Wo wir landen könnten, wenn wir so weitermachen wie bisher
Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und jagen Sachen in die Luft. Schon dieser sehr gelungene Titel, und diese Tatsache, macht neugierig auf das Buch. Wer sind die Mädchen und warum jagen sie Sachen ...
Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und jagen Sachen in die Luft. Schon dieser sehr gelungene Titel, und diese Tatsache, macht neugierig auf das Buch. Wer sind die Mädchen und warum jagen sie Sachen in die Luft, was bringt sie dazu? Und wozu führt das alles?
Wir befinden uns in einer dystopischen, vom Klimawandel stark beeinträchtigten Welt in der nahen Zukunft. Genaue Jahreszahlen werden im Buch nicht genannt, doch die heutige Zeit kann nicht so weit weg sein, denn die Mütter der genannten Teenagermädchen sind ungefähr die heutige Generation junger Eltern, dafür gibt es zahlreiche Hinweise, etwa, dass sie die Anfangszeiten des Internets noch miterlebt haben oder dass Eras Tante sich als junge Frau mit Leidenschaft in der Klimabewegung engagiert hat und an Klebeaktionen in Museen beteiligt war. Ich stelle mir also vor, dass wir in den 2030er oder 2040er Jahren sind.
Es scheint der Klimawandel radikal vorangeschritten zu sein in diesem Szenario, es ist sehr heiß, oft kommt es zu Waldbränden, aus Seen und auch aus so einigen tiefer gelegenen Orten sind überflutete Sümpfe geworden, frisches Obst und Gemüse sind Mangelware geworden, ebenso wie leistbarer, sicherer Wohnraum. Die durchschnittliche Lebenserwartung ist stark gesunken, da insbesondere ältere Menschen die zunehmende Hitze nicht gut vertragen und nur sehr Reiche sich dauerhaft davor mit technologischen Mitteln schützen können. So ist etwa der Großvater (eine der ganz wenigen männlichen Personen in diesem Roman, die überhaupt kurz erwähnt wird) eines der Teenager-Mädchen mit 65 eines Tages einfach tot umgefallen, und mittlerweile erreichen viele nicht einmal mehr dieses Alter. Das Internet und Influencerinnen gibt es aber noch, allerdings spielen sie eine kleinere Rolle als früher, zu fragmentiert ist die Gesellschaft geworden. Auch Polizei oder Regierungen sind nur mehr sehr schwache Institutionen, die gesellschaftlich nicht mehr viel regeln können.
In dieser Welt lebt die Jugendliche Era lebt mit ihrer Mutter, die für ihre Promotion Archivposts von Influencerinnen auswertet, in einem Tiny House im Wald, das sie Hütte nennt. Era selbst fühlt sich der Natur sehr verbunden und beschäftigt sich viel mit mittlerweile ausgestorbenen Tieren (so einige, die es in unserer jetzigen Gegenwart noch gibt), insbesondere mit Vögeln. Zum Glück sind zumindest viele Informationen über diese und der Klang ihrer Singstimmen online archiviert. Vater kommt in diesem Buch keiner vor, wie auch sonst kaum eine identifizierbare männliche Person. Wenn es in dieser Dystopie auch in der aktuellen Zeit, abseits von dem erwähnten verstorbenen Großvater, noch Jungen oder Männer geben sollte, so scheinen sie keine Rolle zu spielen - alle wesentlichen Akteurinnen sind Frauen und sind Single oder in einer lesbischen Beziehung.
Die Hauptfiguren sind Era, deren Hauptbezugspersonen ihre Mutter und deren Schwester sind, letztere wird von ihr einfach "Tante" genannt, sowie die Schwestern Maja und Merle, die Töchter des lesbischen Influencerinnenpaars Diana und Emily, die darunter leiden, von klein auf von ihren Müttern vor die Kamera gezerrt und online vermarktet worden zu sein - der Preis für ein Leben in einem Reichtum, der für die meisten Menschen in dieser Dystopie unvorstellbar erscheint.
Zufällig beobachtet Era die Schwestern Maja und Merle dabei, samstags im Wald verschiedene Sachen in die Luft zu sprengen, lernt die beiden Mädchen kennen und es kommt zu einer Freundschaft und auch zu einer zarten lesbischen Romanze zwischen Era und Maja. Doch Maja birgt in sich tiefe Abgründe, ist sehr verwundet durch ihre Kindheit und fest entschlossen, Rache zu üben und die Dinge für sich richtig zu stellen, um jeden Preis.
Ich habe am Anfang ein bisschen gebraucht, um in das in diesem Buch geschilderte Szenario hineinzufinden und mich gedanklich zu sortieren. Bald hatte es mich aber gepackt und ich habe mit viel Spannung und Interesse weitergelesen. Besonders interessant war für mich die mit vielen Details geschilderte und durchaus realistische vorstellbare Dystopie - ein gedankliches Experiment zu der Welt, in der wir in der nicht so fernen Zukunft landen könnten, wenn einige aktuelle Trends sich so weiterentwickeln: von der Zersplitterung der Gesellschaft über den Klimawandel und die zunehmende Digitalisierung der Welt, aber auch Zeitgeistphänomene wie die Influencerinnen, die aber dann auch wieder an Bedeutung verlieren.
Und wohin mit der Wut der jungen Menschen (hier: der jungen Mädchen) über das, was ihnen angetan wurde, als ihre Zukunft so leichtfertig verspielt wurde, sie einfach schon als kleine Babys ungefragt online gestellt und vermarkt wurden, sie in einer Welt mit so wenigen Kindern leben müssen, die sich kaum für ihre Bedürfnisse interessiert, und gleichzeitig von den älteren Generationen nicht genug darauf geachtet wurde, ihnen eine lebenswerte Zukunft zu bewahren? Wie kann sich diese durchaus gerechtfertigte Wut auf konstruktive oder destruktive Art kanalisieren und wozu führt das? Da sind wir wieder beim in den Wald gehen (solange es einen solchen noch gibt) und Sachen in die Luft jagen.
Es ist eine sehr intelligent konstruierte Mischung aus Dystopie und Coming-of-Age-Roman in einem weiblich dominierten Setting, die uns in der Gegenwart in vielem den Spiegel vorherrscht und zum Nachdenken anregt, aber auch sehr unterhaltsam zu lesen ist.
Insgesamt ist es ein äußerst intelligentes und interessantes Buch, das mich tief berührt und zum Nachdenken gebracht hat und das völlig zu Recht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises gelandet ist. Leseempfehlung für alle, denen unsere Zukunft am Herzen liegt!