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Veröffentlicht am 01.09.2022

Cassie Raven ist wieder da – Forensik-Krimi at its best

Wer mit den Toten spricht
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Cassie Raven, Sektionsassistentin aus Leidenschaft, hat gerade erfahren, dass die Geschichte um den Tod ihrer Eltern, die sie von ihrer polnischen Großmutter erfahren hat, vollkommen erstunken und erlogen ...

Cassie Raven, Sektionsassistentin aus Leidenschaft, hat gerade erfahren, dass die Geschichte um den Tod ihrer Eltern, die sie von ihrer polnischen Großmutter erfahren hat, vollkommen erstunken und erlogen ist. Stattdessen wurde ihre Mutter ermordet und ihr Vater des Mordes verurteilt. Das muss sie erst einmal verdauen. Da treten ihre Gäste in der Leichenhalle fast in den Hintergrund, vor allem, als auch noch ihr Vater auftaucht und behauptet, unschuldig zu sein. Um alles auf die Reihe zu kriegen, braucht sie einmal mehr die Hilfe der spröden Polizistin Flyte, die ihre eigenen Päckchen mit sich herumträgt.

Die Autorin bleibt ihrem Stil treu – zum Glück! – und konstruiert einen Forensik-Krimi, der mehrere Handlungsstränge und damit Fälle in sich vereint. Der Forensik-Fall scheint zunächst recht harmlos und nicht besonders ermittlungsintensiv, erweist sich aber als zunehmend komplex. Das Wichtigste ist jedoch, dass er die beiden so unterschiedlichen Frauen Cassie und Flyte wieder einmal zusammenbringt und sie sich dadurch weiter aneinander annähern. Wie im ersten Band wird die Geschichte abwechselnd aus Cassies und aus Flytes Sicht erzählt, die Kapitel jeweils passend überschrieben, und je mehr der Fall voranschreitet, desto häufiger werden Flytes Anteile. Dadurch erhält man als Leser naturgemäß tiefen Einblick in die Psyche der beiden Frauen und ihrer Traumata und weiß somit erst einmal mehr als die Protagonisten. Der Fokus liegt diesmal stärker auf Cassies privatem Fall und ihrer Vergangenheit, der Aufarbeitung und Aufklärung des Mordes an ihrer Mutter, als auf den Forensikfällen, und ihre Nachforschungen hierzu nehmen einen großen Raum ein. Aber auch Flytes seelischer Schmerz ist sehr greifbar, und in dem Maße wie sich beide öffnen und den Ermittlungen voranschreiten, in dem Maße bröckelt auch Flytes stahlharter Panzer.

Ich fand es ausnehmend gut, dass auch hier wieder Cassies Arbeit in der Rechtsmedizin viel Platz einnehmen und detailliert beschrieben wird. Cassie liebt ihre Arbeit und ihren Arbeitsplatz, sie ist gewohnt sensibel und einfühlsam und behandelt die ihr zugeteilten Toten mit Respekt und spricht mit ihnen. Und die Toten sprechen mit ihr, was den einen oder anderen Hinweis auf die Lösung bietet. Cassies Visionen, Geistes- und Erinnerungsblitze oder wie man es auch immer nennen mag überfallen sie zu den unmöglichsten Zeiten und tragen einen großen Teil zur Lösung und Erkennung der Wahrheit bei. Ist es bei Flyte eine Aufarbeitung, ist es bei Cassie ein knallharter Kriminalfall, beide helfen sich gegenseitig mit ihrem Fachwissen. Ich fand es einmal mehr bezaubernd, wie sich beide zwischendurch immer beäugen und sich fragen, wieso sie sich für die andere so ins Zeug legen. Die beiden haben auf jeden Fall das Potential auf eine lebenslange Freundschaft!

