynamiken neu zu betrachten. Wo fängt Fürsorge an und wo schlägt sie in Kontrolle oder sogar Gewalt um? Der Roman zeigt, dass nichts so ist, wie es scheint, und dass wir vorsichtig sein sollten, Beziehungen von außen vorschnell zu bewerten.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere