Amira Ben Saouds atmosphärisch dichtes Debüt ist »ein mit gespenstisch ruhiger Seele geschriebener Roman über die existenziellen Zerreißproben der Menschen«. Clemens J. Setz
Gewalt scheint nicht mehr zu existieren, der Klimawandel längst vollzogen. Eine bedrohliche Gelassenheit liegt über der abgeschotteten Siedlung, in der sie lebt. An ihren eigenen Namen hat sie keine Erinnerung mehr. Sie verdient ihr Geld damit, andere Frauen zu imitieren, deren Angehörige nicht mit dem Verlust der Geliebten, der Ehefrau, der Tochter zurechtkommen. Während eines neuen Auftrags gerät ihre Welt ins Wanken: Wer ist diese Emma, die sie spielt? Weisen seltsame Phänomene am Rand der Siedlung auf deren Untergang hin? Und warum ist sie selbst so besessen davon, eine andere zu sein? Amira Ben Saoud gelingt ein fesselndes Debüt, das schwebend leicht grundsätzliche Fragen nach Identität und Beziehungen stellt und danach, was wir uns selbst vorspielen.
Ich finde das Buch äußerst gelungen, da es eine Vielzahl gesellschaftlich relevanter und kritischer Themen aufgreift – und dies auf eine bemerkenswert ruhige, fast zurückhaltende Weise. So, dass ich mich ...
Ich finde das Buch äußerst gelungen, da es eine Vielzahl gesellschaftlich relevanter und kritischer Themen aufgreift – und dies auf eine bemerkenswert ruhige, fast zurückhaltende Weise. So, dass ich mich gut damit identifizieren kann. Die Autorin schafft es, die oft überforderte, ins Leere starrende Stimmung unserer Zeit durch eine beinahe hypnotische Sprache einzufangen und widerzuspiegeln. Dies macht das Buch nicht nur atmosphärisch dicht, sondern verleiht ihm auch eine verstörende Tiefe, die lange nachhallt.
Besonders beeindruckt hat mich, wie das Werk den Verlust von Identität thematisiert, das heutzutage viele betrifft aufgrund von Stress, medialer Negativität und gesellschaftlicher Hetze. Die Protagonistin steht in diesem Buch für eine Generation, die sich inmitten äußerer Überforderung und permanenter Reizüberflutung selbst zu verlieren droht. Sie zeigt, wie schwierig es ist, die eigene Identität zu bewahren, wenn äußere Einflüsse und gesellschaftliche Erwartungen übermächtig werden.
Auch das noch immer andauernde Problem der patriarchale Gewalt und das Unvermögen etwas dagegen zu tun, bzw. wie oft sie von der Gesellschaft ignoriert oder sogar ausgenutzt werden. Die nüchterne, aber präzise Sprache verstärkt dabei die Wirkung.
Ein Roman über die Zukunft. Bei solchen Erzählungen kommt es mir darauf an, dass es mich einerseits fesseln kann mit einer Zukunft, die ich so nicht vorausgeahnt hätte. Andererseits darf es mir aber auch ...
Ein Roman über die Zukunft. Bei solchen Erzählungen kommt es mir darauf an, dass es mich einerseits fesseln kann mit einer Zukunft, die ich so nicht vorausgeahnt hätte. Andererseits darf es mir aber auch nicht zu abgedreht und unrealistisch vorkommen. Schweben hat die Balance gut gefunden.
Wir lernen eine Frau kennen, deren Job es ist Begegnungen zu erschaffen. Sie schlüpft quasi in die Rolle von Menschen, die ihre Familie oder ihren Partner verlassen haben, und verkörpert für die Verlassenen die verlorene Person. Das hat sie so perfektioniert, dass sie sich selbst gar nicht mehr kennt. Sie ist unsere Protagonistin und nimmt uns mit in das zukünftige Leben auf der Erde. Denn die Menschheit hat festgestellt, dass die ständige Vernetzung von allem, nichts Gutes gebracht hat, sodass die Menschen nun in voneinander getrennten Siedlungen leben, die sie weder verlassen noch wechseln dürfen. Über diesen Umstand darf aber nicht gesprochen werden und Menschen ist es verboten, zurückzublicken oder sich hervorzutun, um mehr Besitz anzuhäufen. Auch das Klima wird am Rande angerissen und ist nach einer großen Hitze in einer starken Kälte geendet.
Diese Vision der Zukunft hat mich fasziniert und gleichzeitig gegruselt, weil alles so anonym zugeht und sich auch nicht herauslesen lässt, was passiert ist, dass die Welt so geworden ist. Insgesamt transportiert dieses Buch eine düstere Stimmung und schafft es, ein Misstrauen gegenüber allen Personen der Handlung zu erschaffen. Dadurch, dass über so viele Themen nicht gesprochen werden darf, weiß man nicht, wem man trauen kann. Das wenige Sprechen sorgt dann dafür, dass man sich viele Entwicklungen nicht erklären kann und es fühlt sich so an, als würde die Protagonistin in ständiger Ungewissheit und Unsicherheit leben. Bei mir hat das für eine permanente Spannung gesorgt und ich habe mir mit jeder Seite versucht, mehr zusammenzureimen. Hinzu kommt noch der besondere Sprachstil, der mich wirklich gefesselt hat.
Ich habe dieses Buch wirklich gerne gelesen und ich mochte das sehr symbolische Ende, was nach meinem Verständnis jeder Leser für sich selbst interpretieren kann.
Sasha und Louis sind auf nächtlicher Patrouille, sie schützen die Grenzen der Siedlung vor möglichen Eindringlingen. Sie haben von weiteren Siedlungen gehört, aber keinen Kontakt. Das Klima war immer heißer ...
Sasha und Louis sind auf nächtlicher Patrouille, sie schützen die Grenzen der Siedlung vor möglichen Eindringlingen. Sie haben von weiteren Siedlungen gehört, aber keinen Kontakt. Das Klima war immer heißer geworden. In den Gegenden, die noch bewohnbar waren, ballten sich die Menschen und es kam zu Kämpfen und Kriegen. Danach organisierte man sich in kleineren Einheiten. Sasha sieht zwei Gestalten abhauen, ein anderer liegt auf dem Boden und blutet. Sasha nimmt ihr Gewehr und lässt den Kolben auf den Kopf des am Boden Liegenden krachen. Louis ist schockiert, doch Sasha redet auf ihn ein. Es sei nötig gewesen, sie habe verhindern müssen, dass der Junge redete, man hätte ihnen seine Verletzungen angehangen und möglicherweise exilliert. Es war ein Spiel unter den Jugendlichen, das sich durchgesetzt hatte, ein Nervenkitzel. Sie verletzten sich an Stellen, die sie verdecken konnten. Bis es aus dem Ruder lief.
Ona muss zu Emma werden, der Ehefrau von Gil, die verschwunden ist. Seit mehr als zehn Jahren nun verwandelt sie sich, nimmt die Identität anderer Frauen an. Bei Ona spielte sie den Mutter-Tochter Konflikt mit, bis die Mutter auf Versöhnung aus war, das war nicht abgesprochen und sie kündigte ihren Vertrag. Nun bleiben ihr noch drei Visitenkarten, von denen sie per se zwei Fälle ausschlägt. Der dritte Klient ist Gil, mit dem sie sich nun verabredet. Sie geht in die Bar, die er ausgewählt hat. Sie erkennt den stattlichen Mann sofort, geht auf ihn zu und als er sie ansieht, wirkt er, als wolle er aufspringen und wegrennen. Zur Zeit hat sie noch keinerlei Ähnlichkeit mit Emma. Sie hatte ja bis gestern Ona gespielt und die war mager und etwas ungepflegt. Sie setzt sich und sie kommen ins Gespräch.
Fazit: Amira Ben Saoud hat eine Dystopie geschaffen und ich muss gestehen, dass das Genre nicht so mein Metier ist, aber diese Geschichte hat mich geflasht. Die Autorin hat ein geschlossenes System kreiert, in dem Menschen nach wenigen, aber bestimmten Regeln leben. Außenkontakte gibt es keine und das Verlassen der Siedlung ist lebensgefährlich. Jugendliche langweilen sich in diesem Regelwerk und kommen auf dumme Ideen. Die Protagonistin verdient ihr Geld, indem sie in die Identität anderer Frauen schlüpft, die von ihren Männern oder Müttern vermisst werden. Die Beziehungen waren konfliktreich und die Beteiligten haben Interesse daran, diese Konflikte weiterzuführen. Die Hauptdarstellerin kann sich nicht an ihren Namen erinnern. Im Laufe der toxischen Beziehung, die sie mit Gil nachspielt, kommen ihr Erinnerungen an ihre eigene Herkunft, die sie verdrängt hatte. Die Atmosphäre zwischen ihr und Gil, aber auch innerhalb der Siedlung verändert sich spürbar wie die Ruhe vor dem Sturm. Manch einer nimmt die Entwicklung eher wahr, doch am Ende merken es alle. Die Autorin erzählt aus Sicht ihrer Protagonistin und wirft sie in eine gespielte Beziehung zu einem kontrollsüchtigen Mann und aus Spiel wird Ernst. Obwohl sie schon einiges erlebt hat und vorerst ziemlich abgebrüht wirkt, schafft es dieser Mann, ihr Angst zu machen. Alles wird zunehmend düsterer und verursacht mir Schnappatmung. Was für eine fesselnde Geschichte, die ich bis zur letzten Seite verschlungen habe.