Der Autorin gelingt es erneut, vielschichtige Charaktere, einen sehr gut konstruierten, verschachtelten Krimi und einen herrlichen Plot zu verfassen, wobei sie die Spannung eher subtil aufbaut, doch mit jedem Kapitel steigert bis hin zum doch recht überraschenden Ende. Man trifft lieb gewonnene Figuren wieder, wie zum Beispiel Cassies Großmutter, und erfährt Neues aus ihrem Leben. Humorvoll und sensibel und unglaublich eingängig fesselt die Autorin mit ihrem Schreibstil und mit ihrer Geschichte.

Fazit: Absolut lesens- und lohnenswerter Krimi, wobei sich die Lektüre des ersten Bandes vorweg auf jeden Fall empfiehlt. Man kann sicherlich der Geschichte auch so folgen und erfährt auch so vieles über die ungewöhnlichen Protagonisten, jedoch versteht man die Zusammenhänge besser, denn dieser Band schließt gerade in Bezug auf Cassies Leben nahtlos an den Vorgänger an. Für mich eine sehr gelungene Fortsetzung der Reihe, die die Lust, mehr über Cassie Raven und Phyllida Flyte zu lesen, erneut gesteigert hat.

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Veröffentlicht am 20.08.2022

Dunkle Orte in einem komplexen Psychospiel

Bruch
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Als ihrem Versetzungsantrag nach Dresden stattgegeben wird, will Hauptkommissarin Nicole Schauer am liebsten gleich wieder weg: Ihr neuer Kollege Felix Bruch wirkt desinteressiert und abwesend, die anderen ...

Als ihrem Versetzungsantrag nach Dresden stattgegeben wird, will Hauptkommissarin Nicole Schauer am liebsten gleich wieder weg: Ihr neuer Kollege Felix Bruch wirkt desinteressiert und abwesend, die anderen halten sie für einen Besser-Wessi und der neue Fall um ein verschwundenes Mädchen, den sie gleich aufs Auge gedrückt bekommt, hat es in sich. Zudem ist sie nach überstandener Krebserkrankung und neuem Status als Single mit sich und der Welt längst nicht im Reinen. Gut, dass sie gleich um Rückversetzung gebeten hat!

Ein sonderbares Ermittler-Pärchen, das uns da präsentiert wird. Beide bei Weitem keine reinen Sympathieträger und mit äußerst zweifelhaften Ermittlungsmethoden. Die scheinbar einzige Gemeinsamkeit, die einem gleich ins Auge fällt, ist beider psychische Angeschlagenheit, die zwar jeweils andere Ursachen hat und sich auch völlig unterschiedlich auswirkt, die aber zeigt, wie verletzt und verletzlich sie sind. Das Zusammenraufen geht denn auch sehr schleppend voran und als Leser ist man skeptisch, was den Erfolg betrifft, sowohl den der Annäherung als auch den der Ermittlung.

Der Fall selbst erweist sich nach anfänglich scheinender Routinearbeit als zunehmend komplexes Konstrukt mit Ursprüngen in der Vergangenheit. Die Betroffenen, ob Zeugen, Opfer oder Verdächtige, geben wenig Hilfreiches preis und haben alle etwas zu verbergen. Bruch und Schauer sind in ihrer Arbeit so unterschiedlich wie in ihrem Wesen, sie voranpreschend und emotional, geradlinig und Fragen stellend, er in sich gekehrt und beobachtend, mitunter komplett emotionslos. Wo Schauer aggressiv wird, ist Bruch desinteressiert, wo Schauer losläuft, bleibt er stehen und lässt alles erst einmal auf sich wirken. Und dennoch ist ihnen gemein, dass sie sich in den Fall reinhängen und ihn um jeden Preis lösen wollen. Beiden ist es auch ein persönliches Anliegen, dessen Ursache sich nach und nach offenbart.

Dank des unglaublich eingängigen Schreibstils, der tiefsinnigen Charakterisierung seiner Figuren und einem packenden Fall, der sich als komplexer erweist als gedacht, gelingt es dem Autor, den Leser sofort zu fesseln. Geschickt erzählt er die Geschichte in teilweise abrupten Perspektivwechseln, wobei man äußerst tiefe Einblicke in das Seelenleben der beiden Protagonisten erhält und ihr Verhalten nachvollziehen kann. Sie nehmen sich, ihre Umgebung und ihre Mitmenschen sehr unterschiedlich wahr und kommentieren das Handeln des anderen in Gedanken, Schauer zynisch, Bruch genervt. Nur schwer kommt ein Dialog in Gange, und Schauers misstrauisches Wesen zweifelt zudem an Bruchs Zuverlässigkeit. Unter diesen Umständen kann von einem Zusammenraufen auch erst einmal nicht die Rede sein, beide sind Einzelgänger und lassen sich schwer auf andere Menschen ein. Dennoch findet schließlich und unbegreiflicherweise eine leise Annäherung statt, mehr als einmal reagiert Bruch Schauer zuliebe, antwortet auf ihre Fragen, hilft ihr, wenn sie Angst hat. Und Schauer kommt nach und nach dahinter, was mit Bruch los ist, hinterfragt seine Gedankengänge und wägt sie ab und reagiert dabei durchaus einfühlsam. Zudem decken sich beide gegenüber ihrem Vorgesetzten, setzen sich als Team also über die Vorschriften und erkennen die Lösungsansätze des anderen an. Der Fall gerät bei aller Problematik nie in den Hintergrund, sondern steigert sich in der Spannung bis zum finalen Showdown.

Fazit: Sehr gelungener Einstieg in die neue Krimireihe, deren dunkle Orte in der Umgebung, aber mehr noch in der Psyche der beiden Protagonisten zu finden sind. Ich sehe gerade in den Beschreibungen der Charaktere die große Stärke, auch die anderen Figuren sind vielschichtig und komplex, und gerade die Zerrissenheit und Versehrtheit von Bruch und Schauer und ihr Zusammenspiel sind spannend und mitunter auch rührend. Zusammen mit dem verschachtelten Fall, in dem nichts ist wie es scheint, ergibt das eine perfekte Mischung und einen fesselnden Psycho-Krimi.

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Veröffentlicht am 02.08.2022

Spannendes Katz-und-Maus-Spiel in Hamburg

Das Profil
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Kaum bekommt Franka Erdmann, altgediente Beamtin der Mordkommission in Hamburg, den neuen jungen Kollegen Alpay Eloglu zur Seite gestellt, werden die beiden auch schon zu zwei brutalen Tötungsdelikten ...

Kaum bekommt Franka Erdmann, altgediente Beamtin der Mordkommission in Hamburg, den neuen jungen Kollegen Alpay Eloglu zur Seite gestellt, werden die beiden auch schon zu zwei brutalen Tötungsdelikten gerufen: eine im Sand vergrabene männliche Leiche und eine erfolgreiche Influencerin. Es stellt sich heraus, dass beide im selben Zeitfenster getötet wurden. Hängen die beiden Fälle zusammen? Während sich Franka sowohl als Ermittlerin beweisen als auch mit Alpay zusammenraufen muss, bleibt es nicht bei einer toten Influencerin…

