Berührendes Buch über familiäre Prägung
1. Januar
Sie will keine tränenreiche Komödie. Sie will schwitzen und blauen Himmel. Zuhause ist das Wetter unzuverlässig, deshalb ist sie hier.
4. Januar
Sie hat immer davon geträumt, dass ihr jemand ...
1. Januar
Sie will keine tränenreiche Komödie. Sie will schwitzen und blauen Himmel. Zuhause ist das Wetter unzuverlässig, deshalb ist sie hier.
4. Januar
Sie hat immer davon geträumt, dass ihr jemand ein One-Way-Ticket schenkt und ihr sagt: „Herzchen, jetzt genieß mal dein Leben“. Sie hätte es sich einfach selbst kaufen können und jetzt hat sie es gemacht.
10. Januar
War tanzen, herrliches Jazz-Gejaule. Wut war immer ihr Motor, aber jetzt ist er still. Wut, Traurigkeit und Verzweiflung. Will jetzt raus aus dem Dunkeln auf niemanden mehr achten müssen. Schluss mit Gefallen, abwarten, sich absprechen. Sie will gehen, wann und wohin sie will.
Wie oft hat sie genickt, gelächelt, sich geduckt, weggeguckt, mitgespielt. Sich die ganze Rotze der anderen reingezogen, das ganze Gejammer, als sei sie der diensthabende Mülleimer. Jetzt will sie wissen, wer sie ohne die ganzen Erwartungen ist. Aber hält sie sich aus?
Rückblick:
1910 wurde Anna in einer Kleinstadt am Meer geboren, in eine Familie, in der viel getrunken und gebrüllt wurde. Sie bewunderte Gustav Mahler und träumte davon, auch Komponist zu werden und auch eine Villa am Meer zu haben. Ihr Kompromiss: Mit sechzehn zog sie aus und begann eine Schneiderlehre.
Rosa wurde 1908 geboren, ihr Lieblingsbuch war die Bibel. Sie betet rund um die Uhr. Ihr älterer Bruder kam nicht aus dem Krieg zurück, ihr Verbündeter und Schutz gegen den Vater. Sie heiratete pflichtschuldig den Kollegen des Vaters und gebar 1932 Viola. Das Leben als Frau und Mädchen war riskant, daher senkte Rosa den Blick, vermied jegliche Kontakte und sperrte Viola in den elterlichen Garten.
Fazit: Carolin Würfel hat eine Protagonistin geschaffen, die genug von ihrer Anpassungsfähigkeit hat, die jeden sieht nur sich selbst nicht. Im Laufe ihres Lebens hat sie viel Wut und Traurigkeit angestaut. Über das Stilmittel der Tagebucheinträge schenkt die Autorin uns einen Einblick in das aufgewühlte Innenleben der namenlosen Ich-Erzählerin. Tagebucheinträge und Rückblicke, in das Erleben zweier Generationen von Müttern und Töchtern, wechseln sich ab. Die Zeiten des Krieges und der Verluste, der strafenden Väter und ignoranten Männer unterstreichen die Charakterentwicklung aller Frauen. Zeigt, wie durch Erziehung und Prägung Frauen systematisch klein gehalten wurden. Während die letzten Generationen keine Möglichkeit hatten, sich zu verändern, ihren Groll herunterschluckten oder austeilten, stimmt die letzte Generation hoffnungsvoll. Doch es bleibt schwierig, alte Muster abzulegen und neue Wege zu finden. Die Geschichte ist gut gemacht, steigert sich bis zum Schluss und ruft heftige Reaktionen in mir hervor. Die letzte Erkenntnis
Ich bin auch nur das Kind einer Mutter. S. 211
hat mich zu Tränen gerührt, mir ein tiefes Verständnis geschenkt für meine eigene Mutter und für mich selbst. Das war sehr verbindend und versöhnend. Hundertpro lesenswert!