Schweben – Amira Ben Saoud
Eine wirklich spannende Dystopie in einer postapokalyptischen Gesellschaft. Der Klimawandel ist Geschichte, Gewalt wurde verboten, überhaupt existiert nur noch ein Bruchteil ...
Schweben – Amira Ben Saoud
Eine wirklich spannende Dystopie in einer postapokalyptischen Gesellschaft. Der Klimawandel ist Geschichte, Gewalt wurde verboten, überhaupt existiert nur noch ein Bruchteil der Menschheit in voneinander isolierten Siedlungen. Nur so ist ein miteinander auskommen scheinbar möglich.
Protagonistin dieses Romans ist eine Frau, die sich an ihren ursprünglichen Namen nicht mehr erinnern kann. Dafür verdient sie ihr Geld damit, die Identität anderer Frauen anzunehmen. Bezahlt wird sie dafür von den Müttern, Ehemännern, etc. die nicht mit dem Verlassen werden durch ihre Angehörigen zurecht kommen. Unsere Figur nimmt die Sache sehr ernst – sie passt Frisur und Make-Up an, auch das Gewicht, sie studiert das Verhalten der Frauen und schlüpft so völlig in ihre Rolle. Spannend. Etwas in der Richtung habe ich noch nie gelesen. Es ist erfrischend und innovativ. Und obwohl die Protagonistin ihre Identitäten wechselt, ist sie dadurch nicht unnahbar. Im Gegenteil konnte ich mich überraschend gut in sie hineinversetzen.
Dabei hilft es enorm, dass Sprache und Worldbuilding sehr gut zugänglich sind. Eigentlich ein Kunststück bei diesen doch fremd und neuartig anmutenden Gegebenheiten.
Noch spannender finde ich die existentiellen Fragen, die hinter der Geschichte um die unterschiedlichen Identitäten der Figur stecken. Es geht um Beziehungen und Wahrhaftigkeit. Dabei sind die Charaktere sehr authentisch und vielschichtig dargestellt. Es sind einfach ganz normale Menschen mit Fehlern und Kanten – auch in dieser postapokalytischen, neuen Welt.
Dieser Roman hat mich sehr beeindruckt. Mit nicht einmal 200 Seiten ist er unheimlich komplex. 5 Sterne.
Die Protagonistin, die sich selber nicht mehr an ihren Namen erinnert, nimmt im Rahmen ihres Berufes immer neue Identitäten an, um die Rolle der Schwester, Tochter, Freundin zu übernehmen. Das Setting ...
Die Protagonistin, die sich selber nicht mehr an ihren Namen erinnert, nimmt im Rahmen ihres Berufes immer neue Identitäten an, um die Rolle der Schwester, Tochter, Freundin zu übernehmen. Das Setting spielt in der Zukunft. Menschen leben in einer abgeschotteten Siedlung. Nach "draußen" zu gehen ist mit dem sicheren Tod assoziiert. Nach der Vergangenheit zu forschen, "mehr" zu wollen, nach Entwicklung zu streben, ist untersagt. Insbesondere die Jugendlichen leiden darunter. Aber insbesondere auch die Frauen sind überwiegend müde und erschöpft, antriebslos.
Die Dystopie eröffnet gedanklich einen Raum für philosophische Gedankenexperimente - inwieweit gibt das Wissen um unsere Herkunft und ein Streben nach Weiterentwicklung uns Halt, inwieweit lässt sich die Metapher des Schwebezustandes (insbesondere bei den Jugendlichen) auf unsere Gesellschaft übertragen, was hat es mit Erschöpfungssyndrom bei den Frauen auf sich.
Allerdings fand ich die Figuren nicht ganz ausgemalt und hätte mir an mancher Stelle noch mehr Tiefe gewünscht. Viele Themen werden reingebracht und angeschnitten. Gerade die Schilderung der toxischen Beziehung hätte es meiner Meinung nicht unbedingt gebraucht und ging für mein Empfinden zu Lasten der eigentlich interessanten Fragen des Buches. Es bleibt ein Gedankenexperiment, was aber für mein Empfinden an der Oberfläche bleibt.