Perfides und sehr spannendes Katz-und-Maus-Spiel zwischen einem intelligenten Serienmörder und den Ermittlern der Polizei, allen voran Franka Erdmann und Alpay Eloglu, bei dem man mehrfach zweifelt, wer am Ende die Nase vorn hat. Auch wenn die Taten brutal sind und der Hergang auch durchaus beschrieben wird, spart sich der Autor reißerisch-blutige Details und punktet stattdessen mit solider, kontinuierlich aufgebauter Spannung, einer gut konstruierten Geschichte und einem ungeheuer eingängigen Schreibstil. Diese zieht sich zum einen aus dem ungleichen Ermittlerduo Erdmann und Eloglu, die sich anfangs eher behindern als unterstützen und ihre Vorurteile gegenüber dem anderen nur schwer niederlegen können. In dem Maß wie der Fall voranschreitet nähern sich diese beiden so unterschiedlichen Charaktere aneinander an bis zum gegenseitigen Respekt. Zum anderen wird der in meinen Augen größte Spannungsbogen durch den hohen Anteil an der Erzählperspektive des Mörders, der als intelligenter Gegenspieler zu Franka agiert, erreicht, wodurch der Leser Täterwissen hat und den Ermittlern somit – ebenso wie der Täter – immer einen Schritt voraus ist. Außerdem erhält der Leser einen tiefen Einblick in die verstörende und gestörte Psyche und die Traumata des Täters und damit in seine Motive. Ich kam nicht umhin mit dem Mörder mitzufühlen und Mitleid zu empfinden, wodurch man in einen gewissen Zwiespalt geriet. Erschwerend kam hinzu, dass die getöteten Influencerinnen mir nicht eben sympathisch waren. Geschickt verwebt der Autor Geschehnisse aus der Vergangenheit des Täters mit den Ereignissen der Gegenwart und führt sie in einem direkten Zusammenhang, so dass seine Taten plausibel und nachvollziehbar erscheinen.

Mir hat das Zusammenraufen und sich nach und nach Ergänzen des recht unterschiedlich gestrickten Ermittlerduos sehr gut gefallen. Platt könnte man sagen, da spielt alt gegen jung, ungesunder Lebensweise gegen jugendliche Fitness, Routine gegen vorpreschende Grünschnabel-Attitüde. Bei näherem Hinsehen und im Laufe des Voranschreitens der Ermittlungen lernen die beiden immer mehr voneinander, und es stellt sich heraus, dass ihre Einstellung und Hartnäckigkeit sich in nichts nachstehen. Ich fand die in meinen Augen sehr authentische Beschreibung der polizeilichen Ermittlungsarbeit sehr gelungen, mir gefiel dieses akribische Vorgehen und ich fand es sehr spannend, wie sich nach und nach das Täterprofil für die Ermittler herauskristallisiert hat.

Fazit: Für diejenigen, die selbst gerne ermitteln, nicht geeignet, denn durch Rückblicke auf das Leben des Mörders werden die Zusammenhänge und Motive immer deutlicher. Die Spannung erzeugt sich aus der Psychologie und das Zusammenspiel zwischen Ermittler und Täter und der Frage, wieviel Mitleid und Verständnis man für einen Mörder aufbringen darf. Eines jedoch steht außer Frage: Der Autor hat ein interessantes neues Ermittlerduo zum Leben erweckt, von dem man gerne mehr lesen möchte!

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Veröffentlicht am 26.07.2022

Liebe, Freundschaft und der Traum von einer besseren Welt

Das Tor zur Welt: Hoffnung
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Altes Land, 1882: Ava de Buur lebt bei ihren Stiefeltern auf deren Torf-Bauernhof in bitterer Armut. Als der Stiefvater keinen Ausweg mehr sieht, schließt er sich der allgemeinen Ausreisewelle an und begibt ...

Altes Land, 1882: Ava de Buur lebt bei ihren Stiefeltern auf deren Torf-Bauernhof in bitterer Armut. Als der Stiefvater keinen Ausweg mehr sieht, schließt er sich der allgemeinen Ausreisewelle an und begibt sich mit der Familie nach Hamburg, um eine Schiffspassage in die neue Welt zu bekommen. Während sie auf die Ausreise warten, bricht die Cholera aus… Neunzehn Jahre später ist Ava noch immer in Hamburg und spart eisern für ihren Traum vom Auswandern. Sie arbeitet in der Auswandererstadt von Albert Ballin und trifft dort auf die reiche, verwöhnte, spitzzüngige und eigenwillige Claire Conrad, die dort einen Sozialdienst ableisten soll und die sich mit Händen und Füßen gegen die Zwänge der Gesellschaft und die Entscheidungen ihrer Mutter wehrt. Die beiden sehr ungleichen Frauen freunden sich wider alle Umstände miteinander an. Dann spitzt sich Claires Situation immer mehr zu, und in ihrer Not sieht sie keinen anderen Ausweg, als ihre einzige Freundin Ava zu hintergehen….

