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Veröffentlicht am 10.01.2025

Provokant, bissig und humorvoll

Der Kaninchenstall
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An einem schicksalhaften Abend verlässt die achtzehnjährige Blandine in C4, in der WG des heruntergekommenen Wohnkomplexes, ihren Körper. Vier Etagen über Blandines Abgang glaubt der Bewohner von C12, ...

An einem schicksalhaften Abend verlässt die achtzehnjährige Blandine in C4, in der WG des heruntergekommenen Wohnkomplexes, ihren Körper. Vier Etagen über Blandines Abgang glaubt der Bewohner von C12, dass Frauen mehr Macht haben als alle anderen. Wenn man ihm seine Ansichten ausreden will, wird der Mittsechziger wütend. Er hat sich freiwillig der Verliererseite verschrieben, weil er wegen der fehlenden Rücklagen als Holzfäller weiterarbeiten muss. In C10 macht der Teenager Selfies von sich, postet eines hoch und schreibt: „Ich bin bereit!“ In C8 versucht Hope ihren Säugling zu stillen. Es gelingt ihr nicht. Zu oft scrollt sie durch die Mamablogs, sieht sich an, wie anderen Müttern alles gelingt und zweifelt zunehmend an ihren mütterlichen Fähigkeiten. Hope hat Todesangst vor den Augen ihres Babys, was ihr Panikattacken bereitet. Ida Mitte siebzig, erzählt ihrem gleichaltrigen Mann Reggie in C6, dass Frank wieder im Knast ist. Bewaffneter Raubüberfall trotz schlimmem Knie. Frank ist der Mann von Tina, ihre Tochter, zu der sie keinen Kontakt mehr haben. Drei Jungs und ein Mädchen in C4, einer hält ein Messer. Sie: „Nein, bitte nicht“. Einer filmt: „Das bringt so viele Klicks“.

Rückblick

Zwei Tage bevor Blandine ihren Körper verlässt, geht sie in den Waschsalon. Ihre einzige derzeitige Obsession findet sie in den Lehren der Benediktinerin Hildegard von Bingen. Eigentlich hat Blandine wegen der Fetischisierung Jesu Leidens ein Problem mit den Mystikerinnen, aber die liebt sie. Joan sitzt ebenfalls im Waschsalon. Blandine drängt ihr ein Gespräch auf, voller Euphorie eine Gesprächspartnerin gefunden zu haben. Doch Joan bleibt einsilbig und verlässt schnellstmöglich den Salon. Sie hatte kürzlich ein Gespräch mit ihrer Vorgesetzten. Sie hat den abfälligen Kommentar eines Angehörigen unter dem Nachruf seiner Mutter nicht gelöscht. Nun droht der Jobverlust bei Rest in Peace.

Der Angehörige ist Moses Robert Blitz, der Sohn seiner verhassten Mutter Elsie Jane McLoughlin Blitz, hoch verehrter Kinderstar einer beliebten Serie. Er möchte Joan einen Schrecken einjagen, weil sie seine Kondolenzbezeugung zwischenzeitlich gelöscht hat.

Fazit: Tess Gunty hat ein grandioses Debüt hingelegt. Sie zeigt uns einen alten Industrieort des heutigen Amerikas, in dem viele abgehängte Menschen versuchen, ihr teils aussichtsloses Dasein zu bestreiten. Im Kaninchenstall leben die Bewohner auf engem, hellhörigem Raum, umgeben von Nagetieren. Jede/r versucht unter sich zu bleiben. Die feenähnliche Protagonistin hat sich trotz ihrer Hochbegabung gegen das heiß begehrte Stipendium entschieden, weil einer ihrer Lehrer aus der Upperclass ihr zu nahegetreten ist. Ihre drei anderen jungen Mitbewohner wollen raus aus dem Kaff, allerdings fehlen ihnen die Möglichkeiten. Als sie erfahren, dass Blandine, die Auserwählte, sich dem System „freiwillig“ entzogen hat, ziehen dunkle Wolken über dem Kaninchenstall auf. Die Geschichte wird rückblickend erzählt und enthält so viele Skurrilitäten, wie es Menschen gibt. So etwas Komplexes und Geistreiches habe ich selten gelesen. Eine provokante, komische und zeitgenössische Story über den amerikanischen Traum, wo der Tellerwäscher ein Tellerwäscher bleibt. Grandios!

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Veröffentlicht am 10.01.2025

Fulminant

Wackelkontakt
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Während Franz Escher auf den Elektriker wartet, versucht er ein tausend Teile Puzzle zusammenzusetzen. Kurz kontrolliert er, ob er die Türklingel aktiviert hat und macht sich Gedanken über seinen Namen. ...

Während Franz Escher auf den Elektriker wartet, versucht er ein tausend Teile Puzzle zusammenzusetzen. Kurz kontrolliert er, ob er die Türklingel aktiviert hat und macht sich Gedanken über seinen Namen. Seine Zerstreutheit nimmt beim Warten zu und so legt er sich auf das Sofa und schlägt den Mafiaroman auf, den er zur Zeit mit Spannung liest.

Der Kronzeuge Elio hat alle seine Kollegen der Cosa Nostra verraten, dafür hat man ihm ein neues Leben versprochen. Er liegt in seiner Zelle und fürchtet um sein Leben. Sein Zellennachbar schnarcht leise. Elio hat ihm eine Schlaftablette untergejubelt. Man weiß nie, wen sie schicken, um ihn zu beseitigen. Er liest noch ein paar Seiten, bevor er Schritte vor seiner Tür hört.

Der Trauerredner Franz Escher wartet auf den Elektriker, er hat einen Wackelkontakt und benötigt außerdem eine Dreifachsteckdose statt der einen an seiner Küchenzeile. Während er wartet, versucht er ein tausend Teile Puzzle zusammenzusetzen. Kurz kontrolliert er, ob er die Türklingel aktiviert hat und macht sich Gedanken über seinen Namen, als es läutet. Der Brummer summt und bald darauf steht ein hochgewachsener Mann mit dem Emblem Elektro Janke vor ihm. Der wortkarge Elektriker erfasst rasch Eschers Problem und schaltet im Stromkasten zwei Wipptasten herunter. Eschers Expertise wird nicht gebraucht und so legt er sich aufs Sofa, um weiterzulesen. Kurz vergewissert er sich noch, ob er die vermaledeite Klingel aktiviert hat, dann fällt sein Blick auf eine Unordnung im Stromkasten. Er klappt die beiden Schalter hoch und ein Poltern erschüttert die Küche. Kurz um die Ecke blickend sieht er den Elektro Janke Mann am Boden. Jetzt steht Escher in seiner Küche, erstaunt und überfordert überlegt er fieberhaft, was nun zu tun sei.

Fazit: Hier meine Lobeshymne. Wolf Haas hat sein Bestes gegeben. Die Story hat alles, was es braucht, um Leser*innen fulminant zu unterhalten. Spannung, Witz und überraschende Wendungen. Wie eine Matrjoschka entpuppt sich die Geschichte in einer Geschichte. Die Charaktere sind stark, die Handlung unsagbar kreativ. Der Autor hat mich mit seiner Alltagskomik an etlichen Stellen zum Lachen gebracht. Am Ende schließt er den Kreis und es wird ein Schuh draus, mit dem ich niemals gerechnet hätte. Mega!

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Veröffentlicht am 07.01.2025

Ein kluges Buch zum Thema gesellschaftliche Spaltung

Heult leise, Habibis
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Sineb El Masrar erklärt, wie Ignoranz und Dauerempörung unsere Gesellschaft spalten.

Wir erfahren in den Medien zum Beispiel von bewaffneten und kriegerischen Konflikten in der Sahelzone und fühlen uns ...

Sineb El Masrar erklärt, wie Ignoranz und Dauerempörung unsere Gesellschaft spalten.

Wir erfahren in den Medien zum Beispiel von bewaffneten und kriegerischen Konflikten in der Sahelzone und fühlen uns anhand der Bilder von Menschen, die die Region um den Niger verlassen, überfremdet. Große Uran- und Goldreserven liegen im Focus Russlands, um neue Einflusszonen zu sichern und Frankreichs, um seinen Status quo aufrechtzuerhalten.

Nicht alle wollen begreifen, wie stark unser Wohlstand mit dem Zugang zu chemischen und metallenen Bodenschätzen verwoben ist. Auch unsere Energie- und Gesundheitsversorgung sind von bestimmten Regionen abhängig. S. 8

In den Netzwerken entfachen darüber Revierkämpfe wie in der Schule oder in Cliquen. Die Autorin denkt, dieses Verhalten liege an unreflektierten Komplexen und der Ich-Bezogenheit, getrieben von nicht verarbeiteten Kränkungen. Sie glaubt, dass die Gesellschaft zu viel Rücksicht auf die Marktschreier nimmt, die ungefragt Fake News und ihre Meinung verbreiten.

Tatsächlich jedoch gäbe es in unserer Gesellschaft eine Vielzahl von Menschen, die mit schmerzhaften Erfahrungen wie Rassismus, Missbrauch, Gewalt, Verlust, Krankheit, Sexismus etc. konfrontiert sind und trotzdem auf überzogene Empörung verzichten.

Die Autorin erklärt den Unterschied zwischen den dauerempörten Extrovertierten und den stillen Introvertierten.

Auch die Plattformen der Socialmedia-Maschinerie fördern die Aufregung mit belohnenden und sabotierenden Algorithmen. Je mehr Aktivitäten und Follower die Apps generieren, desto mehr Investments und Kapital durch Werbetreibende wird investiert und lässt die Aktienkurse steigen.

Fazit: Sineb El Masrar hat ein umfassendes und kluges Buch über die Mechanismen der gesellschaftlichen Spaltung und die Gefahr für unsere Demokratie geschrieben. Allerdings halte ich die Idee, die Leisen müssten lauter werden für eine Illusion. Es ist nervenaufreibend, sich mit geltungssüchtigen Menschen auseinanderzusetzen, deren vorrangiges Ziel zu sein scheint, sich die Langeweile zu vertreiben. Dennoch habe ich in den Ansichten der Autorin meine eigenen gefunden und das tat gut. Ich wünsche dem Buch haufenweise Leser*innen.

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Veröffentlicht am 30.12.2024

Absolute Leseempfehlung zum Thema Feminismus

Das ewige Ungenügend
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Saralisa Volm will sich die Deutungshoheit ihres Körpers zurückerobern und nimmt die Leserinnen mit in ihr Erleben und ihre Wut.

Schon während ihrer Pubertät galten die Maße 90-60-90 als Schönheitsideal. ...

Saralisa Volm will sich die Deutungshoheit ihres Körpers zurückerobern und nimmt die Leserinnen mit in ihr Erleben und ihre Wut.

Schon während ihrer Pubertät galten die Maße 90-60-90 als Schönheitsideal. Die Rubensmädchen hatten längst ausgedient und Barbie hielt Einzug. Obwohl Saralisa gerne aß, war sie dünn, dennoch machte sie Diäten und blieb unzufrieden mit ihrem Körper. Sie entdeckte das Kotzen als Methode ihrer Essenslust zu frönen und dabei gertenschlank zu werden. Bis zum ersten Kreislaufzusammenbruch dauerte es ein paar Jahre und da beherrschte die Bulimie auch schon ihr gesamtes Leben. Sie pendelte zwischen Vertuschung und Beherrschung und quälte sich durch Kontrollverluste, gleichzeitig gab ihr ihr Verhalten das Gefühl von Kontrolle und eine wohltuende Befriedigung. Nach jahrelangem On Off der Bulimie-Beziehung voller Leidenschaft und Hass hörte sie damit auf. Zähne, Haare und Magen hatten so gelitten, dass es ihr nicht mehr gelang, nach außen zu glänzen. Die Schönheitsindustrie feuerte weiter:

Nichts schmeckt so gut, wie es sich anfühlt, dünn zu sein. Kate Moss S. 43

Die Autorin zeigt, wie gerade Frauen zum Spielball zwischen milliardenschwerer Schönheitsindustrie und milliardenschwerer Genussmittelindustrie werden. Ein Kreislauf an dessen Ende Diätkonzerne, Pharmaindustrien und Ärzte stehen.

Schönheit ist ein System, das nur dann funktioniert, wenn es viele ausschließt. Elisabeth Lachner S. 48

Was viele, von dieser Selbstoptimierung Betroffene nicht verstehen ist, dass Selbstwert eben nicht käuflich ist.

Unterstützung findet das System des Schönheitswahns auch durch Creator
innen. Je mehr Followerinnen, desto größer die Sicht auf lukrative Zusammenarbeit mit Firmen.

Frauen werden weltweit unterdrückt, wenn sie nicht ihrer augenscheinlichen Bestimmung folgen nett, angenehm und sozial verträglich zu sein. Es folgen Ausgrenzung, Mobbing, Cybermobbing und Femizide. 2020 wurden in Deutschland 359 Fälle häuslicher Gewalt aktenkundig, fast jeden Tag traf es eine.

Die Autorin führt uns in die frauenfeindliche Welt der Schauspielkunst ein und zeigt anhand der eigenen Karriere, wie frustrierend diese Arbeit sein kann.

