Die "Spiegelreisende"-Reihe lag lange Zeit auf meinem SuB, nun habe ich mich endlich dem ersten Band gewidmet. "Die Verlobten des Winters" entführt in eine faszinierende, fremdartige Welt voller Illusionen, Intrigen und Magie, die mit undurchsichtiger Handlung, interessanten Figuren und originellen Ideen überzeugt.
Auch optisch macht "Die Verlobten des Winters" einiges her. Das Cover ist nicht nur wunderschön illustriert, sondern fängt mit seinem kühlen Blau und der schwebenden Arche perfekt die geheimnisvolle, winterliche Stimmung des Romans ein. Die filigranen Details und das märchenhaft-verspielte Design spiegeln das fantasievolle Setting wider und machen das Buch zu einem echten Hingucker im Regal. Auch innen überzeugt die Gestaltung – mit einer stilvollen Kapitelgestaltung und einer Karte der Archen, die beim Eintauchen in diese neue Welt sehr hilfreich ist.
Erster Satz: "Am Anfang waren wir eins."
Apropos neue Welt, gleich vorweg: Das Worldbuilding ist zweifellos eine der größten Stärken des Romans und eines der kreativsten und originellsten im Fantasy-Genre. Christelle Dabos nimmt uns in ihrer vierbändigen Reihe mit in eine Welt, in der die Menschen nach dem "Riss" auf einzelnen fliegenden Archen leben, die über der brodelnden Erdoberfläche dahinziehen. Jede dieser Archen ist von Familien bewohnt, die jeweils einem mächtigen Hausgeist entstammen und dessen magische Fähigkeiten geerbt haben. Unsere Hauptfigur Ophelia stammt von der Arche Anima, auf der die sogenannten Animisten leben, die Einfluss auf Gegenstände haben. Der Pol, eine andere Arche auf die sie zur Eheschließung mit einem fremden Verlobten geschickt wird, ist dagegen eine kalte, von Misstrauen geprägte Winterlandschaft, in der feindlich gesinnte Clans mit telepathischen und illusionistischen Kräften um Macht kämpfen. Auch wenn vieles in diesem Kosmos zunächst nur angedeutet bleibt, ist bereits im Auftaktband ein spannendes und äußerst vielversprechendes Fundament für die kommenden Bände gelegt.
"Eure Warnungen waren nur Worte für mich. Ich musste Eure Welt mit meinen eigenen Augen sehen."
So einnehmend die einzelnen Grundideen und Handlungselemente aber auch sind, die Umsetzung ist leider stellenweise langatmig. Auf den über 500 Seiten passiert auf der reinen Handlungsebene überraschend wenig: Die Geschichte konzentriert sich fast ausschließlich auf Ophelias Ankunft auf der Arche Pol und ihre schrittweise Erkundung des geheimnisvollen Mondscheinpalastes verkleidet als Page. Zwar gelingt es der Autorin, durch eine dichte Atmosphäre einen subtilen Spannungsbogen zu erzeugen, dieser entsteht jedoch eher durch das Gefühl permanenter Verlorenheit und einer Vielzahl an offenen Fragen als durch konkrete Ereignisse. Erst auf den letzten Seiten nimmt die Handlung merklich an Fahrt auf. Die zahlreichen originellen Einfälle und das ausgeklügelte Weltenkonzept gefallen zwar sehr, können aber die Trägheit der Erzählung nicht vollständig ausgleichen, sodass ich dafür definitiv etwas abziehen muss.
"Ophelia war nichts weiter als eine Schachfigur auf einem Spielbrett, dessen Regeln sie nicht kannte. Sie war fortgerissen worden aus ihrem alten Leben, in eine Welt voller Intrigen, Geheimnisse und unerwarteter Feinde. Doch selbst die kleinste Figur kann das Spiel verändern."
Auch der Schreibstil trägt zum charmanten, aber doch recht konfusen Gesamteindruck bei. Christelle Dabos erzählt schlicht, aber flüssig aus der personalen Erzählperspektive von Ophelia, die gelegentlich durch rätselhafte Einschübe unterbrochen wird. Diese "Fragmente" werfen viele Fragen über den Ursprung des "Risses", die Bücher der Hausgeister und Ophelias Rolle in der Welt auf und sorgen für zusätzliche Spannung, verwirren zu dem frühen Zeitpunkt der Geschichte allerdings auch sehr. Interessanterweise merkt man dem Text an einigen Stellen außerdem an, dass es sich hier um eine Übersetzung aus dem Französischen handelt - es wirkt auf der einen Seite sprachlich sperrig, auf der anderen aber auch voll von französischem Charme.
"Um durch Spiegel zu gehen, muss man sich selbst gegenübertreten.”
Zudem geizt die Autorin mit Erklärungen zum Magiesystem und bleibt auch bei der Introspektion Ophelias eher sparsam. So entsteht der Eindruck einer extrem zurückhaltenden, geradezu übertrieben unaufdringlichen Protagonistin - sowohl was ihre eher schüchterne Persönlichkeit als auch ihre passiven Handlungen und ihre schleichende Art, sich uns Leserinnen zu öffnen angeht. Damit ist sie eine eher ungewöhnliche Heldin einer Fantasy-Reihe, wächst einem aber gerade durch ihre stille Art und ihre zögerliche Entwicklung schnell ans Herz. Mit ihrer Fähigkeit, durch Spiegel zu reisen und durch das Berühren von Gegenständen deren Vergangenheit zu "lesen" sowie ihren magischen Begleitern wie ihrem lebendigen Schal und ihrer Brille, die nach Gemütslage die Farbe wechselt, hat sie einfach einen Charme, dem man sich nicht entziehen kann.
Die Nebenfiguren sind hingegen alles, was sie nicht ist: Wo sie eine stille Beobachterin ist, die vieles über sich ergehen lässt, sind sie laut und aufmerksamkeitsheischend aktiv, wo sie ehrlich und offen ist, sind sie verschlagen, während man sie sofort versteht, sind die Nebenfiguren allesamt komplex und schwer greifbar. Egal ob Ophelias Verlobter Thorn, dessen Tante Berenilde, der kindliche Kavalier, der Botschafter Archibald, oder der Familiengeist Faruk, alle haben unterschiedliche Motive, die sie erst nach und nach enthüllen, sodass man keinem trauen kann und nie weiß, ob hinter einer fragwürdigen Handlung reine Boshaftigkeit oder ein verborgener Grund steckt. Dadurch haben wir zunächst erstmal keine weiteren Identifikationsfiguren neben Ophelia, aber viele interessante Dynamiken, die ich gerne in den Folgebänden weiter erkunden möchte.
"Das ist es, was ich vor allem bin, mehr noch als ein Paar Hände", schloss Ophelia, in dem sie die Finger aus dem Glas zog. "Ich bin eine Spiegelreisende." Von einer neuen Klarheit erfüllt, hob Ophelia ihren Schirm auf. Jetzt war sie bereit, dieser Welt der Unwahrheiten, diesem Labyrinth der Trugbilder die Stirn zu bieten, und sie war fest entschlossen, sich nie mehr darin zu verlieren.”
Generell bin ich nun sehr gespannt, wie es nach dem explosiven Ende nun weitergehen wird und hoffe sehr, dass Band 2, "Die Verschwundenen vom Mondscheinpalast" von Beginn an etwas temporeicher erzählt sein wird!
Fazit
Die Verlobten des Winters ist ein ungewöhnlicher Reihenauftakt, der weniger durch rasante Action als durch seine Atmosphäre, sein vielschichtiges Weltenkonzept und die leise Stärke seiner Hauptfigur überzeugt. Wer Geduld mitbringt und sich gerne in dichte, magische Welten fallen lässt, wird hier auf seine Kosten kommen – auch wenn der erzählerische Anlauf etwas lang gerät.