Dramatisch, aufregend, spannend, romantisch – dieser Roman packt einen und lässt einen nicht mehr los, bis man auf der letzten Seite angekommen ist und darüber hinaus. Die Autorin von Elbleuchten und Elbstürme beweist einmal mehr, dass ihr hanseatische Familiensagas, hamburgische Geschichte und eigenwillige Charaktere ausgesprochen gut liegen. Ihr extrem flüssiger, ausgezeichnet zu lesender Schreibstil und ihre detaillierten Beschreibungen der guten Gesellschaft und ihrer Attitüden einerseits, die bittere Not, das Elend der Arbeiterschicht und der Dreck des Gängeviertels andererseits lassen einen eintauchen in diese Welt und über alle Maßen mitfühlen mit ihren Protagonisten. Ihre Figuren haben Persönlichkeit, sind lebendig und authentisch und in all ihren Schwächen und Ängsten zutiefst menschlich.

Das Buch kommt mit schönem Einband und ein paar Goodies wie eine kleine Karte am Anfang und Fotos am Ende einher. Es ist sehr gut strukturiert in vier Teile sowie Einschüben aus der Vergangenheit und eingerahmt in einen Prolog und einen Epilog. Die Zeitspanne umfasst damit fast dreißig Jahre. Die Geschichten um Ava und Claire werden zunächst getrennt voneinander erzählt, was ganz natürlich ist, denn das Leben der beiden könnte unterschiedlicher nicht sein. Demensprechend erfolgt auch immer ein Wechsel der Perspektive – erst später wechseln die Perspektiven auch innerhalb der Kapitel und werden immer häufiger, je mehr sich die zwei Frauen miteinander und mit ihren männlichen Gegenparts Quint und Will verstricken. Dadurch nimmt das Ganze immer mehr Fahrt auf und sukzessive bekommen die männlichen Hauptfiguren mehr eigene Anteile. Der Leser erhält somit mehr und mehr unterschiedliche Sichtweisen in die jeweilige Gefühlswelt und auf die Ereignisse. Die Einschübe aus der Vergangenheit werden von einem – vermeintlich - unbekannten Ich-Erzähler übernommen, der sehr anschaulich seine dramatischen Erlebnisse einer Atlantik-Überquerung schildert. Diese Passagen sind sehr eindringlich und gehen unter die Haut. Hier tritt besonders gut das außergewöhnliche Gespür und Erzähltalent der Autorin zutage, elendige Zustände anschaulich darzustellen, ohne jedoch die Stärke und Hoffnung der Protagonisten aus den Augen zu verlieren.

Die Fäden laufen in der Ballin-Stadt zusammen, wo die Auswanderer Zwischenstation machen, bevor sie auf große Fahrt nach Übersee gehen. Hier treffen alle vier, Ava, Claire, Quint und Will, einigermaßen überraschend aufeinander, und je mehr sie interagieren, desto mehr steigt die Spannung. So verschieden die Persönlichkeiten Avas und Claires sind, so unterschiedlich sind die Erzählweisen, ihre Handlungen und ihre Sicht auf die Dinge. Ist Ava introvertiert, duldsam, bescheiden, sensibel, beobachtend, so ist Claire auf der anderen Seite egozentrisch, temperamentvoll, selbstbewusst und fordernd. Beiden ist jedoch nicht nur ihre Intelligenz gemein, sondern auch das Hinterfragen des Ist-Zustandes, der Wunsch nach dem Ausbrechen aus der Norm, nach einem besseren Leben, auch wenn jede zunächst etwas anderes darunter versteht. Ava, schwer traumatisiert durch Schicksalsschläge, steht ganz allein da, und auch Claire, gefangen im goldenen Käfig, hat keinerlei Rückendeckung durch ihre Mutter. Beide sind auf ihre Art Außenseiterinnen der Gesellschaft. Im Laufe ihrer Annäherung machen beide eine Veränderung durch und nehmen Eigenschaften der anderen an, so wird zum Beispiel Ava selbstbewusster und fordernder und Claire demütiger. Für mich war Claire ein sehr zwiespältiger Charakter und nicht immer waren ihre Handlungen für mich nachvollziehbar, sie handelt meist sehr impulsiv, und es war mir schleierhaft, wie man phasenwiese so ignorant sein kann. Ihre Wut und ihr Entsetzen und nach und nach auch ihre Sensibilität und ihr Wortwitz kommen aber sehr gut rüber und nehmen sie für einen ein. Natürlich kommen auch die Irrungen der Liebe nicht zu kurz, aber auch hier wieder weder kitschig noch vorhersehbar, sondern im Gegenteil eher unwahrscheinlich auf ein Happy End, so dass es spannend bleibt. Die männlichen Protagonisten sind ebenfalls starke Charaktere und stehen Ava und Claire in nichts nach, wie überhaupt alle Figuren detailliert und lebensecht gezeichnet sind.

