Diese Geschichte wirkt nach
MädchentierHeiligabend 2038
Das Mädchen spielt draußen im Schnee, steht dann da, sieht verfroren aus. Sie rufen sie herein. Die Eltern streiten wegen der Soße, weint sie. Sie hören Schreie aus dem Nachbarhaus. Sie ...
Heiligabend 2038
Das Mädchen spielt draußen im Schnee, steht dann da, sieht verfroren aus. Sie rufen sie herein. Die Eltern streiten wegen der Soße, weint sie. Sie hören Schreie aus dem Nachbarhaus. Sie darf die Tannenspitze an den Baum bringen und dann schenken sie ihr noch ein kleines Paket. Sie packt einen Ring aus, strahlt wie die Sterne am Himmel und geht wieder rüber zu den Eltern.
2020
Sie ist dreizehn, war das späte Wunschkind. Die Mutter war neununddreißig und der Vater zweiundfünfzig, als sie geboren wurde. Sie glitt leicht hinaus, ein Kinderspiel. Sie war das Kind, von denen die Eltern geträumt hatten. Der Traum war ihnen genug. Das Kind, das sie dann war, war zu blass, zu still, zu laut in der Nacht. Anspruchsvoll. Mürrisch.
Der Vater hält zur Tochter, schlägt die Mutter, wenn es sein muss. Die Mutter vermutet, dass die Tochter sie beide manipuliert.
Sie kommt spät nach Hause. Die Eltern fauchen sich auf dem Sofa an. Sie betrachtet die Tomatensuppe in der Mikrowelle. Sie lässt sie abkühlen und gießt damit die Blumen. Die Mutter schaut nach ihr, ist froh, wünscht ihrem kleinen Engel „gute Nacht“.
Der Priester hat noch nicht geantwortet. Es wird 00 Uhr 6 und er schreibt „Schlaf schön“. Sie möchte gerne Rosa vom Priester erzählen, darf sie aber nicht anrufen. „Halts Maul“ hat Rosa zu ihr gesagt, sie verzeiht ihr ihren Verrat nicht. Rosa hat sie geküsst und Sara hat es einer Mitschülerin erzählt. Jetzt geht Rosas Blick in eine andere Richtung, wenn sie aufeinandertreffen. Der Priester will, dass sie zu ihm nach Hause kommt, Frau und Kinder seien nicht da.
Fazit: Cecilie Lind hat mich sprachlos und dann wütend gemacht. Selten begegnet mir eine Geschichte, die es so krass in sich hat und mich so heftig bewegt. Die Autorin hat eine sehr junge Protagonistin geschaffen. Ihre Mutter schwankt unberechenbar zwischen Besitzergreifung und Eifersucht. Sie missgönnt ihrer Tochter das gute Verhältnis zum Vater, das sie selbst gern hätte und neidet ihr ihre Schönheit und Jugend. Die Tochter fühlt sich erst im Begehrtwerden schön und hungert sich mit Perfektion in eine Krankheit, die sie für Schönheit hält. Während sie ihren Körper kontrolliert, kollabiert ihr Selbstwert. Sie sucht die körperliche Nähe zu augenscheinlich erwachsenen Männern, die sie wie eine lebendige Puppe missbräuchlich benutzen. Und das ist das Verstörende für mich, dass diese Männer sich einfach nehmen, was ihnen nicht zusteht. Sie geben jede Verantwortung, jedes Gespür für moralische Grenzen ab, benutzen ein junges Mädchen, um sich selbst in deren Bewunderung aufzuwerten. Es wirkt, als sei Sara ein frühreifes Mädel, das sich nimmt, was sie will, aber das ist Augenwischerei und verschleiert die Schuld dieser Männer mit der deutlich größeren Lebenserfahrung und suggeriert, die seien von dem jungen Ding verführt worden und konnten nicht anders. Genau diese kontroverse (gesellschaftliche) Sichtweise schafft die Autorin mit Bravour darzustellen. Dieses Buch wirkt nach. Von mir eine riesige Leseempfehlung!