Sie zeigt, dass das Ziel der Gleichberechtigung nur entspannte weibliche Mittelmäßigkeit sein kann.

Fazit: Saralisa Volm hat sich in diesem Buch mit ihrer eigenen Weiblichkeit auseinandergesetzt und viele kluge Gedanken zu Papier gebracht. Das Buch liest sich so erhellend wie frustrierend, weil der geneigten Leser
in auffällt, welche Wegstrecke zu echter Gleichberechtigung noch vor uns liegt. Sicher ist es ratsam, unseren Töchtern zu erklären, „dass jede*r ihre Grenzen achten muss, dass ein Nein bedeutet, dass man aufhören muss und dass Sex nicht eingefordert werden darf“. Allerdings fände ich es ebenso hilfreich, wenn wir das unseren Söhnen klar machen würden. Die Autorin macht ihre Gedanken anhand vieler Beispiele aus dem eigenen Leben gut lesbar und verständlich. Sie schreibt sowohl mit einem lachenden als auch einem weinenden Auge und damit keineswegs pessimistisch. Von mir definitiv eine absolute Leseempfehlung.

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Veröffentlicht am 27.12.2024

Besondere Unterhaltung auf hohem humoristischem Niveau

Täuschend echt
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Ihr Vokabular richtet sich gegen ihn. Er sei von A wie altmodisch bis Z wie zickig unerträglich und auch dazwischen fand sie nichts Gutes. Sie dagegen switchte durch die sozialen Medien, denen er sich ...

Ihr Vokabular richtet sich gegen ihn. Er sei von A wie altmodisch bis Z wie zickig unerträglich und auch dazwischen fand sie nichts Gutes. Sie dagegen switchte durch die sozialen Medien, denen er sich vorenthält, fraß Reality Shows und behauptete, dass sie das nur auf der Metaebene betrachte, als kulturelles Phänomen.

Forscher in den USA haben festgestellt: Wenn sie ihre Scheiße kulturelles Phänomen nennen, stinkt sie nicht mehr. S. 13

Sie vergaß ihr Handy in einem Coffee Shop an der Bar, an der auch er saß. Dann rief sie sich selbst an, mit einem Handy, das ihr jemand geliehen hatte. Er war so dumm ranzugehen und es ihr dann zu einer ultrawichtigen Wohnungsbesichtigung für ein WG-Zimmer, das sie doch nicht bekam, zu bringen. Sie drückte ein paar Tränchen die Wangen hinunter, weil sie nicht wußte, wo sie schlafen sollte und er bot ihr seine Couch an. Dann blieb sie doch, bis sie was Eigenes finden würde und fand nichts. Zum Schluss sagte sie ihm: „Leute wie er würden beruflich bald so überflüssig sein, wie er es privat schon immer war.“

Und dann wollte er ihr das Gegenteil beweisen, hat das Wort Frühstücksmüsli eingegeben und die KI rangelassen. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Sein Todesurteil als Werbetexter! Und dann hat Andenberg ihn rausgeschmissen, fristlos, nicht wegen der KI, sondern weil er zu viel Arbeitszeit mit persönlichen Belangen verbracht hat. Und danach oder kurz zuvor ist seine Kreditkarte verschwunden und auf Bali aufgetaucht.

Fazit: Dieses ist mein erstes Buch von Charles Levinsky und ich bin voll überzeugt von seiner Schreibkunst. Mit leidenschaftlichem Biss schickt er seinen Protagonisten in sein Unglück. Lässt ihn erkennen, dass seine Geliebte ihn belogen und betrogen hat. Lässt ihn den langweiligen Job und das sichere Einkommen verlieren und konfrontiert ihn mit künstlicher Intelligenz und ChatGPT. Die Sprache ist voller Selbstironie und insgesamt so situationskomisch, dass ich mich köstlich amüsiert habe. Sehr gelungen fand ich auch den Ansatz, die kreativen Möglichkeiten einer Technologie, die im Allgemeinen einzig verteufelt wird, wie mittelalterliche Phänomene, spielerisch erlebbar zu machen. Der Autor jammert und polemisiert nicht, sondern schafft eine sehr moderne, gut durchdachte, kreative Story. Alle Eindrücke, die er in seinem Buch aus Wikipedia und KI generierten Texten verwendet, hat er kursiv dargestellt. Das war besondere Unterhaltung auf hohem humoristischem Niveau. Chapeau!

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