Fazit: Großartiger erster Band um die Auswandererstadt des Albert Ballin in Hamburg und vier Menschen, deren Schicksal untrennbar miteinander verknüpft ist. Dieses Buch vereint alle Elemente, die eine spannende Saga braucht – abwechslungsreiche Handlung, Liebe, Freundschaft, Verrat, Missverständnisse, geplatzte Träume und ein altes Geheimnis, aufs Trefflichste verwoben und vortrefflich erzählt. Fesselnder und sehr gelungener Einstieg in die neue zweibändige Reihe, die Lust auf Mehr macht!

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Veröffentlicht am 12.07.2022

Drei Frauen, zwei Zeitebenen - männlicher Verrat und weibliche Solidarität

Die versteckte Apotheke
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London, 1791: In einer geheimen Kammer mischt die Apothekerin Nella nicht nur Heiltränke – hinter vorgehaltener Hand wird diese Kunde verbreitet, und in heimlich übermittelten Briefen werden Aufträge für ...

London, 1791: In einer geheimen Kammer mischt die Apothekerin Nella nicht nur Heiltränke – hinter vorgehaltener Hand wird diese Kunde verbreitet, und in heimlich übermittelten Briefen werden Aufträge für Mittel erteilt, die für manche Männer tödlich sind. Als die junge Eliza im Auftrag ihrer Herrin in Nellas Leben tritt, ist auf einmal nichts mehr, wie es war. Nella lässt Eliza näher an sich herankommen, als ihr lieb ist, und auf einmal soll bei einem Auftrag kein Mann sterben, sondern eine Frau. Im London der Gegenwart kämpft die junge Caroline mit dem Betrug ihres Mannes und nutzt kurz entschlossen ihre Hochzeitsreise nach London, um ihr Leben und ihre Ehe zu überdenken. Als sie spontan bei einer Mudlarking-Tour, der Suche nach Dingen im Schlamm der Themse, ein altes Apothekerfläschchen findet, ist ihr Spürsinn geweckt und sie gräbt sich immer tiefer in die Geheimnisse der Geschichte....

Großartiger und spannender Roman mit zwei, nein drei faszinierenden Frauenfiguren, auf zwei Zeitebenen in drei verschiedenen Perspektiven erzählt, der wirklich von der ersten Zeile an fesselt und in die aufregende Welt der Pflanzen und Gifte entführt, aber auch in eine Welt der männlichen Dominanz, in der sich Frauen ein geheimes Netzwerk aufbauen und sich gegenseitig helfen und sich gegen ihre Peiniger wehren. Die Autorin versteht es meisterhaft, die beiden Zeitebenen und ihre Protagonisten autark und selbständig voneinander aufleben zu lassen und sie gleichzeitig subtil und stark miteinander zu verknüpfen. In dem Maße, wie Caroline mehr und mehr in das Zeitalter und in Nellas Geschichte eintaucht und über sie herausfindet, erfährt der Leser auf deren eigener Ebene von den wahren Ereignissen. Beide Ebenen und alle drei Perspektiven sind gleichermaßen spannend und kein Bericht wiederholt sich, man erhält vielmehr intensive Einblicke in die Gefühlswelt der jeweiligen Erzählerin, die allesamt in der Ich-Form erzählen und viel von ihren Ängsten und Geheimnissen preis geben. Der Leser ist aber dennoch nicht allwissend, erfährt Dinge in demselben Maße wie die Protagonisten. So ergibt sich nach und nach ein Bild der Ereignisse im Februar 1791 in einer Zeitspanne von nur zehn Tagen, in der sich für Nella und Eliza ihr Leben komplett verändert. Parallel dazu braucht Caroline fünf Tage, während der sie sich tief in die Geschichte des Fläschchens hineingräbt und unglaubliche Dinge entdeckt und nebenbei ihr ganzes bisheriges Leben auf den Kopf und in Frage stellt.

Das Motiv, das in beiden Ebenen die Hauptrolle spielt, ist die emotionale Abhängigkeit von Männern und ihr Verrat an Frauen. Die Dominanz und die Tatsache, dass sich Männer zu damaligen Zeiten nahezu alles erlauben konnten, führt zu dem geheimen Netzwerk der Frauen und letztendlich dazu, dass sie sich auf drastische Weise von ihren Peinigern befreien und die Männer so zu Opfern machen. Nella ist solidarisch mit Frauen, sie behandelt nur Frauenleiden und hilft ihren Auftraggeberinnen aus Gewalt und Abhängigkeit. Auch bei Caroline spielt die Emanzipation und die Befreiung von ihrem Mann eine große Rolle. Nach seinem Betrug besinnt sie sich auf einmal auf ihre vergessenen und unterdrückten Stärken und sie bekommt Hilfe von einer anderen Frau, auf die sich in Krisenzeiten ebenso verlassen kann wie Nella auf Eliza. Vertrauen, sich aufeinander einlassen, die Stärken ausspielen gegen alle Widerstände, das müssen all drei Frauen erst lernen, und sie lernen von ihren unverhofften Bekanntschaften, die zu Freundinnen werden, wie auch voneinander. Zwei weitere Motive ziehen sich wie ein roter Faden durch die zwei Zeiten. Sowohl bei Nella als auch bei Caroline spielt der Kinderwunsch eine große Rolle, mit dem Verrat der jeweiligen Männer wird jede von ihnen jedoch gezwungen, sich anderen Aufgaben zu widmen. Und auch die letzte Auftraggeberin tritt aufgrund des Verrats ihres Ehemannes und ihren eigenen Kinderwunsch an Nella heran, und auch ihr wird dieser Wunsch verwehrt. Das zweite, vielleicht etwas kleinere und eher mystische Motiv ist das der Geister. Eliza wird durch die Angst vor dem Geist ihres – von ihr ermordeten Herrn – getrieben und auch für Caroline schwebt der Geist Nellas und Elizas stets über ihr. Die drei Frauen sind jedenfalls aufs Engste miteinander verbunden, und Quintessenz ist und bleibt, dass Geheimnisse zu bewahren auf Dauer krank macht. Erst die Aufarbeitung schlimmer Erlebnisse und die Besinnung auf alte Stärken bringt die Frauen dazu, ihren eigenen erfolgreichen Weg zu gehen.

Fazit: Uneingeschränktes Lesevergnügen mit tollen Settings und Charakteren, wundervoller Schreibstil, ein stilvoll gebundenes Buch und herrliche Zusätze wie eine Karte des alten London und – skurrilerweise – Auszüge aus Nellas Giftapotheke sowie Rezepte – mehr geht nicht. Man taucht ein und vergisst alles um sich herum, es ist einfach, mit Nella, Eliza und Caroline mit zu leben und ihrem Streben, ihr Leben auf die Reihe zu kriegen, zu folgen. Einfach toll!

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